Die griechische Tragödie, nächster Akt

Die griechische Tragödie, nächster Akt

Quälerei ohne Sinn und Zweck

von René Zeyer

zf. Am 22. Mai hat das griechische Parlament mit den Stimmen der Regierungsparteien ein Gesetzespaket von mehr als 7000 Seiten verabschiedet. Damit werden Forderungen der anderen EU-Regierungen erfüllt. Diese hatten radikale Massnahmen zur Bedingung für neue Kredite gemacht. Das Gesetzespaket beinhaltet weitere finanzielle Einschränkungen für alle Griechen, weitere Schritte zum Ausverkauf des Volksvermögens und noch mehr Souveränitätsverlust. Auf die katastrophalen Folgen dieser Politik hat René Zeyer schon nach den vorausgehenden Beschlüssen vom 9. Mai hingewiesen.

Die klassische griechische Tragödie folgt einem festen Aufbau, dient der Katharsis und hat vor allem ein Ende. Ihr Zweck ist, einen Sinneswandel, eine Reinigung beim Zuschauer herbeizuführen. Ihre moderne Fassung unter dem Titel «Rettung Griechenlands» folgt nicht diesem Regelwerk – und auch sonst keinem.
In den letzten sechs Jahren wurden Finanzhilfen in der Gesamthöhe von 360 Milliarden Euro zugesagt und rund 241 Milliarden ausbezahlt. Ergänzt durch einen Schuldenschnitt von über 100 Milliarden Euro, der auf Betreiben der deutschen Bundeskanzlerin aber nur private Geldgeber auch gegen deren Willen enteignete. In letzter Sekunde stimmte das griechische Parlament in der Nacht auf Montag wieder einmal geforderten Reformen und Einsparungen zu, darunter die zehnte Rentenkürzung seit 2010.
In all diesen Jahren war und ist kein Zeichen einer grundlegenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage dieses gebeutelten Landes erkennbar. Die Schulden des Zentralstaats, der Provinzen und Gemeinden sowie der Sozialversicherungen beliefen sich 2015 auf geschätzte 316 Milliarden Euro, ohne Zinsen und Tilgung. Für 2016 wird ein weiteres Absinken des BIP, also der gesamten Wirtschaftsleistung, auf 170 Milliarden Euro erwartet. Nächstes Jahr werden alleine die gesamten Schulden des Zentralstaats auf 200 Prozent des BIP steigen, neuer Rekord.

Auf Kurzfristigkeit ausgerichtet

Über 80 Prozent aller Finanzhilfen wurden für die Ablösung von Altschulden, Bankenrestrukturierungen, Zinszahlungen und Rückzahlungen verwendet. Die Arbeitslosenquote verharrt auf über 25 Prozent, unter den 15 bis 24jährigen liegt sie bei 51,9 Prozent. Wertschöpfende Investitionen sind nicht zu erkennen. Es fehlt das Vertrauen von Investoren und den Kapitalmärkten. Gleichzeitig findet ein Exodus der gut ausgebildeten Unternehmer, Forscher und Fachkräfte statt. Wer kann, geht, wer bleibt, hat die Hoffnung in eine bessere Zukunft verloren.
Ab 2023 sollte Griechenland mit den bis dahin gestundeten Tilgungen beginnen. Das sei durch den seit sechs Jahren versprochenen, aber auch heute nicht am Horizont sichtbaren Wirtschaftsaufschwung möglich. Diese kühnen Prognosen wurden vor der Flüchtlingskrise und den damit verbundenen zusätzlichen Belastungen für Griechenland erstellt. Alle diese Fakten, sie sind zudem unvollständig, haben eines gemeinsam: Sie beinhalten die Steigerung von unmöglich.
Wer zuvor schuldhaft oder auch schuldlos über seine Verhältnisse gelebt hat, muss halt eine Weile den Gürtel enger schnallen, weniger ausgeben, weniger konsumieren, sparen, Schulden zurückzahlen, dann geht es ihm anschliessend besser und wieder gut. Das ist die bis heute unter Eurokraten verbreitete Ansicht. Via Troika und andere in keiner Form demokratisch legitimierte Instanzen oktroyiert die EU Griechenland eine «Reform» und «Sparmassnahme» nach der anderen auf und beschwert sich regelmässig über eine zu schleppende Umsetzung. Während sich die griechische Regierung mit Protestwellen und Generalstreiks konfrontiert sieht und zu Recht befürchtet, dass der Staat als Ordnungsmacht die Kontrolle über sein Land verliert.
Dagegen ist EU-Regierungshandeln nur auf kurzfristige Ziele ausgerichtet. Ja keine neue Belastung des Steuerzahlers, vor allem des Hauptgläubigers Deutschland. Ja keine neue heisse Griechenland-Krise vor der britischen Abstimmung über den Brexit im Juni, die nächste grössere Zahlung Griechenlands ist erst im Juli fällig. Ja keinen neuerlichen Schuldenschnitt mit Blick auf die genauso hoch verschuldeten Staaten Spanien, Italien oder Frankreich. Ja kein Eingeständnis, dass die bisherige Politik gescheitert ist. Daher stellte der EU-Gipfel der Finanzminister überraschungsfrei nur weitere «Schuldenerleichterungen» in Aussicht. Aber was am Anfang der Krise richtig war, ist es auch heute noch: Nur ein massiver Schuldenschnitt und der sofortige Austritt aus dem Euro, mit Staatsbankrott oder ohne, bieten die einzige Chance für einen Neustart der griechischen Wirtschaft. Selbst der Internationale Währungsfonds, der bisher mit vergleichsweise kleinen Summen die Rettungspakete mitgetragen hat, fordert inzwischen einen Schuldenerlass und will sich sonst weiteren Hilfspaketen verweigern.
Einmal mehr steht Deutschland alleine da und besteht auf einer Fortsetzung der offensichtlich gescheiterten Rettungspolitik. Es könne alles geben, nur keine Streichung von Schulden. Ausgerechnet Deutschland, das auf Betreiben seiner Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 für die Ursünde im Griechenland-Debakel sorgte: den erzwungenen Schuldenschnitt von Privatgläubigern. Davon waren auch deutsche Banken betroffen.

Wider besseres Wissen

Diejenigen, die nach der Finanzkrise eins verstaatlicht worden waren, überbürdeten die Verluste dem deutschen Steuerzahler. Das möchte Merkel aus reinem Machterhaltungstrieb nicht wiederholen. Daher wird sie scheitern. Das liesse sich verschmerzen. Aber Griechenland wird auch scheitern. Nach sechs Jahren unsäglichen Leidens breiter Bevölkerungsschichten, die verelenden und verarmen, einer ganzen Generation Jugendlicher ohne Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven, steht Griechenland heute schlechter da als 2010. Das hat mit verantwortlicher Regierungspolitik nichts mehr zu tun. Das ist verbrecherische Quälerei ohne Sinn und Zweck. Es ist eine Tragödie; die Verantwortlichen und Handelnden in der EU sind in eine ausweglose Lage geraten, die herannahende Katastrophe lässt sich nicht mehr abwenden.
Aber sie sind nicht «schuldlos schuldig», sondern haben mit Vorsatz, wider besseres Wissens agiert. Und die griechischen Zuschauer erschauern nicht angesichts des Stücks auf der Bühne, sondern bekommen es in den Leib gemartert.    •

© René Zeyer, Erstveröffentlichung in der Basler Zeitung vom 12.5.2016

Rettung von Finanzinstituten

Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtet am 9. Mai über eine Studie der European School of Management and Technology (ESMT). Diese kommt zum Schluss, dass «der grösste Teil der von der Europäischen Union oder ihren neuen Institutionen sowie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bereitgestellten Rettungsgelder […] für die Rückzahlung bestehender Staatsschulden (86,9 Milliarden Euro) und für offene Zinszahlungen (52,3 Milliarden Euro) eingesetzt [wurde]. Weitere Posten waren die Rekapitalisierung von zumeist staatlichen griechischen Banken und das Bereitstellen ‹angemessener Anreize› für die 2012 erfolgte Schuldenrestrukturierung (29,7 Milliarden Euro). […] Im Klartext heisse dies, […] dass mit den Athen gegebenen Geldern vor allem europäische Banken gerettet wurden.»

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