TTIP-Schiedsgerichte – ein Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat

TTIP-Schiedsgerichte – ein Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat

Die Unvereinbarkeit von Investor-Staat-Schiedsverfahren in internationalen Investor-Schutzabkommen mit den Menschenrechten

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung

Vortrag vor dem Ausschuss für Recht und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg am 19. April 2016

Lieber Pieter Omtzigt, verehrte Parlamentarier, Kollegen, meine Damen und Herren!

Im Jahr 2012 betraute mich der UN-Menschenrechtsrat mit dem neu geschaffenen Mandat des unabhängigen Experten für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. Seitdem habe ich dem Menschenrechtsrat vier Berichte vorgelegt und der UN-Generalversammlung ebenfalls vier. Relevant für diese Anhörung sind mein Bericht aus dem Jahre 2015 an den Rat (A/HRC/30/44) über die bilateralen Investitionsabkommen und multilateralen Handelsabkommen und mein Bericht von 2015 an die UN-Generalversammlung (A/70/285) über die Unvereinbarkeit des Mechanismus der Investor-Staat-Streitbeilegung (investor-state dispute settlement, ISDS) mit zahlreichen Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, Menschenrechtsübereinkommen, insbesondere dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, mit Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation und der Weltgesundheitsorganisation, einschliesslich des Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums, des Rahmenübereinkommens über Klimaänderungen, mit zahlreichen Resolutionen der Generalversammlung, insbesondere der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (A/70/1), und mit bestimmten allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie Treu und Glauben, dem Verbot des Rechtsmissbrauchs1, und dem Verbot von gewissenlosen oder sittenwidrigen (contra bonos mores) Vereinbarungen2.

Schiedsgerichtsverfahren ISDS verletzt europäisches Recht

In seinem Memorandum vom 18. Februar 2016 konzentriert sich Berichterstatter Pieter Omtzigt auf die Kernwerte des Europarates – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte –, die in jeder Diskussion über ISDS und das vorgeschlagene Investitionsgerichtssystem von zentraler Bedeutung sein müssen. Für die Mitglieder der Europäischen Union sieht Artikel 21 (1) des Vertrags von Lissabon vor: «Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung massgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.»3 Ich erachte ISDS als vertragswidrig nach europäischem Recht4 und denke, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg so entscheiden würde, wenn ein entsprechender Fall vorgebracht wird.

ISDS – ein Angriff auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Wie meine Berichte von 2015 an den Menschenrechtsrat und die Generalversammlung belegen, stellt ISDS einen Angriff auf die Demokratie dar, untergräbt die Rechtsstaatlichkeit und verletzt zahlreiche bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Rechtsstaatlichkeit (rule of law) ist weder blinder Positivismus noch schlauer Legalismus, um die Gerechtigkeit zu untergraben. Die Buchstaben eines Vertrages dürfen niemals gegen seinen Geist instrumentalisiert werden.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich Europa, und was einige als «zivilisierte Nationen» bezeichnen, von Willkür und Autoritarismus hin zur Schaffung eines Systems von unabhängigen öffentlichen Gerichten, die nach den Grundsätzen der Transparenz, Rechenschaftspflicht und Rechtssicherheit funktionieren, etwas, das wir als selbstverständlich ansehen. Dennoch haben Länder, die vorgeben, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet zu sein, die Schaffung eines privatisierten Systems zur Beilegung von Streitigkeiten akzeptiert, das weder transparent noch rechenschaftspflichtig ist und in den meisten Fällen nicht einmal berufungsfähig. Die Glaubwürdigkeit der Rechtsprechung und die Notwendigkeit von Stabilität und Rechtssicherheit werden untergraben, wenn man drei Schiedsrichtern, auf deren Mangel an Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht von Experten und Organisationen der Zivilgesellschaft5 wiederholt hingewiesen wurde, die Macht gibt, die Gesetze und Gerichtsentscheidungen souveräner Staaten zu ignorieren und schliesslich den demokratischen Willen vieler Wähler zunichte zu machen, die nur für die gerechte Besteuerung von transnationalen Unternehmen gestimmt haben, für den Umweltschutz, den Zugang zu Generika, für bessere Arbeitsbedingungen, Ernährungssicherheit6, Beschäftigung und soziale Programme.

Unternehmensdiktat gegen staatliche Sozial- und Umweltschutzmassnahmen

Die Erfahrungen mit ISDS in den letzten dreissig Jahren zeigen, dass einige Länder dazu gezwungen wurden, ihre Sozialgesetzgebung rückgängig zu machen, und dass in einigen Fällen die Regierungen noch nicht einmal wagten, Umweltschutzmassnahmen zu erlassen, aus Angst davor, von ISDS-Gerichten zu Strafen von Milliarden von Dollars verklagt zu werden. Dieser Abschreckungseffekt (regulatory chill) – wir können es Aushöhlung (regulatory freeze) nennen – hat nicht nur Entwicklungsländer betroffen. Sogar Länder wie Kanada haben vor den Bedrohungen und Anforderungen der Öl- und Pharmaindustrie kapituliert7. Deutschland wird derzeit vom Energieriesen Vattenfall angeklagt wegen seiner Post-Fukushima-Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, und die USA werden von Trans-Canada zu 15 Milliarden US-Dollar verklagt auf Grund von Obamas Entscheidungen, die umweltgefährdende «Keystone Pipeline» nicht zu bauen. Der neueste Angriff auf das Recht souveräner Staaten, die Bevölkerung und die Umwelt zu schützen, ist der empörende ISDS-Fall von Tobie Mining and Energy Inc. gegen Kolumbien mit der Entschädigungsforderung von 16,5 Milliarden Dollar wegen der Weigerung Kolumbiens, das Bergbauunter-nehmen in den amazonischen Nationalpark expandieren zu lassen und den amazonischen Regenwald zu verschmutzen.8
Meine Berichte haben den zusätzlichen Wert, dass sie pragmatische und umsetzbare Empfehlungen formulieren, die von Staaten, Parlamenten, zwischenstaatlichen Organisationen, nationalen Menschenrechtsinstitutionen und der Zivilgesellschaft berücksichtigt werden können. Fazit: ISDS kann nicht reformiert werden, es muss abgeschafft werden.

Wachstumsversprechen von Realität widerlegt

Wir sollten uns nicht nur mit der Toxizität von künftigen Vereinbarungen wie CETA9, TPP, TTIP und TiSA befassen – wir müssen uns mit dem kontinuierlichen Schaden durch die bestehenden 3200 bilateralen Investitionsabkommen befassen, die überprüft, geändert oder gekündigt werden müssen, weil die Welt sich seit den 1980er und 1990er Jahren geändert hat; und wir haben nun die empirischen Belege dafür, dass sich die Versprechungen der Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum und Entwicklung nicht erfüllt haben; wir haben Beweise für Umweltschäden, für welche transnationale Unternehmen nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind.

Beispiel Nafta – Millionen Arbeitsplätze vernichtet

Darüber hinaus hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich national und international vergrössert. Studien über die Auswirkungen von Nafta zeigen, dass die Vereinigten Staaten Millionen von produzierenden und anderen Arbeitsplätzen verloren haben. Sie wurden nach Mexiko in Maquiladoras* verlegt, wo nicht nur die Arbeitskosten tief sind, sondern auch Arbeitsnormen und der Schutz der Menschenrechte unterdrückt werden. UNCTAD [United Nations Conferene on Trade and Development] trägt einen Teil der Verantwortung dafür, dass sie Dutzende von Entwicklungsländern dazu überredet hat, nach Genf zu kommen für einen Fototermin und die Unterzeichnung von bilateralen Abkommen, die sich für sie oft als toxisch herausgestellt haben. In diesem Sinne sollte sich UNCTAD bei den Ländern entschuldigen, die sich zu ihrem Nachteil auf die zu optimistischen Prognosen der UNCTAD verlassen haben.

Nötig wären nicht neue, sondern eine Revision bestehender Abkommen

Noch einmal, ich fordere UNCTAD dazu auf, eine Weltkonferenz einzuberufen, zur Revision der bestehenden Handels- und Investitionsverträge gemäss den einschlägigen Artikeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, einschliesslich der Bestimmungen über Irrtum, Betrug, rebus sic stantibus und über die Unvereinbarkeit mit zwingenden Normen.10 In meinen Berichten an den UN-Menschenrechtsrat und die UN-Generalversammlung schlage ich vor, die bestehenden Verträge unter Berufung auf die Salvatorische Klausel (doctrine of severability) zu überarbeiten und somit nur die vertraglichen Bestimmungen zu entfernen, die gegen die guten Sitten verstossen, wie ISDS und «Überlebens-Klauseln» [Vertragsklauseln, die auch nach Beendigung eines Abkommens in Kraft bleiben, Anm. der Redaktion].

Unnötige Bevorzugung der Investoren

Im Hinblick auf die Schaffung eines internationalen Investitionsgerichts mit einer Berufungskammer ist die erste Frage, ob die USA und die EU es überhaupt brauchen? Warum sollte man Investoren das Recht geben, über ein Sondergericht Regierungen zu verklagen, während Regierungen vor denselben Gerichten nicht gegen Anleger klagen können? Und: Brauchen US- und EU-Investoren wirklich privilegierten Schutz? Alle potentiell an TTIP Beteiligten sind demokratische Staaten mit kompetenten und unabhängigen Gerichten und Jahrzehnten an Erfahrung mit Rechtsstaatlichkeit. In seiner Stellungnahme vom Februar 2016 kam der Deutsche Richterbund zum Schluss, dass es den Investitionsschiedsgerichtshof (ICS) gar nicht braucht11.

ICS blockiert sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit

Ich würde darüber hinausgehen und darauf bestehen, dass bloss schon die Existenz des ICS eine Bremse für sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit ist, weil Staaten leichtfertige und schikanöse Klagen fürchten. Der Dekan des Colegio de la Abogacía (Rechtsanwaltskammer) in Barcelona und zahlreiche spanische Richter haben in ähnlicher Weise die Idee von Sondergerichten zurückgewiesen.12 Die einzige Möglichkeit, einen ICS in Betracht zu ziehen, wäre, wenn die ICS-Satzung eine vollständige Ausgliederung der Zuständigkeit für die Bereiche der öffentlichen Gesundheit – beispielsweise Tabakkontrolle – festlegen würde, des Umweltschutzes, der Arbeitsnormen, der Haushalts- und Steuer­poli­tik. Darüber hinaus sollte das Gesetz klarstellen, dass im Falle eines Konflikts den vertraglichen Verpflichtungen in bezug auf Menschenrechte der Vorzug gegeben wird.

Vom Sinn der Staaten und der Wirtschaft

An dieser Stelle möchte ich an zwei Ontologien erinnern, die in dem ideologisch gefärbten Narrativ verlorengegangen schienen. Erstens: Die Ontologie des Staates, seine raison d’être, die darin besteht, im öffentlichen Interesse Gesetze zu erlassen und zu regulieren. Dazu gehört es, präventive Massnahmen zu ergreifen, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden, zum Beispiel als Folge von Fracking und anderen geschäftlichen Aktivitäten. Zweitens: Die Ontologie der Wirtschaft, die berechnete Risiken für einen Gewinn auf sich nimmt. Es ist nicht am Staat, die Gewinne eines Anlegers zu gewährleisten, der eine Risikoversicherung abschliessen und diese als Teil der Kosten der Geschäftstätigkeit abrechnen kann.

Schutz von Eigentum oder Freibrief für Plünderung?

Einige Befürworter von ISDS berufen sich gerne auf das Recht auf Eigentum, um ihren Anspruch auf besonderen Schutz rechtsgültig zu machen. Sie beziehen sich auf die BIT [Bilaterale Investitionsabkommen] und FTA [Freihandelsabkommen] und berufen sich auf das Prinzip pacta sunt servanda [Verträge sind einzuhalten] im Zusammenhang mit ihren expansiven Interpretationen von «Eigentum», «Investition» und «berechtigten Erwartungen». Niemand bestreitet, dass das Recht auf Eigentum Schutz verdient, wie es im Protokoll I zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und in Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt. Und während der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) nicht das Recht auf Eigentum als solches schützt, wäre doch jede willkürliche Enteignung eine Verletzung des Artikels 26 des IPbpR, welcher Diskriminierung verbietet. Aber lassen Sie uns auch daran erinnern, dass das Recht auf Eigentum nicht Enteignungen im öffentlichen Interesse (eminent domain) verbietet und dass es im Zusammenhang mit anderen Rechten gesehen werden muss, darunter dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung, auf Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen, auf freie Einwilligung nach vorhergehender fundierter Information [Uno-Prinzip], auf Zugang zu Informationen, auf Beteiligung der Öffentlichkeit an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, auf Nahrung, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen und Kultur. Und während das Recht auf Eigentum Investoren vor willkürlicher Enteignung schützt, so schützt es auch das Recht der indigenen Völker auf ihre natürlichen Ressourcen (Art 1 IPbpR, IPwskR [Inernationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte]), eine Tatsache, die transnationale Konzerne und einige Regierungen munter ignorieren, wenn sie von den Indigenen Mineralien, Gold, Uran, Öl, Gas, Holz und anderes «Eigentum», das auf indigenen Territorien gefunden wurde, im Werte von Billionen Euro plündern.

Lebensrecht muss vor Eigentumsrecht stehen

Pacta sunt servanda bezieht sich sehr stark auf das Regelwerk zu den internationalen Menschenrechten, und alle Vertragsstaaten der beiden Internationalen Pakte (IPbpR und IPwskR) müssen diese harten Vertragsgesetz-Verpflichtungen (law treaty obligations) erfüllen. Staaten haben auch ein berechtigtes Interesse daran, dass die Bestimmungen dieser Verträge nicht durch andere Verpflichtungen untergraben werden, einschliesslich Handels- und Investitionsabkommen. Wie an anderer Stelle ist es eine Frage der Prioritäten, die ein für alle Mal geregelt werden sollte. Während Unternehmen unternehmensfreundlichen Menschenrechten den Vorzug geben möchten, ist es offensichtlich, dass die Freiheit der wirtschaftlichen Aktivität und das Recht auf Eigentum im Gleichgewicht mit dem Recht auf Leben, Nahrung, Wasser, Gesundheit, Wohnen und der Privatsphäre stehen müssen.
Auf europäischer Ebene anerkennen wir, dass Staaten auch die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta erfüllen müssen. Wir anerkennen auch den Präzedenzfall des Urteils des EGMR im Fall Söring versus Grossbritannien, in dem der Gerichtshof entschied, dass die Europäische Menschenrechtskonvention Vorrang gegenüber dem Auslieferungsvertrag hat.
Entsprechend muss jeder Richter und jeder Schiedsmann wissen, dass ein Investitionsvertrag nicht für sich alleine dasteht und dass im Falle eines Konflikts mit Menschenrechtsbestimmungen die letzteren nicht nur berücksichtigt werden müssen, sondern dass sie Vorrang haben.

Rechtsschutz für Investoren besteht bereits

Damit würde dem Anleger kein Unrecht angetan, weil die Anleger das Risiko vorhersehen und sich für den Fall vorbereiten können, dass Staaten gemäss ihrer Menschenrechtsverpflichtungen früher oder später ihre Gesetzgebung anpassen müssen, um Haushalts- und Steuergerechtigkeit zu erreichen, um die Bevölkerung vor genetisch veränderten Organismen und Lebensmittelprodukten, Pestiziden, toxischen Elementen in Kraftstoffen und Spielzeug sowie vor Umweltzerstörung zu schützen. Im Falle einer Streitigkeit über die Anwendung eines Investitionsvertrages steht der Anleger nicht ohne Rechtsmittel da, sondern er kann sich immer an die Gerichte der Länder wenden, wo er tätig ist, oder er kann auf diplomatischen Schutz und das bewährte Streitbeilegungsverfahren von Staat zu Staat zurückgreifen.

Offenlegung und Beteiligung der Öffentlichkeit zwingend

Die Parlamentarier sollten sich mit dem Paradoxon auseinandersetzen, dass sie, während sie Menschenrechtsabkommen ratifizieren, welche strenge rechtliche Verpflichtungen auferlegen, gleichzeitig auch Handels- und Investitionsvereinbarungen treffen, die die Erfüllung der Menschenrechtsabkommen erschweren oder sogar unmöglich machen. Unter keinen Umständen sollten die Parlamentarier die beschleunigte Einführung von Handels- und Investitionsabkommen akzeptieren. In einer demokratischen Gesellschaft erfordern diese eine vollständige Offenlegung und die Beteiligung der Öffentlichkeit in Übereinstimmung mit den Artikeln 19 und 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Die Parlamentarier sollten ihre Wähler proaktiv über die Fakten und absehbaren Folgen einer Annahme von Handels- und Investitionsabkommen informieren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Folgen im Bereich der sozialen Rechte sehr negativ sein können, sollte die Annahme des Freihandels- und Investitionsabkommens eine Beteiligung der Öffentlichkeit und Referenden zur Bedingung haben. Ansonsten fehlt ihnen die demokratische Legitimität, so wie frühere bilaterale und multilaterale Abkommen schwere demokratische Defizite aufweisen, welche ihre völkerrechtliche Gültigkeit in Frage stellen. Die Zivilgesellschaft sollte sich auch die Bestimmungen der Menschenrechtsabkommen zunutze machen und entsprechende Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Menschenrechtsausschuss, dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte usw. einreichen, um die Anwendung von Freihandels- und Investitionsabkommen anzufechten, wenn sie zu einer Verletzung der Menschenrechte führen.

Uno-Charta hat Vorrang

Um in diesen Fragen grössere Klarheit zu erhalten, sollte sich die UN-Generalversammlung auf Artikel 96 der Charta berufen und um ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs ersuchen, welches ausdrücklich darlegen sollte, dass Menschenrechtsabkommen gegenüber konkurrierenden Verträgen die Oberhand haben sollten. Zudem schreibt die Vorrangklausel (Artikel 103 der Charta) vor, sofern Freihandels- und Investitionsabkommen in Konflikt mit den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen stehen und Souveränität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und das Recht auf Entwicklung untergraben: «Im Falle eines Konflikts zwischen den Verpflichtungen der Mitglieder der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihren Verpflichtungen aus anderen internationalen Abkommen haben ihre Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.»13 Ein Gutachten des IGH würde dies sicherlich bestätigen.

Wirtschaft versus Zivilisation – «Auch der Sklavenhandel war lukrativ…»

Erlauben Sie mir vor dem interaktiven Dialog einige abschliessende Gedanken.
Eine Änderung oder Beendigung der internationalen Investitionsabkommen ist vielleicht eine komplexe Aufgabe, aber sie ist viel weniger problematisch als zum Beispiel die Beilegung bewaffneter Konflikte. Immer wieder musste sich die Weltwirtschaft anpassen, um die Zivilisation voranzubringen. So war es mit dem Verbot des lukrativen Sklavenhandels, dem Verbot der Sklaverei und der Entkolonialisierung, die durch andere Wirtschaftsmodelle ersetzt wurden. Über Jahrhunderte war die Sklaverei das De-facto-Wirtschaftsmodell mit impliziter Rechtmässigkeit; Kolonialismus war de facto die internationale Ordnung. Heute werden diese Praktiken als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen. Seit Jahrzehnten bringen Schiedsverfahren zur Investor-Staat-Streitbeilegung de facto die internationale Ordnung durcheinander, aber sie können die Charta der Vereinten Nationen nicht übertrumpfen. Ebenso wie andere wirtschaftliche Paradigmen aufgegeben wurden, wird die Investor-Staat-Streitbeilegung schliesslich als ein Experiment erkannt werden, das schiefgegangen ist, eine versuchte Aushebelung der Verfassungsmässigkeit, die einen Rückgang der Menschenrechte zur Folge hatte.

Freihandel darf kein Selbstzweck sein

Als Schlussfolgerung wäre es angebracht, zu bekräftigen, dass Freihandel, ausländische Direktinvestitionen und Investitionsabkommen von Vorteil sein können, sie sind aber kein Selbstzweck, und manchmal beschränken ihre Folgen stark den Handlungsspielraum demokratischer Regierungen und beeinflussen negativ die Nutzung der Menschenrechte. Es sollte eine Strategie entwickelt werden, um sicherzustellen, dass Handel für die Menschenrechte arbeitet und nicht mit der Hauptaufgabe des Staates im Widerspruch steht, im öffentlichen Interesse zu handeln. Es gibt viele Möglichkeiten für Unternehmen und Investoren, legitime Gewinne zu machen und echte «Partnerschaften» mit Staaten einzugehen und nicht asymmetrische Beziehungen mit manipulierten ISDS-Schemata. Als Faustregel sollte gelten: (a) den Unternehmen geben, was ihnen zusteht – eine Umgebung, in der sie auf faire Weise in Wettbewerb treten können; (b) den Staaten das zurückgeben, was ihnen grundlegend und unveräusserlich ist – Souveränität und politischen Handlungsspielraum; (c) den Parlamenten geben, was ihre Rolle als wahre Vertreter und Wächter zeigt – die Fähigkeit, alle Aspekte von Verträgen zu prüfen, ohne Geheimhaltung und ohne beschleunigte Verfahren; und (d) den Völkern ihr Recht auf Teilnahme, ordnungsgemässes Verfahren und Demokratie zurückgeben.

ISDS und ICS – in Widerspruch zu guten Sitten und den Menschenrechten

ISDS und ICS verstossen zweifellos contra bonos mores (gegen die guten Sitten) und müssen zurückgewiesen werden, weil Investoren und transnationale Unternehmen keine demokratischen Institutionen sind und sich nicht in grundlegende Funktionen der Staaten einzumischen haben, indem sie verzögern, untergraben oder verunmöglichen, dass Staaten ihre Verpflichtungen aus den Menschenrechtsabkommen erfüllen. Der Versuch, dieses grundlegend fehlerhafte System zu reformieren, das bereits erheblichen Schaden für das Gemeinwohl verursachte und nur Vorteile für Unternehmen und Aktionäre brachte, ist vergebens.
ISDS und ICS scheitern einfach amTest der Menschenrechte. Trotz seriöser Studien von Ökonomen, Anwälten und Richtern, Folgenabschätzungen für die Menschenrechte und Gutachten mit korrekten Diagnosen versuchen transnationale Unternehmen (TNC) und ihre mächtige Lobby leider weiterhin eine Übernahme der demokratischen Regierungsführung durch Unternehmen voranzubringen, was mit den drei Säulen des Europarats – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – unvereinbar ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.    •

Anmerkung: Titel und Zwischentitel von der Redaktion

1    «Die Lehre vom Verbot des Rechtsmissbrauchs (oder abus de droit) ist eine der vielen Weiterentwicklungen des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben», Sir Robert Jennings (Hrsg.), Oppenheim's International Law, 9. Auflage, S. 407. «Die Lehre verhindert, dass eine Partei einer Vereinbarung ihr Recht in einer Weise wahrnimmt, die im Hinblick auf den Geist der Vereinbarung unangemessen ist. Da sie häufig an internationalen Gerichten benutzt wird, wird das Konzept, das hinter der Lehre vom Verbot des Rechtsmissbrauchs steht, zunehmend als Norm des Völkerrechts anerkannt.» Nach Hersch Lauterpacht ist das Konzept des Verbots des Rechtsmissbrauchs in den meisten entwickelten Rechtssystemen vorhanden, und «nur in einem rudimentären Stadium der Rechtsentwicklung gestattet die Gesellschaft die unkontrollierte Nutzung von Rechten ohne Rücksicht auf ihre sozialen Folgen», The Development of International Law by the International Court, S. 162, London, Stevens & Sons 1958. Lauterpacht, The Function of Law in the International Community, Kapitel 14, (1933). Isabel Feichtner, EJIL 22, S. 1177–1179. G.D.S. Taylor, «The Content of the Rule against Abuse of Rights in International Law», auch unter Berufung auf Lauterpacht. www.ilsa.org/jessup/jessup16/Batch%202/46BritYBIntlL323.pdf. Alexandre Kiss, «Abuse of Rights» in R. Wolfrum (Hrgs.), Max-Planck Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 20–26, Oxford 2012
2    Alfred Verdross. Forbidden Treaties in International Law, American Journal of International Law, Vol. 31, No. 4 (1937), S. 571ff. Verdross. Les principes du droit et la jurisprudence internationale, Recueil des Cours de l’Académie de Droit International, La Haye, (1935), S. 195–249. Olivier Corten, Pierre Klein, The Vienna Convention on the Law of Treaties: A Commentary, Bd. I, S. 1461. Oxford 2011. Robert Kolb, The International Court of Justice, Oxford, 2013, S. 81
Es gibt einen ethischen Mindeststandard für Verträge, und ein Vertrag, der die öffentliche Ordnung zersetzt oder sonst sittenwidrig ist, ist nichtig, zum Beispiel wenn er die allgemein anerkannten Aufgaben eines zivilisierten Staates verhindert, wie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Sorge um das körperliche und geistige Wohlergehen der Bürger und den Schutz der Bürger im Ausland. Thomas Cottier, The Challenge of WTO Law: Collected Essays. Kap. 4. Good faith and the protection of legitimate expectations, London 2007 www.ejil.org/pdfs/1/1/1145.pdf. Siehe auch law.wustl.edu/SBA/upperlevel/…/IntLaw-Mutharika2.doc
3    Nicolas Hachez. Essential elements’ clauses in EU trade agreements making trade work in a way that helps Human Rights?, Arbeitspapier No. 158, April 2015. Leuven Centre for Global Government Studies. Cf. Bruno Simma and Theodore Kill. Harmonizing investment protection and human rights: first steps towards a methodology, in: Christina Binder et al. (Hrgs.), International Investment Law for the 21st Century: Essays in Honour of Christoph Schreuer (Oxford University Press, 2009)
4    http://www.clientearth.org/health-environment/health-environment-publications/legality-of-investor-state-dispute-settlement-under-eu-law-3020
5    http://people.ffii.org/~ante/ISDS/draft-isds.html. Pia Eberhard, Cecilia Olivet. Profiting from Injustice, how law firms, arbitrators and financiers are fueling an investment arbitration boom, Corporate Europe Observatory, Brussels 2012
6    Jean Feyder. La Faim Tue, Vorwort von Jean-Claude Juncker, l’Harmattan, 2010. Olivier de Schutter, Agroecology, 2011. www.srfood.org/en/report-agroecology-and-the-right-to-food
7    Maude Barlow et Raoul Marc Jennar. Le Fléau de l’arbitrage internationale, Le Monde Diplomatique, Fevrier 2016, p. 6; Benoit Bréville et Martine Bulard. Des tribunaux pour détrousser les Etats Le Monde Diplomatique, Juin 2014
8    http://www.italaw.com/cases/3961
9    http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ceta/
10    Benedetto Conforti und Angela Labella. Invalidity and Termination of Treaties: The role of National Courts. In: 1 EJIL(1990) S. 44–66 at 52
11    http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-02/ttip-deutscher-richterbund-schiedsgerichte
12    http://juecesparalademocracia.blogspot.be/2015/06/resoucion-de-jpd-contra-la.html
www.eldiario.es/economia/colegios-Espana-TTIP-arbitraje-inversores_0_495901200.html
13    Auf die Hierarchie der Normen wurde in einem berühmten Diktum im Rahmen des IGH-Urteils zu Barcelona Traction hingewiesen, dass die «Grundrechte der menschlichen Person» (droits fondamentaux de la personne humaine) Verpflichtungen erga omnes schaffen. Theodor Meron. On a Hierarchy of International Human Rights Law, American Journal of International Law, Vol. 80, 1986, S. 1–23 auf S. 1. Sawhoyamaxa Indigenous Community v Paraguay (Inter-American Court of Human Rights, Urteil vom 29. März 2006, paras; 137–141) In seinem Buch International Human Rights Law (Cambridge University Press, 2. Ausgabe 2014), listet Professor Olivier de Schutter diesen und weitere Fälle für das Argument einer Hierarchie auf, S. 71–110
*    Fabriken, die von multinationalen Unternehmen im mexikanischen Grenzsaum entlang der US-amerikanischen Grenze angesiedelt werden. In oft primitiven Fertigungshallen werden aus importierten Vorprodukten Konsumgüter für die zollfreie Wiedereinfuhr in die USA oder auch für den Weltmarkt hergestellt. Heute wird der Begriff Maquiladoras häufig als Synonym für derartige Lohnveredelungsfabriken des ganzen lateinamerikanischen Raums verwendet, Anm. der Redaktion
(Übersetzung Zeit-Fragen)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK