Das Drama um den Elefantenbullen von Murten, der 1866 durch eine Kanonenkugel zu Tode kam, wird jetzt – 150 Jahre danach – erneut medial zelebriert und dabei allzugern besserwisserisch kritisiert. Eine objektive Rückblende führt zu einem anderen Schluss.
Das Handling gehegter und gezähmter Wildtiere war zur Zeit der ersten stehenden und fahrenden Menagerien (= später Zoo und Zirkus) ein Lernprozess, der sein Lehrgeld forderte, zum Teil mit tragischen Ereignissen. Ein solches geschah am 28. Juni 1866 im freiburgischen Murten.
Der Marktflecken Murten beherbergte damals knapp 2300 Einwohner, arbeitsame Kleinstädter, deren Leben sich innerhalb der Stadtmauern um Familie, Haus und Handwerk drehte. Viel Abwechslung und Unterhaltung gab es nicht, ausser hin und wieder fahrendes Volk wie Gaukler, Seiltänzer und Komödianten, «die Rat und Klerus restriktiv auftreten liess», damit die Sesshaften ein wenig, aber nicht zu viel «vom Reiz des Andersartigen, Exotischen und vermeintlich Verruchten» nippen durften, wie sich Chronist Hermann Schöpfer ausdrückte.
Kein Wunder, dass die Artisten solch nomadisierender Truppen, unter ihnen auch die Arenen Nock und Knie, bei den Bewohnern von damals auf grosse Sympathie stiessen. Menagerien wurden allerdings noch nicht mitgeführt, ausser gelegentlich vereinzelte Wildtiere, Tanzbären etwa oder ein gezähmter Wolf. Eine Sensation war es daher, als 1866 riesige Anschlagzettel eine Galavorstellung der amerikanischen Kunstreitergesellschaft Bell Rums Myers ankündeten.
Denn dieser Circus Bell & Myers führte neben vielen Pferden auch zwei Asiatische Elefanten mit, einen stosszahnbewehrten Bullen und eine Kuh. Solch fremdländische Riesentiere, die man bisher nur vom Hörensagen oder aus Büchern kannte, als Statussymbole gekrönter Häupter oder als tragische Helden bei Hannibals Alpenüberquerung, sollten nun leibhaftig im Landstädtchen auftreten. Die Spannung stieg spürbar!
Der Zirkustross-Einzug ins Städtchen am 27. Juni 1866 war gesäumt von ungläubig staunendem Wochenmarktvolk. Die beiden Kolosse, die ihrem langjährigen Pfleger (Kornak) wie Schäfchen folgten, spritzten sich beim Rathausbrunnen zum Gaudi des Publikums, das von der Dusche auch etwas abbekam, den Strassenstaub vom Leib. Quartier bezogen wurde im Hotel Weisses Kreuz und in dessen geräumigen Stallungen.
Das einmalige, ausverkaufte Gastspiel – in einem beim Schützenhaus mit Zeltplanen eingefassten Koral – dauerte am 27. Juni von 8 bis 11 Uhr abends. Das Publikum bedachte die Kunststücke der grauen Riesen mit Staunen, herzhaftem Lachen und grossem Applaus. Die beiden Elefanten gehorchten ihrem Kornak aufs Wort. Ein verschworenes Trio – so schien es! Beglückt gingen alle nach Hause, und die Sommernacht senkte sich über das Städtchen.
Doch dann, am nächsten Morgen – das grauenvolle Erwachen. Ein Augenzeuge, Schlosser Johann Frey, wurde bei Tagesanbruch durch einen Tumult aus dem Schlaf gerissen; das ganze Städtchen war in Aufruhr. Der Elefantenbulle hatte sich losgerissen, war total ausgerastet und schlug alles kurz und klein, was ihm in den Weg kam. Es dauerte einige Zeit, bis es den Zirkusleuten gelang, das erregte Tier wieder in den Stall zurückzudrängen.
Erst jetzt wurde klar, was geschehen war: Der Elefantenbulle hatte seinen Kornak, der ihn während 14 Jahren betreut hatte, getötet. Er hatte ihn mit seinem kräftigen Rüssel zweimal in die Luft gewuchtet, dann mit den Stosszähnen in den Boden gedrückt und schliesslich noch mit Fusstritten traktiert. Der Unglückliche starb nach einer qualvollen Stunde. Murten stand unter Schock und unverhofft zugleich vor einem schrecklichen Problem, das allen fremd und unheimlich war. Trotzdem musste unverzüglich gehandelt werden.
Vom sichern Port des heutigen Wissensstandes wäre es billig, die Entscheidungsnöte der Murtner angesichts einer solch plötzlich auftretenden, völlig unkalkulierbaren Bedrohung retrospektiv zu belächeln oder gar zu kristisieren. Im Gegenteil, man muss ihnen attestieren, dass sie, von den damaligen Möglichkeiten her, richtig, rasch und erst noch erfolgreich gehandelt und damit weiteres Unheil verhindert haben.
Gemeinderat und Zirkusdirektor waren sich einig, dass das nicht mehr kontrollierbare Tier getötet werden musste. Aber wie? Vergiften oder Erschiessen durch Scharfschützen wurde, weil zu unsicher bezüglich rascher Wirkung, verworfen. Man wollte auf sicher gehen und beorderte aus Freiburg eine 6-Pfünder-Artilleriekanone, die um 11 Uhr mittags eintraf. Der ortsansässige Artilleriehauptmann Daniel Stock übernahm das Kommando.
Die Rathausgasse wurde abgesperrt und – um den «Elefanten-Perimeter» einzugrenzen – mit beladenen Heuwagen verbarrikadiert. Wegen der zu erwartenden Druckwelle mussten alle Häuser die Fenster öffnen. Auch die Feuerwehr war vorsorglich aufgeboten. Kinder wurden im Schulhaus «consigniert». Vor der Stalltüre wurde Lockfutter deponiert, bevor sie geöffnet wurde. Vorsichtig näherte sich der Bulle dem Futter, zog sich aber gleich wieder zurück. Erst beim zweiten Heraustreten blieb er einen kurzen Moment mit der Breitseite zur Kanone stehen.
Der Hauptmann gab «Feuer frei», ein Donnerblitz liess das Städtchen erzittern, der graue Riese kippte an Ort zur Seite und blieb regungslos liegen, während das Blut aus dem Einschussloch quoll. Die Kugel, die – beim Schulterblatt eintretend – den massigen Körper voll durchschlagen hatte, ruinierte auch noch die Treppe des Gasthofs Adler, bevor sie als Querschläger in einem Heuwagen steckenblieb. Vorsorglich postierte Scharfschützen gaben – überflüssigerweise – noch eine Stutzersalve obendrein. Die Gefahr war gebannt; doch jetzt warteten andere Aufgaben.
Kurz nach Mittag führte der Gehilfe des Kornaks das weibliche Tier gen Freiburg. Mehrmals blieb die Elefantenkuh stehen und hielt vergeblich Ausschau nach ihrem langjährigen Kumpan.
Unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung wurde nachmittags der getötete Elefantenpfleger, ein Engländer namens Moffet, beerdigt. Seine Frau legte ihm zwei Münzen auf die Augenlider – als Tribut an den Totengott. Der Murtner Männerchor sang ihm ein ergreifendes Grablied, und aus Mitleid für die Witwe und deren Kleinkind gab es eine stattliche Kollekte.
Erst am Folgetag, dem 29. Juni, wurde der Elefant, nachdem er (zwar mit Stroh abgedeckt) an der Sonne gelegen hatte, an Ort von den Metzgern Riesenmey und Fasnacht abgehäutet und zerlegt und das Fleisch zu 20 Cts. das Pfund restlos an die Bevölkerung ausgewogen. Abgesehen vom Zeitverzug entsprach diese «Hausschlachtung» nicht ganz heutigen Hygienevorschriften, weil das Tier auch ungenügend ausgeblutet war. Kein Wunder, gelang das exotische Gulasch den Murtner Hausfrauen unterschiedlich gut. Aber gerühmt wurde es allenthalben. Eine Bestellung der Herren aus Neuenburg für etliche Zentner Fleisch zu gutem Preis traf allerdings zu spät ein …
Dass in der damaligen Zeit ein solch plötzlich anfallender Fleischberg bis zum letzten Kilo verwertet statt vernichtet wurde, ist nachvollziehbar, wobei wohl auch der exotische Faktor mitspielte.
In unseren Breitengraden ist Fleischkonsum heute gekennzeichnet von extremer Verschwendung. Während früher praktisch alles vom Tierkörper verwendet wurde, wandert heute fast die Hälfte in den Abfall. Wir geben uns nur noch mit den besten Stücken zufrieden. Lunge, Euter – wer würde sowas noch essen? Importieren tut die Schweiz eh nur noch Filet, Huft und Nierstück. Und bezüglich Gehegetieren: Früher war es in Bern noch gang und gäbe, die überzähligen Bärengrabenbären – trotz Wappentierstatus – in den Altstadtbeizen zu verköstigen. Auch das ist Geschichte. Nur der Tierpark Lange Erlen in Basel lädt noch jährlich zum Hirschessen ein; hier überwiegt naturverbundene Jagdtradition.
Zurück zum Murten-Elefant: Der Tod des grauen Riesen war zugleich der Anfang einer neuen Herausforderung. Nachdem die unberechenbare Gefahr gebannt und der Koloss verspiesen war, standen Mitleid mit dem «hingerichteten» Elefanten, Verehrung seiner kraftvollen Gestalt und naturkundliches Interesse im Fokus. Die ausgestopfte Hülle und das montierte Skelett sollten, so waren sich Behörden und Bevölkerung einig, der Nachwelt erhalten bleiben.
Doch weil der von Präparator Daniel Zahnd «rekonstruierte» Elefantenbulle zu gross war für das Murtner Naturalienkabinett und weil die Realisierung eines extra geplanten, massgeschneiderten Ausstellungspavillons im Schweizerhausstil zu teuer geworden wäre (Kostenwahrheit hatte bei den Stadtvätern Vorrang vor Gefühlswallungen der Bevölkerung), landete er dann schliesslich doch im Naturhistorischen Museum Bern, das – rückblickend – cleverer taktiert hatte.
In den 1930er Jahren jedoch, beim Umzug des Museums in den Neubau an der Bernastrasse, wurde das Murten-Elefant-Präparat still und leise entsorgt … Anders erging es dem Skelett, das seinerzeit direkt ins Institut für Anatomie der Universität Bern gelangt war, dort aber ein tristes Dasein fristete. Deshalb wurde es später ebenfalls ins neue Naturhistorische Museum geholt, wo es seit 2001 ausgestellt ist und vor ein paar Jahren sogar nochmals einen neuen Ehrenplatz erhielt. An solch eine Odyssee des Murtner Elefantenbullen hätte 1866 wohl niemand zu denken gewagt.
Im Museum Murten erinnert heute, neben Schriftstücken, noch die ominöse Kanonenkugel an die elefantöse Episode. Fakt aber bleibt: Behörden und Bevölkerung von Murten haben 1866 ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie hereingebrochenes, aus damaligem Wissensstand nicht einzuschätzendes Unheil in kühler Vernunft bestmöglich bewältigt. Es war keine Bestrafung oder gar «Hinrichtung», es war notwendiger Schutz der Bevölkerung. Aus heutiger Sicht (vgl. Kasten «Des Rätsels Lösung») ist daher nicht Häme, sondern Respekt angebracht.
Ganz in diesem Sinn stand eine bereits 1992 inszenierte Gedenkveranstaltung durch den heutigen Betreiber des schwimmenden Salontheaters Herzbaracke auf dem Zürichsee, Federico Emanuel Pfaffen. Mit der Produktion «Das Elefant kommt» (in Analogie zu dem, was heute wieder hochaktuell ist: «Das Fremde kommt») tourte er, zusammen mit der Elefantenkuh Dunja und einem Viermast-Chapiteau von Murten über die Alpen bis ins Engadin.
Und nun, 2016, das 150-Jahr-Jubiläum mit Events, Medienpräsenz und Souvenirs. Der Murten-Elefant mitsamt der «Gulasch-Kanone» ist definitiv unsterblich geworden, und dies ausgerechnet jetzt, da man auch in der Schweiz die Elefanten aus dem Zirkus verbannt hat. Tote leben länger! •
*Der Autor war früher Zoo- und Zirkustierarzt.
Weitere Informationen: www.nmbe.ch (Naturhistorisches Museum Bern) und www.museummurten.ch
hh. Vor dem tragischen Ereignis 1866 in Murten waren auch schon in London, Venedig und Genf ausgerastete Elefantenbullen mit Kanonen erschossen worden. Denn was man heute weiss, war damals noch nicht bekannt: Elefantenbullen können ab dem 15. Lebensjahr in die Musth (phonetisch: mast) kommen, ein heftiger Erregungszustand der Brunst, erkennbar an der Sekretabsonderung der Schläfendrüse zwischen Auge und Ohr. In freier Wildbahn macht sie dieser Ausnahmezustand zum «Platzhirsch», welchem Rivalen ausweichen und mit dem sich die Kühe paaren.
Weil man dafür noch keine Erklärung hatte, schützte man sich, indem man beim Bullen die Stosszahnspitzen absägte und die Enden mit einer Metallbrücke verband (auch auf den vorhandenen historischen Bildern des toten Elefanten sichtbar, während das Museumspräparat dies vertuscht). Denn dieser Bulle soll bereits vorher auf seiner Fussreise einen Wagen umgestürzt und ein Pferd getötet haben. Heute kann man beim Eintreten der Musth Sicherheitsvorkehrungen treffen.
Nichtsdestotrotz wiederholt sich die Dramatik von Murten auch jetzt noch gelegentlich. So gab es in Thailand in jüngster Zeit sechs Todesfälle mit Elefantenbullen im Testosteronschub, letztmals im Februar 2016.
Selbst in heutigen Fachinstitutionen passieren Fehlinterpretationen. So etwa, wenn die PR-Crew des Naturhistorischen Museums Bern, das den Murten-Elefant (dessen Skelett es besitzt) dieses Jahr zur Hauptthematik der Werbung erklärt und darin vom «durchgebrannten» Elefanten spricht. Fluchttiere wie Pferde reagieren auf eine Schrecksituation mit Durchbrennen. Der in Murten «ausgerastete» Elefantenbulle war in der Musth, rannte nicht weg, sondern behauptete sich vor Ort.
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