Freilauf- und Mutterkuhhaltung

Freilauf- und Mutterkuhhaltung

«Man muss den Umgang mit den Tieren der neuen Situation anpassen»

von Heini Hofmann

Mit dem Wandel der Haltungsformen im Nutztierbereich hat sich auch das Handling der Tiere verändert. Der Wechsel vom Anbinde- zum Laufstall liess das Bild der braven Liese in Vergessenheit geraten. Der Umgang mit den Freiläufern ist schwieriger geworden, und dies ganz besonders in den halbwilden Mutterkuhherden.
Dieser Domestikationsverlust bedingt ein neues Verständnis, nicht zuletzt auch von den Wanderern. Denn mit Erstaunen stellt man fest: Die Summe gravierender Unfälle mit Rindern übertraf in den letzten Jahren jene mit Hunden.

Schwindender Kontakt

Das nostalgische, aber sympathische Bild, als der Bauer beim Handmelken mit jeder Kuh in innigem Kontakt stand, sie beim Namen rief, ihr gelegentlich am Kopf kraulte, sie am Sonntagmorgen auf der Weide durchstriegelte und ihr schliess­lich am Lebensende mit beruhigenden Worten den Gang zum Metzger erleichterte, gehört der Vergangenheit an. Heute beschränkt sich der tägliche Kontakt zum Milchvieh auf wenige Handgriffe im Melkstand, das Füttern und den Austrieb auf die Weide oder in den Laufhof.
Noch extremer ist die Situation bei der Mutterkuhhaltung, wo sich die Tiere ständig auf der Weide befinden – ohne grosses menschliches Zutun. Dass solch freilaufende Mütter, die ihre Kälber verteidigen, keine braven Lieschen mehr sind, versteht sich von selbst.

Milchvieh und Mutterkühe

Der Ruf nach naturnaher Tierhaltung brachte dem Milchvieh im Freilauf- statt Anbindestall wohl mehr Freiheit und Bewegung; doch die individuelle Pflege und Betreuung blieben auf der Strecke. Der Handstriegel wurde durch die Rotorbürste ersetzt. Noch extremer ist die Situation bei der Mutterkuhhaltung. Diese kam damals auf, als Milchschwemme und Butterberg dazu zwangen, die Zahl der Melkkühe massiv zu reduzieren.
Doch um das viele Grasland trotzdem zu nutzen, brauchte es nach wie vor Vieh. Und um die steigende Nachfrage nach Rindfleisch zu decken, benötigte man mehr Kälber, die jedoch bei abnehmender Kuhzahl ausblieben. Um diesem Teufelskreis zu entrinnen, führte man eine neue Art der Kuhhaltung (mit meist ausländischen Rassen) ein, mit der das bestehende Grünland genutzt wurde, ohne dabei Verkehrsmilch zu erzeugen, wohl aber Kalb- und Rindfleisch, was beides einen guten Markt hatte.

Wildheit dominiert

Was also ist eine Mutterkuh im Gegensatz zur althergebrachten Milchkuh? Eigentlich das Natürlichste auf der Welt, nämlich eine Kuh, die nicht gemolken wird, dafür aber ihr Kalb säugt. Nach rund zehn Monaten erreicht dieses ein stattliches Absetzgewicht von 300 bis 400 Kilo und wird nun geschlachtet oder ausgemästet. Dieses Faseltier (Mastremonte) ist das Verkaufsprodukt aus dem arbeitsextensiven Betriebszweig Mutterkuhhaltung.
Mutterkuhherden verbringen oft den ganzen Sommer auf der Weide oder der Alp – fast ohne menschliches Handling. Dass solch freilaufende Muttertiere, die ihre Kälber verteidigen, keine braven Lieschen mehr sind, versteht sich von selbst. Und weil Zahmheit von Wildheit rasch dominiert wird, sobald man letzterer Freiraum gewährt, steht man jetzt beim Nutzvieh vor der etwas schizophrenen Situation, dass sich die über Jahrtausende mühsam erarbeitete Domestikation, die zu einem Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Tier führte, beim Freilaufvieh wieder minimiert, was gefährlich werden kann.

Unfallgefährdung

Resultat: Unerlässliche Eingriffe wie veterinärmedizinische Behandlungen, die künstliche Besamung, Verlad und Transport oder auch der Schlachtvorgang werden zunehmend zu heiklen Rodeoeinlagen im Berufsalltag und führen immer wieder zu Unfällen, weil halbwilde Tiere in kritischen Situationen ihre Instinkte spielen lassen. Kein Wunder, dass tierungewohnte Wanderer und Freizeitsportler sich auf Bergweiden zunehmend verunsichert fühlen.
Die zuständigen Instanzen mussten aktiv werden. So spricht die Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) von einem Dilemma zwischen artgerechter Tierhaltung und der Sicherheit der Wanderwege, und deren Dachorganisation verteilt Flugblätter. Auch die Schweizerische Vereinigung der Ammen- und Mutterkuhhalter, Mutterkuh Schweiz, der 4500 Betriebe angeschlossen sind, hat sich der Problematik angenommen und erörtert Versicherungsfragen. Am effizientesten haben Landwirtschaftliche Bildungszentren (früher: Landwirtschaftsschulen) reagiert.

Mit Körpersprache

Was also tun, wenn man plötzlich vor der Tatsache steht, dass aus einst bravem, halfterführigem Rindvieh eigensinnige oder gar angriffige Hornwaffenträger geworden sind? Ganz einfach, man muss den Umgang mit den Tieren der neuen Situation anpassen. Denn es wäre ja widersinnig, auf der einen Seite durch ein zeitgemässes Tierschutzdenken dem lieben Vieh mehr Freiheit (und dadurch mehr Wildheit) zu gewähren, wenn dann umgekehrt aus Gründen des Menschenschutzes mit den Tieren unsanfter umgesprungen werden müsste.
Also fand man zurück zu einem altbewährten Mittel in Konfliktsituationen: miteinander reden, wobei dies nicht nur über die Lautsprache, sondern – weil Tiere dafür ein besonders gutes Sensorium haben – auch und sogar viel effizienter über die Körpersprache erfolgen kann. Und weil die Rösseler diese Methode als Pferdeflüsterer längst perfektioniert hatten, lag es für die Küher auf der Hand, jenen über die Schulter zu schauen. So kam es zur neuen Spezies der Bullenflüsterer.

Bullenflüsterer-Boom

Wie überall im Leben, braucht’s für jede Neuerung einen Pionier. In diesem Fall war dies der aus dem Bündnerland stammende Meisterlandwirt (und gelernte Forstwart) Armon Fliri, früher Versuchsgut-Leiter der ETH, heute auf Gut Sonnenberg in Unterengstringen selber eine Mutterkuhherde betreuend, der die geniale Idee von Monty Roberts Pferdesprache erfolgreich auf Rinder übertrug.
Zur gleichen Zeit hatte der Landwirtschaftslehrer Carl Brandenburger am Plantahof in Landquart das unangenehme Problem, mit seinen Leuten jährlich rund ein Dutzend Bullen im schulischen Fleischrinder-Zuchtbetrieb handzahm zu machen, was gelegentlich recht gefährlich werden konnte. Was lag da näher, als den Bullenflüsterer-Pionier einzuladen und mit ihm zusammen ein praktisches Seminar für Viehhalter zu konzipieren. Erfolg und Nachfrage (im In- und Ausland) waren derart gross, dass ein solches Kursangebot institutionalisiert wurde.

Unterschied Pferd/Rind

Natürlich musste die beim Pferd erarbeitete Join-Up-Methode ans Rind angepasst werden, das wesensmässig ein ganz anderes Tier ist. Zwar sind beide Grasfresser und Herdentiere. Doch das Pferd ist ein ausgesprochenes Fluchttier, dessen wichtigstes Instrumentarium die Beine sind. Auch sein Verdauungssystem ist – mit kleinem Magen und grossem Gedärm – auf Fluchtbereitschaft ausgerichtet.
Umgekehrt ist das Rind mit seinen Stirnwaffen (so es sie als Nutztier überhaupt noch hat) primär auf Verteidigung und Angriff eingerichtet. Auch sein Verdauungsapparat mit den voluminösen Vormägen ist nicht auf Fluchtstrategie ausgelegt. Dementsprechend reagieren Pferd und Rind auf Gefahr anders: das Rind stellt sich, wie einst dem Wolf, derweil das Pferd der Gefahr ausweicht.

Ein bisschen «Kuhsinn»

Weil nun die neuen Haltungsformen – ohne Anbinden und ohne intensiven menschlichen Kontakt – aus den einst domestizierten Nutztieren (lat. domesticus = ans Haus gewöhnt) wieder halbe Wildrinder werden liessen, ist der Wunsch nach umgänglicheren Tieren zunehmend gross. Denn dies würde nicht nur die Arbeit vereinfachen, sondern sie auch weniger gefährlich machen. Und zudem würde bei nicht gestressten Schlachttieren die Fleischqualität besser ausfallen – zusammen mit dem verminderten Unfallrisiko durchaus auch ein wirtschaftlicher Faktor!
Das Ziel der Bullenflüsterer ist also die Halfterführigkeit der Tiere. Doch dies erfordert grossen Zeitaufwand und unendlich viel Geduld. Der Erfolg ist abhängig von Tier und Mensch; denn auch beim Rindvieh gibt es mehr oder weniger umgängliche und gelehrige Tiere, und nicht jeder Tierbesitzer, der sich als Bullenflüsterer übt, verfügt über gleich viel Cowsence, das heisst die Fähigkeit, sich ins Tier hineinzudenken. Das zeigt sich auch daran, dass Tiere von verschiedenen Betrieben oft sehr unterschiedlich ungebärdig sind. Oder anders gesagt: Wie der Meister, so das Rindvieh… Doch wenn die Zähmung gelingt, profitieren beide, Mensch und Tier!    •

Häufung in jüngster Zeit

HH. In den letzten Jahren haben sich die Begegnungen der unfreundlichen Art zwischen Wanderern und Weidetieren in der Schweiz, aber auch im angrenzenden Ausland, deutlich gehäuft. Beispiele: In Uznach SG attakierte eine hornlose Mutterkuh, als man ihr das neugeborene Kalb wegnahm und sie von der Herde zu trennen versuchte, eine Bauersfrau und verletzte sie tödlich.
Im schwyzerischen Muotathal wurde eine Frau von einer Mutterkuh mit Kalb angegriffen, und im österreichischen Bundesland Salzburg verfolgte eine Kuhherde eine ganze Familie und verletzte fünf Personen, von denen eine sogar einen Herzinfarkt erlitt. Gleich in mehreren Fällen waren Hunde die Auslöser boviner Attacken. So wurde im Tirol auf einer Alp im Stubaital eine 45jährige Wanderin von 20 Mutterkühen attakiert und tödlich verletzt, als sie mit ihrem Hund eine eingezäunte Weide queren wollte.
Auch die Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft BUL stellt eine Zunahme der Vorfälle fest: So wurde ein Ehepaar schwer verletzt, als es eine Weide mit Mutterkühen durchquerte, und ein älterer Mann wurde auf einer solchen Weide von einem Stier sogar getötet. Die BUL spricht von einem Dilemma zwischen artgerechter Tierhaltung und der Sicherheit der Wanderwege, was auch deren Dachorganisation aktiv werden liess.
Ebenfalls die Schweizerische Vereinigung der Ammen- und Mutterkuhhalter, Mutterkuh Schweiz, welcher 4500 solcher Betriebe angeschlossen sind, hat sich der Problematik in ihrer Verbandszeitschrift «Die Mutterkuh» schon wiederholt angenommen und dabei auch Versicherungsfragen diskutiert.
Ursache dieses neu entstandenen Problems sind aber nicht nur die durch die modernen Haltungsmethoden wilder gewordenen Rinder, sondern auch die sich meist aus Agglomerationen rekrutierenden Wanderer und Biker ohne Mist am Ärmel, denen seit ihrer Entfremdung von der Scholle der Umgang mit Nutztieren abhanden gekommen ist.

Tipps für Wanderer

HH. Früher hatten Wanderer und Freizeitsportler mit dem vertrauten Weidevieh kaum Probleme. Und dass rote Farbe kein Aggressionsauslöser sein kann, hat sich inzwischen auch herumgesprochen. Denn das Rind besitzt, anders als der Mensch, aber gleich wie die meisten Säugetierarten, in der Netzhaut nur zwei statt drei Zapfentypen; der Rezeptor für Rot fehlt. Rotkäppchen muss sich also nicht fürchten!
Jedoch: Auf Grund der veränderten Viehhaltung kommen Wanderer und Sporttreibende öfters in ungemütliche Situationen. Oder anders ausgedrückt: Tierschutz-Forderungen, die zu reziproker Domestikation führten, provozieren jetzt Menschenschutz-Massnahmen…
Wie also soll man sich Mutterkühen gegenüber verhalten? Einige Tipps:

  • Bei eingezäunter Herde die Weide auf den bestehenden Wegen umgehen. Bei freilaufenden Tieren auf der Alp sich stimmlich und körperlich bemerkbar machen, jedoch allzu grosse Annäherung vermeiden, ganz speziell in bezug auf Kälber, da dies den Abwehrinstinkt der Muttertiere weckt.
  • Kommt es dennoch zu einer kritischen Begegnung, kann man sich mit dem Wanderstock (den man mit Vorteil in solcher Situation mitführt) zur Wehr setzen, wobei Fuchteln meist schon genügt.
  • Hunde (besonders falls sie keinen guten Appell haben) bleiben am besten an der Leine, damit sie nicht unnötig Unruhe stiften. Sollte es aber dennoch zu einer kritischen Annäherung kommen, dann den Hund sofort ableinen, da man sich sonst doppelt in Gefahr begibt.

Kurz: Respekt und Vernunft statt falschem Mut und Panik – und dies eingedenk der Tatsache, dass der Mensch der «Eindringling» auf der Weide ist.

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