«Syrien zwischen Schatten und Licht – Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land»

«Syrien zwischen Schatten und Licht – Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land»

von Carola und Johannes Irsiegler

Die Menschenkinder sind ja alle Brüder
Aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder
Hat Krankheit nur einzig Glied erfasst
So bleibt anderen weder Ruh noch Rast
Wenn anderer Schmerz
dich nicht im Herzen brennt
Verdienst du nicht,
dass man noch Mensch dich nennt.

(Saadi, persischer Dichter, 13. Jahrhundert)

Karin Leukefeld, 1954 geboren, studierte Ethnologie, Islam- und Politikwissenschaften. Seit 2000 berichtet sie als freie Journalistin aus dem Nahen und Mittleren Osten und reist seit 2005 immer wieder nach Syrien, dies auch heute noch. 2010 erhielt sie die offizielle Akkreditierung von der syrischen Regierung, um als Journalistin in Syrien tätig zu sein. Karin Leukefeld ist eine Kennerin der Region. In ihren zahlreichen Reportagen und Publikationen will sie sich explizit nicht als Kriegsberichterstatterin verstanden wissen: Es geht ihr um die einzelnen Menschen, ihre Hoffnungen, ihre Aktivitäten und ihr Leiden. Sie bleibt nicht unberührt von dem, was sie in Syrien hört und sieht und vermittelt dadurch etwas, was in der üblichen Berichterstattung so fehlt: Mitgefühl. Aus diesem Mitgefühl und aus der Vielzahl ihrer persönlichen Begegnungen der letzten 15 Jahre schöpft sie in ihren Reportagen und Büchern.
Ihr neuestes Buch trägt den Titel «Syrien zwischen Schatten und Licht – Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land». Es ist ein bewegendes Dokument, gelingt ihr doch die Synthese zwischen sachlicher Darstellung der Fakten und mitfühlendem Vermitteln, was diese Fakten für das Leben der Menschen bedeuten. Karin Leukefeld spannt den Bogen von 1916 bis heute. Sie präsentiert die leid- und hoffnungsvolle Geschichte Syriens und seiner gastfreundlichen und tüchtigen Bewohner im 20. Jahrhundert. Nach einem zusammenfassenden Durchgang durch eine Epoche der Geschichte folgt jeweils ein Kapitel, in welchem sie diese Epoche aus der Sicht von Zeitzeugen nochmals aufleben lässt. Dadurch vermittelt sie, dass Geschichte immer von Menschen gemacht und erlebt wird.
1916 wurde der heutige Mittlere Osten in einem Machtpoker unter den damaligen Gewinnern des Ersten Weltkrieges Grossbritannien und Frankreich verschachert. Die britische Regierung verteilte ein Land, das ihr nicht gehörte, gleich mehrfach an verschiedene Akteure. Frankreich widersetzte sich mit rassistischen Argumenten jeglichem Recht auf Selbstbestimmung der Völker, besetzte das heutige Syrien und teilte es nach seinem Gusto auf.
Aus der weiteren Lektüre ergeben sich viele neue Erkenntnisse:
Wem ist zum Beispiel bekannt, dass vor allem das Emirat Katar, das ja den Krieg in Syrien medial und finanziell massiv angefeuert hat, in der ersten Phase der Regierung Bashar al-Assad besonders in verschiedene Projekte investiert hatte? Katar wollte Teile einer bestehenden Gaspipeline durch Syrien nutzen und eine neue Pipeline bauen, um Gas über Jordanien, Syrien und die Türkei auf dem europäischen Markt zu verkaufen. «Die Katar-Pipeline hätte den Einfluss der Golf-Staaten, Europas und der USA in der Region gestärkt», so Leukefeld, dies zum Nachteil Russlands. Bashar al-Assad erklärte 2009 schliesslich aus Rücksicht auf den Verbündeten Russland, dass er dem Pipelineprojekt nicht zustimmen werde. Das war also das Motiv Katars, die Regierung Assad zu stürzen.

Oder wer kennt die Hintergründe des Rücktritts Kofi Annans als Uno-Sonderermittler für Syrien 2012? Karin Leukefeld berichtet: «Im Juni 2012 gelang es Annan, eine ‹Genfer Vereinbarung› über Verhandlungen zur politischen Transformation Syriens zu präsentieren. Nicht nur die Aussenminister der Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, sondern auch Syrien stimmten zu. Unmittelbar nach der Unterzeichnung wandte sich die US-Aussenministerin Hillary Clinton an die Presse und erklärte, die Vereinbarung könne nur umgesetzt werden, wenn der syrische Präsident Assad abtrete. Der Uno-Sonderbeauftragte Annan trat zurück.» Wieviel Leid wäre erspart geblieben, wenn der Konflikt damals eine andere Wendung genommen hätte. Angesichts einer möglichen US-Präsidentschaft von Frau Clinton ist diese Information sehr beunruhigend.
Oder aber, wer hat in westlichen Medien von der Existenz einer innersyrischen Opposition gehört, die sich mit ehrlichem Anliegen immer gegen eine Einmischung von aussen und eine Militarisierung des Konflikts gewehrt hat? Und die mit ihrer unbedingten Forderung eines Endes der Kämpfe keine Resonanz in Paris, Berlin oder London gefunden hat? Sie ist dort nicht erwünscht. Syrien wird erneut verwehrt, einen eigenständigen Weg zu gehen.
2015 ist Syrien, dem noch 2010 eine gute wirtschaftliche Zukunft vorausgesagt wurde und in der sich die Menschen vor dem sogenannten Arabischen Frühling einen friedlichen Weg der Reform vorstellten, durch Krieg zerstört. Karin Leukefeld kommt zum Schluss, dass die Syrer keine Chance hatten. «Alle haben sie getäuscht. Dennoch geben sie nicht auf. […] Sie helfen sich gegenseitig, widerstehen geduldig dem Mangel, der Unsicherheit, der Teuerung, den falschen Versprechungen.» Sie schliesst ihren Bogen mit der Aussage eines Bekannten, eines 28jährigen Syrers, der in seinem Land bleiben, aber nicht in einem geteilten Land leben will: «Jetzt müssen wir uns um das Heute kümmern, es gibt genug zu tun. Aber eines Tages wird das Chaos vorbei sein, und dann werden es die Frauen sein, die Syrien wieder aufbauen. Die Männer sind tot, im Gefängnis, oder sie haben das Land verlassen. Aber die Frauen sind hier, sie werden Syrien wieder aufbauen.»
Vielleicht verstehen wir nach der Lektüre auch besser die Not derjenigen Menschen, die nicht in Syrien bleiben konnten und aus ihrer Heimat flüchten mussten. Viele von ihnen sind übrigens Palästinenser, deren Familien schon einmal ohne Hab und Gut aus ihrer Heimat vertrieben wurden und die in Syrien eine Zuflucht gefunden hatten.
Karin Leukefeld gelingt es in ihrem Buch auf bewegende Art, das Mitgefühl für die Betroffenen der Auswirkungen der politischen Entscheidungen des letzten Jahrhunderts zu wecken. Das Buch ist allen politisch Interessierten zu empfehlen.    •

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