«Die Identität Frankreichs zu verteidigen heisst auch, unsere Viehzüchter zu retten»

«Die Identität Frankreichs zu verteidigen heisst auch, unsere Viehzüchter zu retten»

von Natacha Polony, Publizistin, Frankreich

Die wichtigste Herausforderung bei den kommenden Präsidentschaftswahlen ist es, Frankreichs Überleben zu sichern, indem man die Franzosen davon überzeugt, dass jeder ihrer Einkäufe auch eine politische Wahl ist.
Die Kampagne für die Präsidentschaftswahlen (23. April und 7. Mai 2017) in Frankreich ist eröffnet, und schon versichert man uns, dass sie sich um ein bestimmtes Thema drehen wird: die Identität des Landes. Im Vorfeld dieser Auseinandersetzung sollten wir daran erinnern, dass Frankreich ein Land ist, wo die Frauen nicht schuldig gesprochen werden für das Begehren, das sie auslösen; ein Land, in dem Individuen leben und nicht «Gemeinschaften»; ein Land, wo man, aus Respekt vor Andersdenkenden und um den inneren Frieden aufrechtzuerhalten, seinen Glauben nicht wie ein Banner vor sich her trägt. Dies alles gibt in etwa den Rahmen für eine «Identität»: ein sich im Verlauf der Geschichte über Jahrhunderte veränderndes und komplexes Gebilde.
Also denn, äussern wir uns zur Identität Frankreichs. Aber führen wir eine echte Diskussion. Denn es fällt auf, wie alle Präsidentschaftskandidaten [es sind an die 20] in dieser Frage unter einer seltsamen Hemiplegie [Halbseitenlähmung] leiden. Sagen wir es offen: Die grossartigen Aussagen über Frankreich, seine Vergangenheit, sein kulturelles Erbe … sind nichts wert, wenn man es unterlässt, die industriellen, landwirtschaftlichen und gewerblichen Strukturen neu zu beleben. Wenn man behauptet, man wolle die Nation erhalten, und dabei einem Modell der wirtschaftlichen Entwicklung anhängt, das von den falschen Ansichten der Freihandels-Ideologie diktiert ist, so kann man das im besten Fall als schuldhafte Inkohärenz bezeichnen. Damit verwechselt man jedenfalls die Internationalisierung [«mondialisation»], die eine Realität ist, mit der Globalisierung [«globalisation»], die einen juristischen und kulturellen Imperialismus bezeichnet, dessen Waffe der Freihandel ist.
Wahrscheinlich ist dies der Grund, weshalb die Kandidaten lieber ein neues Gesetz über religiöse Symbole fordern, als Antworten für die todgeweihten Milchproduzenten zu finden. Sie haben noch nicht verstanden, dass ein Frankreich, das die Familienbetriebe mit ihren die Landschaft prägenden Weiden verkommen lässt, ein mit fabrikähnlichen Grossbetrieben, Gewerbezonen mit Gross-Einkaufszentren, mit McDonald und anderen Fast-Food-Ketten überzogenes Frankreich sein wird, und kein Land mehr, das der Welt Persönlichkeiten wie Chambord, Voltaire, Victor Hugo oder Claude Monet schenken kann.

Die Illusion der Wettbewerbsfähigkeit

Die Milch-Krise zeigt uns, wie Frankreich daran ist, sich selber zu zerstören. Einerseits gibt es ein Unternehmen – Groupe Lactalis, Nummer eins der Welt –, das so stark von seinem Status als multinationale Firma eingenommen ist, dass dessen Chef, Emmanuel Besnier, sich zu schade ist, seine Verantwortung zu übernehmen, und statt dessen seinen Kommunikationschef Michel Nalet vor die Medien schickt. Lactalis findet es völlig normal, von seinem Quasi-Monopol zu profitieren. Er zahlt für den Liter Milch 25 Cents, trotz Produktionskosten von 39 Cents, und realisiert dabei eine Gewinnmarge von 10,5 % (während seine Konkurrenten 28 oder 30 Cents, die Käserei Bobin in Coulommiers sogar 40 Cents bezahlen). Halten wir auch fest, dass Lactalis sich weigert, seine Rechnungsabschlüsse zu veröffentlichen. Bei der Übernahme des italienischen Unternehmens Parmalat musste er immerhin einen Jahresgewinn von 1,78 Milliarden Euro bei einem Umsatz von 17 Milliarden bekannt geben. Es gibt offensichtlich Wirtschaftsbereiche, die recht erfolgreich sind. Zum Beispiel diejenigen mit Fabriken, die täglich zehntausende Camemberts herstellen mit … zwei Angestellten.
Weshalb befinden wir uns in einer solch verheerenden Situation? Weil der wichtigste nationale Gewerkschafts-Dachverband FNSEA,1 der seit über 60 Jahren den ganzen Landwirtschaftsbereich gemeinsam mit dem Ministerium verwaltet, es in all den Jahren für gut befunden hat, die Bauern dahingehend zu beraten, ihre Produkte immer günstiger zu verkaufen und dabei die Qualität zu senken, um «wettbewerbsfähig zu bleiben»; weil die Grossverteiler immer tiefere Preise verlangt haben, mit der Begründung, sie setzten sich für mehr «Kaufkraft» der Haushalte ein; weil ein Teil der Politiker diese generalisierte Konkurrenz unterstützt, in der unsere Bauern – auf Grund sozialer Zwänge und spezieller geographischer Vorgaben, die eine bessere Milchqualität, aber auch höhere Produktionskosten hervorrufen – in grosse Not getrieben werden.
Es gibt jedoch auch glückliche Viehzüchter. Bernard Gaborit, im Departement Mayenne zu Hause, produziert Bio-Milch von ausgezeichneter Qualität, für welche die Konsumenten auch bereit sind, einen angemessenen Preis zu bezahlen. Zum Glück ist er nicht alleine. Es sind solche Leute, welche die lebendige Identität Frankreichs aufrechterhalten. Entscheidend ist jedoch, dass das Land sich für sie einsetzt. Entscheidend ist auch, dass die politischen Programme nicht angefüllt sind mit Überlegungen zur «Wettbewerbsfähigkeit», die uns zwinge, die Produktionskosten und damit auch die Qualität immer weiter zu senken, um mit anderen Ländern konkurrenzieren zu können, obwohl diese ihre Landwirtschaft in eine Fabrik verwandelt haben, so wie sie aus vielen Industriebetrieben rein profitorientierte Hors-Sol-Konstrukte machen, die auf keine Grenzen Rücksicht nehmen. Leider sucht man in den Publikationen, mit denen sie uns beschenken, vergebens nach einer Überlegung zu den verheerenden Auswirkungen der Grossverteiler oder zur Bedeutung der Neuorientierung des Konsums auf die im Inland Beschäftigten.
Die wichtigste Herausforderung der Präsidentschaftswahl ist folgende: Frankreichs Überleben zu sichern, indem man die Franzosen davon überzeugt, dass jeder ihrer Einkäufe auch eine politische Wahl ist – nämlich Arbeitsstellen, Know how und eine Lebensart zu retten oder eben nicht. Entscheidend ist, klar zu sagen, dass Frankreich stolz auf seine Vergangenheit ist, auf seine Werte, aber auch auf seine KMU, seine Handwerker und seine Landwirte, weil sie die lebendigen Beispiele dieser Lebenskunst sind, die sich immer noch der Gleichschaltung durch die konsumorientierte Mittelmässigkeit widersetzt.    •

Quelle: © Natacha Polony, Le Figaro vom 27.8.2016

(Übersetzung Zeit-Fragen)

1     Die FNSEA («Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles») vereinigt – über den Zusammenschluss von 15 000 lokalen Bauerngewerkschaften sowie rund 100 Dachverbänden aus den Departementen und Regionen – rund 60 % aller Landwirte Frankreichs.

Lactalis, ein sehr schweigsames Familienunternehmen

Die Firma Lactalis wurde 1933 in Laval (Departement Mayenne) von André Besnier als kleiner Käsereibetrieb gegründet. Heute ist dieser Familienbetrieb in dritter Generation der weltweit grösste Milchverarbeiter mit 75 000 Beschäftigten in 85 Ländern und 230 Produktionsstätten. Zwischenstationen auf diesem Wachstumsweg war die Schaffung von Käsemarken (Camembert Président 1968), strukturierende Übernahmen (Lactel 1984, Bridel 1990, Roquefort Société 1991, Galbani 2006). Besnier International wurde so ein zentraler Player im Milchgeschäft Europas.
1999 wird die Firma, noch unter der Leitung von Michel Besnier, dem Sohn des Gründers, in Lactalis umgetauft. 2011 erhält der Familienbetrieb eine ganz neue Dimension mit der Übernahme seines italienischen Konkurrenten Parmalat. Mit diesem Zukauf hat sich die Lactalis-Gruppe an die Spitze der weltweit grössten Milchverarbeiter katapultiert. Sein Jahresumsatz beträgt rund 17 Milliarden Euro, wovon 58 % in Eu­ropa realisiert werden.
Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters 2000 übernahm Emmanuel Besnier, noch nicht 30 Jahre alt, die Leitung der Firma. Er ist heute Hauptaktionär und teilt sich den Besitz von Lactalis mit seinem älteren Bruder und seiner Schwester. Noch immer werden von dieser Unternehmung keine detaillierten Jahresabschlüsse bekanntgegeben – sie zahlt lieber Bussen als ihre Gewinn­margen bekanntzugeben. Der Presse­sprecher eines französischen Gross­verteilers meint dazu: «Realität ist, dass Lactalis sich über seine Margen in Frankreich gesundstösst, die sie weder in China noch anderswo im Ausland erreicht … und die französischen Bauern müssen dafür bluten.»

Quelle: Zusammenfassung des Artikels «Lactalis, un groupe secret sous les feux de l’actualité» erschienen in Le Figaro
vom 29.8.16

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