Am 25. September 2016 haben die Tessiner die kantonale Volksinitiative «Prima i nostri» (Zuerst unsere eigenen Leute) mit 58,02 % Ja-Stimmen deutlich angenommen. Der Gegenvorschlag des Gran Consiglio (Parlament) wurde ebenso deutlich abgelehnt. Damit geben die Stimmbürger ein klares Signal nach Bern: Wenn das eidgenössische Parlament die Masseneinwanderungs-Initiative nicht umsetzt, dann tun wir es eben selbst.
62 179 Grenzgänger arbeiteten im Juni 2016 im Tessin, dies entspricht fast einem Drittel der rund 200 000 Arbeitsplätze.1 Auch die Quote der im Tessin wohnhaften Ausländer ist mit 27,6 % höher als der Schweizer Durchschnitt (24,6 %, Ende 2015). Mit seinen 350 000 Einwohnern steht der italienischsprachige Südkanton der riesigen Lombardei mit 10 Millionen Einwohnern gegenüber, welche dieselbe Sprache sprechen, aber unter einer wesentlich höheren Arbeitslosigkeit leiden als die Tessiner Nachbarn und verständlicherweise auch durch die hohen Schweizer Löhne angezogen werden.
Weil sie wussten, was auf sie zukommen wird, haben die Tessiner schon im Jahr 2000 die Bilateralen I mit der dazugehörenden Personenfreizügigkeit fast als einziger Kanton abgelehnt, mit 57 % Nein. Im Februar 2014 sagten sie mit 68,2 % am deutlichsten Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative.
Als der bundesrätliche Entwurf zur Regelung der Zuwanderung im Frühling 2016 vorlag, trat die Tessiner Regierung vor die Medien: Die Festlegung eines Schwellenwertes, bei dessen Überschreitung Kontingente eingeführt würden, nütze dem Tessin nichts, so Staatsratspräsident Norman Gobbi am 6. März 2016, denn er berücksichtige die Grenzgänger nicht. Dabei seien es die Grenzgänger, die im Tessin massgeblich zu höherer Arbeitslosigkeit, Lohndumping und Stau auf den Strassen beitragen.
Als Alternativvorschlag zu dem des Bundesrates legte die Tessiner Regierung deshalb eine «bottom up-Schutzklausel» vor, die Michael Ambühl, früherer Staatssekretär und Schweizer Chefunterhändler, in ihrem Auftrag ausgearbeitet hatte. Als Kriterien für die Beschränkung der Zuwanderung sollen Indikatoren regionaler Arbeitsmärkte wie Arbeitslosenquote, Lohnniveau oder Lebenshaltungskosten dienen. Den Ausschlag für eine Beschränkung der Zuwanderung soll die Situation in stark betroffenen Regionen geben und nicht eine von oben verordnete und für die ganze Schweiz gültige Zahl. (vgl. «Berner Zeitung» vom 7. März)
Dass der Nationalrat diesen sinnvollen Vorschlag in der Herbstsession nicht in Betracht gezogen hat, trug sicher mit dazu bei, dass die Tessiner am 25. September so deutlich Ja sagten zur Initiative «Prima i nostri».
Zentraler Punkt der neuen Tessiner Regelung: In der Kantonsverfassung wird das Prinzip des Inländervorrangs im Sinne des Artikels 121a der Bundesverfassung (Steuerung der Zuwanderung) verankert:
Artikel 14 Absatz 1: «Der Kanton sorgt dafür, dass […] b. auf dem Arbeitsmarkt seine Einwohner gegenüber den aus dem Ausland Kommenden bevorzugt werden, wenn sie dieselben beruflichen Qualifikationen haben (Umsetzung des Prinzips des Inländervorrangs)». (Übersetzung Zeit-Fragen)
Das bedeutet für die Arbeitgeber, die einen Mitarbeiter suchen, dass sie zuerst beweisen müssen, dass im Tessin keine geeigneten Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, bevor sie einen Grenzgänger oder einen Zuwanderer aus Italien einstellen.
Wenn wir die vom Tessiner Volk festgelegte Regelung vergleichen mit dem kraftlosen «Inländervorrang light», dem die Mehrheit des Nationalrats am 21. September als Erstrat zugestimmt hat, können wir unsere Compatrioti von ennet dem Gotthard gut verstehen. Mit einer Stellenmeldepflicht der Arbeitgeber im Falle der Überschreitung eines noch unbekannten Schwellenwertes ist den Tessiner Arbeitnehmern und Stellensuchenden nicht geholfen. Sie benötigen sofortige Abhilfe gegenüber dem bisher ungebremsten Zustrom von Grenzgängern und Zuwanderern, welcher die Löhne der Erwerbstätigen drückt und die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt und damit auch die Sozialhilfekosten (vgl. Kasten).
In den italienischen Medien erhob sich nach dem Tessiner Volksentscheid sofort lautes Protestgeschrei. Dabei wäre es in einem menschengerecht geordneten Wirtschaftsleben eigentlich selbstverständlich, dass die Firmen zuerst einmal diejenigen Stellensuchenden einstellen, die bereits im Land leben.
Im Inland wiederum werden Stimmen laut, die Initiative sei nicht umsetzbar, weil der Kanton nicht in Bereiche eindringen dürfe, die in der Kompetenz des Bundes liegen oder in Verträgen mit dem Ausland geregelt seien. Insbesondere sei es unklar, ob die mit der Initiative «Prima i nostri» verbundene Ergänzung des Zweckartikels der Kantonsverfassung zulässig sei:
«Artikel 4 Zweckartikel
Absatz 1 Der Kanton […] wacht darüber, dass die von der Eidgenossenschaft abgeschlossenen internationalen Verträge und das dadurch betroffene Ausländerrecht angewendet werden, ohne die persönlichen und sozialen Rechte der auf dem kantonalen Territorium Lebenden zu verletzen und in voller Beachtung der Gegenseitigkeit zwischen den Staaten.» [Übersetzung Zeit-Fragen]
Was soll da nicht zulässig sein? Die neue Tessiner Verfassungsnorm entspricht der starken Stellung der Kantone im föderalistischen Staatswesen: «Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.» So steht es in Artikel 3 der Bundesverfassung. Es ist geradezu Recht und Verpflichtung der kantonalen Behörden, Protest einzulegen und sich aktiv einzuschalten, wenn die Bundesbehörden sich nicht an die Verfassung halten! Man könnte hier von einem eigentlichen Widerstandsrecht der Kantone sprechen.
Nach dem kantonalen Volksentscheid zur Initiative «Prima i nostri» wird die Bundesversammlung darüber entscheiden, ob sie die Änderungen der Tessiner Verfassung (als dem Bundesrecht nicht widersprechend) gewährleisten will. (Artikel 51 Absatz 2 der Bundesverfassung) Dies wird in erster Linie kein rechtlicher, sondern ein politischer Entscheid sein. Wenn das Parlament in Bern lieber kooperative Kantone an seiner Seite hat, wird es dem Tessin die Gewährleistung nicht verweigern. Klüger wäre es, die Anliegen und Probleme der einzelnen Kantone zur Kenntnis zu nehmen und in die eidgenössischen Entscheidungen einzubeziehen. Dazu gehört zweifellos, die Zuwanderung und insbesondere die Frage des Inländervorrangs so zu regeln, dass die Grenzkantone, und ganz besonders das Tessin, mit ihren drängenden Sorgen nicht im Stich gelassen werden. Andernfalls dürfen sich die Behörden in Bern nicht wundern, wenn der eine oder andere Kanton seine Angelegenheiten selber in die Hand nimmt. •
1 Bundesamt für Statistik BfS, Erwerbstätige und Arbeitszeit, Grenzgänger
«Die aktuellsten Lohndaten für das Jahr 2014 liefern erneut Hinweise darauf, dass Grenzgänger/innen im Tessin und auch im Jurabogen im Durchschnitt tiefere Löhne erzielen als merkmalsgleiche ansässige Erwerbstätige: Die Lohndifferenz beträgt rund 6 %.» – «Für die Grenzregionen ist weiter festzuhalten, dass trotz des schwierigen konjunkturellen Umfelds die Grenzgängerbeschäftigung auch im letzten Jahr weiter zugenommen hat – eine Ausnahme bildet der Kanton Tessin, wo die Grenzgängerzahl auf hohem Niveau stagnierte.
Vor allem in der Genferseeregion, im Tessin sowie im Jurabogen machen Grenzgänger einen hohen Anteil der lokalen Beschäftigung aus; gleichzeitig liegt die Erwerbslosenquote in diesen Regionen deutlich über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt.»
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO,
Medienmitteilung zur Personenfreizügigkeit vom 5.7.2016; Auszug
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