USA unterlaufen das Gleichgewicht nuklearer Abschreckung

USA unterlaufen das Gleichgewicht nuklearer Abschreckung

von Prof. Dr. Albert A. Stahel, Institut für Strategische Studien, Wädenswil

Seit dem Abwurf der beiden Atombomben durch die USA auf die japanischen Städte Hiroshima am 6. August und Nagasaki am 9. August 1945 sind Nuklearwaffen zu einer Realität in unserer Welt geworden. Die Realität des Vorhandenseins der Nuklearwaffen gleicht einem Januskopf. Auf der einen Seite wirken diese Waffen auf Grund ihrer enormen Zerstörungskraft vor allem für all jene Staaten, die über keine Nuklearwaffen verfügen, äusserst bedrohlich. Auf der anderen Seite sind Nuklearwaffen auf Grund ihres Vernichtungspotentials auch ein Garant der Sicherheit. Angesichts ihrer Vernichtungswirkung wird keine Nuklearmacht es wagen, diese Waffen in einem Konflikt mit einer anderen Nuklearmacht einzusetzen. Die Zahl jener Staaten, die über Nuklearwaffen verfügen, hat seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zugenommen. Zu diesen Staaten gehören neben den USA und Russland die beiden europäischen Mittelmächte Grossbritannien und Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.
Die wechselseitige Abschreckung mit nuklearen Offensivwaffen haben die USA und die frühere UdSSR mit dem ersten Rüstungskontrollvertrag SALT-I (Strategic Arms Limitations Talks) vom 26. Mai 1972 durch eine zahlenmässige Begrenzung der Offensivwaffen gegenseitig anerkannt. Seit dem Zerfall der UdSSR Ende 1991 gilt diese Anerkennung auch für die Russische Föderation als Nachfolgestaat der UdSSR.
In der strategischen Literatur existieren verschiedene Definitionen der Abschreckung. So wird die Abschreckung als der Versuch bezeichnet,

«[…] den Krieg nicht zu führen, sondern ihn zu verhindern, indem man jedem Angreifer Vergeltungen androht, die ihm mehr Schaden bringen, als ihm sein Griff zur Gewalt gewinnen kann».1

Die Autoren Schwarz und Hadik haben die gegenseitige Abschreckung (mutual deterrence) als die

«[…] Lage von nuklear gerüsteten Staaten, von denen jeder eine genügend geschützte Vernichtungswaffe besitzt, die ihm erlaubt, einen Angriff durch die Drohung zu verhindern, dass jeder solcher Angriff mit einem vernichtenden Vergeltungsschlag beantworten wird»2

definiert.
Robert S. McNamara, US-Verteidigungsminister der Präsidenten Kennedy und Johnson, formulierte 1967 für die nukleare Vergeltungsfähigkeit der USA das folgende Ziel:

«[…] unsere Fähigkeit, einen Angreifer als lebensfähige Nation des zwanzigsten Jahrhunderts zu zerstören, ist es, was die Abschreckung bewirkt, nicht unsere Fähigkeit, den Schaden für uns selbst zu begrenzen. Welche Art und welches Mass an Zerstörung wir einem Angreifer zufügen können müssten, um diese Abschreckung zu bewirken, lässt sich nicht exakt sagen. Es erscheint jedoch vernünftig anzunehmen, dass im Falle der Sowjetunion die Vernichtung von sagen wir einem Fünftel bis zu einem Viertel der Bevölkerung und der Hälfte bis zwei Drittel des Industriepotentials bedeuten würde, dass sie als Grossmacht für viele Jahre ausgeschaltet ist […].»3

Ein Jahr später bemerkte McNamara, dass für die Abschreckungsfähigkeit der Sowjet­union gegenüber den USA die gleiche Zielvorgabe gelten sollte. Die Nuklearstrategie wurde ab diesem Zeitpunkt als «Mutual Assured Destruction», mit dem Kürzel MAD, bezeichnet. Beide damaligen Supermächte sollten nach dem Erleiden eines gegnerischen Erstschlages mit Nuklearwaffen gegen die eigenen nuklearstrategischen Waffen zur Führung eines vernichtenden Gegenschlags mit Nuklearwaffen gegen die zivilen Ziele und Industrieziele der Gegenmacht fähig sein. Dies bedeutete, dass nach einem gegnerischen Erstschlag noch ein genügend grosses Restpotential an Interkontinentalen Ballistischen Flugkörpern (ICBM), U-Boot-gestützten Ballistischen Flugkörpern (SLBM) und Langstreckenbombern für den Gegenschlag übrigbleiben musste. Der Wechselmechanismus der MAD-Strategie musste für eine glaubwürdige gegenseitige Abschreckung auf dem Potential der nuklearstrategischen Offensivwaffen der beiden Mächte beruhen.
Zur Verhinderung einer Ausschaltung der Vergeltungsfähigkeit mit Offensivwaffen wurde im ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile(s)), der auch Bestandteil von SALT-I war, die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen auf beiden Seiten zahlenmässig eingeschränkt.4 Eine flächendeckende Aufstellung von Abwehrsystemen hätte nicht nur die Vergeltungs- und damit die Abschreckungsfähigkeit beider Mächte ausmanövrieren können, sondern mit Sicherheit auch einen kostspieligen Rüstungswettlauf auf beiden Seiten ausgelöst. Dank der Aufrechterhaltung des ABM-Vertrages herrschte zwischen den beiden Mächten während Jahrzehnten ein stabiles Gleichgewicht der Abschreckung.
Bis zur Amtseinsetzung der Administration von Bush jr. 2001 galt der ABM-Vertrag in den Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR als sakrosankt. Unter dem Einfluss seines machtgierigen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld kündigte Präsident Bush jr. bald nach seiner Amtseinsetzung einseitig den ABM-Vertrag. Ohne auf Russ­land Rücksicht zu nehmen, beschloss die Bush-Administration den Aufbau eines Raketenabwehrsystems, das nicht auf die USA begrenzt werden sollte. Zu den Bestandteilen dieses Abwehrsystems mussten auch Radar- und Abwehrraketenstellungen in Polen und Rumänien gehören. Mit ihrem einseitigen Vorgehen haben die USA die Ultima ratio der nuklearen Abschreckung ausser Kraft gesetzt. Von einem echten stabilen Gleichgewicht der nuklearen Abschreckung zwischen den beiden Mächten kann heute nicht mehr die Rede sein. An seiner Stelle herrscht zwischen den USA und Russland in zunehmendem Masse eine gegenseitige Unsicherheit über den möglichen Einsatz von Nuklear­waffen in einer Krise.    •

1    Legault, A. und Lindsey, G. Dynamik des nuklearen Gleichgewichts. Alfred Metzner Verlag, Frankfurt am Main, 1973, S. 93
2    Schwarz, U. und Hadik, L. Strategic Terminology, A Trilingual Glossary. Econ-Verlag, Düsseldorf und Wien 1966, S. 62
3    Legault, A. und Lindsey, G. S. 114f.
4    Legault, A. und Lindsey, G. S. 175–177

Quelle: <link http: www.strategische-studien.ch>www.strategische-studien.ch vom 30.10.2016

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