Stille Nacht, heilige Nacht

Stille Nacht, heilige Nacht

von Hermann Hofmann

Diese Weihnachtsgeschichte verfasste der Berner Heimatdichter Hermann Hofmann (1903–1998) vor rund 90 Jahren als junger Dorfschullehrer. Sie erschien auf Berndeutsch im Bändchen «Chrischtelis Troum» und im schriftdeutschen Bändchen «Mein Rosenbäumchen».1 Die im Stil an der Zeller-Weihnacht orientierten Geschichten eignen sich auch gut zum Vorlesen für jüngere und ältere Zuhörer.

Mit bekümmerter Miene betrat der Lehrer der Gesamtschule von Hasenried zwei Tage vor Weihnachten die Schulstube.
Er setzte sich ans Pult, blickte ein Weilchen vor sich hin, und seine Kinderschar schaute ihn dabei fragend an.
Dann flog plötzlich ein heller Schein über das Gesicht des Hasenried-Lehrers. Er holte die Geige aus dem Wandschrank, spielte darauf, und aus vierzig Kinderkehlen tönte es, zuerst zaghaft und dann immer frischer:

«Tausend Lichtlein seh ich blinken
an dem hohen Weihnachtsbaum – – »

Als das Geigenspiel und der Gesang verstummt waren, schweiften des jungen Dorfschullehrers dunkle Augen über die Bankreihen.
Die Kinder spürten, dass er etwas Besonderes vorhatte. Sie wurden ungeduldig, und in ihren Köpfchen tauchten bereits allerhand Vorstellungen auf.
Da hob der Lehrer zu sprechen an: «Übermorgen ist Weihnachten, das schönste Fest im ganzen Jahr.» Lautes Händeklatschen folgte auf diese Worte, und einige Kinder jubelten sogar.
Der Hasenried-Lehrer fuhr fort: «Recht so, dass ihr euch freut; Weihnachten soll ja ein Fest der Freude sein. Aber Freude soll man nicht nur selber erleben, sondern auch andern bereiten; und Freude bereiten, liebe Kinder, ist noch viel schöner als Freude erleben!»
Und noch etwas fügte der Lehrer bei: «Besonders sollte man an Weihnachten die Kranken nicht vergessen.» Bei diesen Worten wanderte sein Blick zur Fensterreihe.
«Schaut, dort hinten ist ein Plätzchen leer, und das schon fast seit einem halben Jahr. Infolge eines schweren Leidens musste eure Mitschülerin Kätheli Trösch vor Monaten ins Spital. Seit gestern ist es wieder daheim bei seinen Eltern. Aber es ist immer noch schwer krank.»
Der Lehrer schwieg. Er hätte freilich noch mehr sagen können; denn er hatte am Vortag mit Käthelis Mutter gesprochen, und diese hatte ihm unter Tränen vom hoffnungslosen Bescheid der Ärzte berichtet, wonach Käthelis Krankheit unheilbar sei und dass es den Frühling kaum mehr erleben werde.
Ganz still sassen jetzt die Schulkinder in ihren Bänklein. Sie sahen einander mit bangen Blicken fragend an.
Da brach der Lehrer das Schweigen: «Hört, seid ihr einverstanden, dass wir unserem Kätheli eine kleine Weihnachtsfreude machen? Wir könnten es morgen kurz vor dem Einnachten besuchen, ihm einige Liedlein singen und Verslein aufsagen, vielleicht auch etwas mitbringen, ein Geschenklein, oder gar ein Tannenbäumchen.»
Der junge Dorfschullehrer konnte nicht zu Ende reden; vierzig begeisterte Kinderstimmen übertönten ihn: «O ja, das wollen wir; wir helfen gerne, und Geschenklein für Kätheli bringen wir auch mit!» Mit einem Mal war es lebendig geworden im Schulzimmer; kein Mäulchen konnte mehr schweigen.
«Gut so», unterbrach jetzt der Lehrer den freudigen Lärm, «heute Nachmittag wollen wir zusammen ein schönes Weihnachtsfestchen vorbereiten. Morgen soll unser krankes Kätheli einen Freudentag erleben!»
*
Am Vorabend vor Weihnachten schneite es in Hasenried ohne Unterbruch. Der Schnee lag schuhtief, und eine grosse Stille breitete sich über alles. Als es zu dämmern begann, brach der Dorfschullehrer mit seiner Kinderschar auf, dem Oberdorf zu, wo Kätheli zu Hause war.
Zur gleichen Zeit sass Frau Trösch, Käthelis Mutter, auf dem Bettrand bei ihrem kranken Töchterlein und reichte ihm eine Tasse Tee.
Sie erzählte ihm, dass am frühen Nachmittag die vorderste Kuh im Stall, der Blösch, ein Kälbchen zur Welt gebracht habe. Alles sei gut gegangen, Kuh und Kälbchen seien wohlauf, und schon nach kurzer Zeit sei das Neugeborene auf seinen wackligen Beinen gestanden.
Still hatte Kätheli zugehört. Die Mutter konnte ihrem Kind an den Augen ablesen, dass ihm diese Kunde Freude machte.
Am liebsten wäre es auf der Stelle in den Stall gesprungen, um dem Vater, der dort noch alle Hände voll zu tun hatte, behilflich zu sein. Denn die Tiere hatte es schon immer in sein Herz geschlossen.
Aber wie gefesselt kam es sich in diesem Moment vor, gefesselt von seinem Leiden, das wie ein kalter Schatten über ihm lag. Unbeweglich und traurig schauten seine Augen zur Stubendecke empor.
Der Mutter war diese Veränderung in Käthelis Gesichtsausdruck nicht entgangen. Sie schaute auf ihr bleiches Kind, hielt seine Hand, und beide schwiegen. Inzwischen war es in der niederen Stube dunkel geworden.
Plötzlich fiel der Schimmer vieler kleiner Lichter durchs vereiste Fenster. Gleichzeitig hoben draussen helle Kinderstimmen zu singen an:

«Stille Nacht, heilige Nacht – – »

Was sollte das bedeuten? Ganz verwundert schauten sich beide an. In Käthelis Augen leuchtete ein seltsamer Glanz. Sein Herz klopfte schneller. Es heftete seinen Blick ans rosig erleuchtete Fenster.
Auf einmal huschte ein heiteres Lächeln über sein blasses Gesichtchen. Mit leiser, bebender Stimme kam es über seine schmalen Lippen: «Mutter, Mutter, das sind ja lauter Kerzlein, die vor meinem Fenster brennen!»
Als die letzten Töne des schönen Weihnachtsliedes verklungen waren, pochte es an die Tür. Die Mutter stand auf und öffnete. Da trat der Dorfschullehrer ein, gefolgt von den Buben und Mädchen.
Der grösste der Knaben trug das Weihnachtsbäumchen mit den brennenden Kerzchen und stellte es behutsam auf den Stubentisch.
Dichtgedrängt standen die Kinder jetzt um Käthelis Bett. Nicht alle fanden Platz in der engen Stube; einige mussten unter der Tür zur Küche stehenbleiben. Doch die Augen von allen waren aufs Krankenlager ihrer Mitschülerin gerichtet.
Jetzt kam auch Käthelis Vater vom Stall herein. In der Küche löschte er die Stallaterne aus und stellte sie zum Erkalten auf den Herd.
Dann setzte er sich in der Stubenecke auf die Ofenbank und schaute still zu, wie der Hasenried-Lehrer und die Schüler seinem kranken Kind das hagere Händchen drückten.
Darauf sagte der Lehrer zu Kätheli: «Wir sind zu dir gekommen, um dir eine kleine Freude zu bereiten. Das Weihnachtsbäumchen und die Geschenklein, die dir deine Schulgespanen mitbringen, sollen dir zeigen, dass wir dich nicht vergessen haben.»
Dann wandte er sich zur Schülerschar: «Jetzt wollen wir Kätheli noch ein paar Liedchen singen und Verslein aufsagen.»
Andächtig hörte das kranke Kind zu, und als ganz zum Schluss noch das Lied ertönte:

«Kommt all’ herein, ihr Engelein,
kommt all’ herein!»,

da half es bei der zweiten Strophe mitsingen, leise, mit zittriger Stimme und mit glänzenden Augen:
«Hier liegt es in dem Krippelein,
das Kindelein!»
Bald darauf mahnte der Lehrer zum Aufbruch. Nicht nur Kätheli und die Mutter hatten feuchte Augen; auch bei einigen Kindern kollerten Tränen über die Backen. Selbst der Vater war gerührt.
Draussen in der Küche sprachen die Eltern noch eine Weile mit dem Lehrer und dankten ihm herzlich für die freudige Überraschung.
Kätheli sass aufrecht in seinem Bettchen. Es war überglücklich. Vor ihm lagen all die vielen schönen Päcklein, die es nun öffnen durfte.
Und wie machte es grosse Augen, als es sah, was da alles zum Vorschein kam: ein Lebkuchen, Schokolade, ein Bilder- und ein Märchenbuch, warme Handschuhe, eine geblümte Schürze, Nüsse und rotbackige Äpfel, Orangen und ein Bildchen mit dem Jesuskindlein.
Nun verabschiedete sich auch der Lehrer und trat ins Schneetreiben hinaus, wo die Schüler geduldig auf ihn warteten. Vor Käthelis Stubenfenster besammelte er sie noch einmal, und dann tönte es hell und klar durch die kalte Winternacht:

«Es ist ein Ros’ entsprungen
aus einer Wurzel zart – – »

Auf dem Heimweg wurde wenig geredet. Still und ernst stapften die Kinder durch den tiefen Schnee. Im Innersten ahnten wohl alle, dass Kätheli nie mehr gesund werde.
An diesem Abend haben die Schulkinder von Hasenried erlebt und gespürt, dass Freud und Leid im Leben oft dicht beieinander sind.    •

1    Die Bändchen können beim Sohn des Autors (den Lesern von Zeit-Fragen aus seinen vielfältigen Beiträgen bekannt) bezogen werden: Heini Hofmann, Hohlweg 11, 8645 Jona (Tel: 055 210 82 50 / Fax: 055 210 82 64). 

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK