Mit Niedriglöhnern auf Wachstumskurs

Mit Niedriglöhnern auf Wachstumskurs

von Udo Bongartz*

Lettland gilt in der EU als Musterschüler, der den Südeuropäern zeigt, wie man Krisen bewältigt. Die Einsparungen im Staatshaushalt fehlen jedoch im Sozialbereich, und lettische Arbeitnehmer suchen ihr Glück lieber im Ausland.

Der Bahnhof von Liepaja könnte als Kulisse von Dürrenmatts «Güllen» durchgehen. Auch das hatte mal bessere Zeiten erlebt, bevor die alte Dame ankam. Die rachsüchtige Milliardärin musste die Notbremse ziehen, um aus dem Zug zu steigen. Hier, in der westlettischen Hafenstadt, ist ohnehin Endstation. Der historistische Bau scheint zu gross geraten. Nur noch zweimal die Woche fährt ein Passagierzug nach Riga. Der Verkehr hat sich auf denVorplatz verlagert, den Bahnhof in einen Busbahnhof verwandelt.Von hier aus fahren moderne Reisebusse in die Hauptstadt.

Offiziell zählt Liepaja knapp 76 000 Einwohner – Schätzungen deuten auf weniger. 1989 waren es noch 115 000, die im Kriegshafenviertel stationierten Sowjetsoldaten mitgerechnet. Nach deren Abzug ging die Bevölkerung weiter zurück. Liepaja liesse sich heute als kleinste Grossstadt der Welt vermarkten.Von allem Grossstädtischen hat es noch ein bisschen. Die Strassenbahn besteht aus einer einzigen Linie. Ihre schmalen Gleise durchziehen die Innenstadt vom Stahlwerk, dem die Pleite droht, bis an den Ostseestrand. Als Lettland von Moskau aus regiert wurde, war Liepaja für Touristen gesperrt. Nun ist die Stadt wieder weltoffen, bietet dem Besucher ein reizvolles Gemisch aus dunkelfarbenen Holzhäusern und alten Steinfassaden. Aber die Pracht zerfällt. Das Schild «Pardod» – zum Verkauf – klebt an vernagelten Fenstern. Am Stadtrand konturieren die grossen leeren Werkshallen aus sowjetischer Zeit den Horizont.

Pfarrer Martinš Urdze und sein Team kümmern sich um sozial Benachteiligte, Erwerbslose und Invalide. Auf die Frage, was Armut in Lettland bedeute, lädt mich der Leiter des Diakonischen Zentrums von Liepaja ins Altstadthaus der Diakonie ein, wo er einen Zufluchtsort für die Verlierer der lettischen Erfolgsgeschichte geschaffen hat.

Tiefes Lohnniveau

Eine steile Treppe führt im dunklen Flur zur ersten Etage, wo die Räume in hellen Farben renoviert sind. Das Versammlungszimmer wirkt wie eine Wohnstube, mit Pflanzen und einem alten Sofa. Der Kaminvorsprung wärmt, hier wird noch mit Holz geheizt. Neben dem kleinen Luther-Porträt hängt das Kreuz an der Wand. Hier treffen wir fünf Sonntagslehrerinnen. Die Frauen sind solide ausgebildet, arbeiten als Kindergärtnerin, wissenschaftliche Assistentin, Lebensmittelkontrolleurin oder Druckereiangestellte. In anderen Ländern ermöglichen solche Berufe ein gutes Auskommen. Der lettische Staat hält seine Angestellten jedoch knapp. Die Frauen benötigen mehrere Arbeitsstellen, um ihre Familien zu versorgen.

Die Druckereiangestellte Ilze arbeitete bis vor kurzem in einem privaten Unternehmen. Jetzt wurde sie entlassen, weil die Russ-land-Krise auch hierzulande Arbeitsplätze kostet. Neun Monate lang erhält sie Arbeitslosengeld. Wenn sie keine neue Stelle findet, müssen danach die Angehörigen einspringen. Trotz eigener Probleme kümmern sich die Frauen jeden Sonntag um etwa 40 Kinder. Die 14- bis 16jährigen kommen aus den umliegenden Quartieren. Hier spielen, basteln, lernen und essen sie zusammen. Die Speisen locken, die Sonntagslehrerin Ingrida zubereitet. Nein, Hunger leiden die Kinder nicht, doch hier essen sie besonders gern. Zuhause haben die Eltern oft keine Zeit, viele kommen trotz mehrerer Jobs kaum über die Runden.

Der Anteil der Geringverdiener unter den Beschäftigten ist in Lettland höher als sonstwo in der EU. Etwa ein Viertel der Arbeitnehmer erzielt nur den monatlichen Mindestlohn, den die Regierung Anfang Jahr auf 360 Euro brutto erhöht hatte.

Damit lässt sich keine Familie durchbringen. Nach Jahren der Inflation hat sich das lettische Preisniveau jenem westlicher Länder angenähert.Viele Kinder kennen nur billige Fertiggerichte. Andere, deren Eltern im westlichen Ausland arbeiten, leben bei Grossmüttern, die mit der Rund-um-die-Uhr-Betreuung überfordert sind.

Bescheidene Sozialleistungen

Die Diakonie kümmert sich auch um Menschen, die als Folge einer Behinderung ihr Leben mit geringem Einkommen gestalten müssen. Sie treffen sich täglich im Zentrum, wo sie für das hauseigene Domino-Geschäft Geschenke herstellen oder einfach gemeinsam die Zeit verbringen. Bei einer Frühstücksrunde im kleinen Saal des Parterres berichten Erwerbslose und Invalide bereitwillig über ihre Lage. Der Mangel an fair bezahlter Arbeit ist ihr Hauptproblem. Sie schlagen sich mit Saisonarbeit durch und sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Die Sozialämter sichern das Überleben, doch ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen sie nicht. Janis, ein schlanker, drahtiger Mittdreissiger, konnte als Kochgehilfe keine dauerhafte Stelle finden, eine Teilinvalidität kam hinzu. Nun lebt er in einem Wohnheim, das die Stadt Liepaja finanziert. Er bezieht sein monatliches Einkommen von 128 Euro vom Staat. Davon muss er seine Lebenshaltung bestreiten. An Auto, Urlaub, eine Wohnung oder gar an die Gründung einer Familie ist nicht zu denken. Abwechslung bieten nur die gelegentlichen Ausflüge mit der Diakonie oder kostenlose Veranstaltungen, die die Stadt Liepaja für mittellose Bürger organisiert.

Schwierige Entscheide

Zigrida schleppt sich mit einer Krücke zum Stuhl. Ihr wurden 100 Prozent Invalidität bescheinigt, daher ist sie teilweise von den Arztgebühren befreit. Doch die Zuzahlungen bei Praxisbesuchen und für Medikamente belasten ihr monatliches 450-Euro-Budget, mit dem sie auch ihren Kindern und Enkeln hilft, durchs Leben zu kommen. In Lettland ist die medizinische Grundversorgung gewährleistet, in akuten Notfällen behandeln auch die Chirurgen auf Staatskosten. Doch vieles, was medizinisch notwendig ist, muss aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Patienten mit geringem Einkommen sind mit den Selbstbeteiligungen schnell überfordert und meiden deshalb kostenpflichtige Arztbesuche. Die Runde berichtet von Fällen, in denen sich Rentner mit ihrem kargen Einkommen entscheiden müssen, ob sie sich Lebensmittel im Supermarkt oder Medikamente in der Apotheke kaufen.

Am Nachmittag bringt mich Martinš mit seinem Kleinwagen ins 40 Kilometer landeinwärts gelegene Aizpute. Der beschauliche Ort liegt zwischen Wiesen und Wäldern. Kaum ein Mensch ist auf der Strasse zu sehen, hier und da arbeitet jemand im Garten. Es ist totenstill. Den Platz, wo nur selten ein Bus hält, mag man nicht als Busbahnhof bezeichnen.Vom ehemaligen Schutzdach für die Wartenden ragen nur noch massive Betonpfeiler zwecklos in den Himmel. Auf einem Privatgelände stehen Baufahrzeuge. Der Strassenbau bietet einige Arbeitsplätze.

Wir halten vor einem einstöckigen Landhaus. Die Holzfassade ist neu, unter dem Dach fehlen noch die letzten Planken. Die 30jährige Margita begrüsst uns. Sie haust zwischen notdürftig getünchten Wänden und abgenutzten Möbeln. Ihre beiden Kinder sind in der Schule. Vor drei Jahren war sie voller Zuversicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie hoffte, das Leben in der Fremde wäre vorübergehend gewesen, und sie könne mit dem gesparten Geld einen Neubeginn wagen. Ihr Mann arbeitet im britischen Peterborough und schickt Geld. Denn von den 33 Euro Kindergeld, die ihr die Kommune Aizpute monatlich gewährt, kann Margita nicht leben. Sie hatte schon manche Stelle als Verkäuferin, Kassiererin oder Bürokraft. Doch jetzt scheint ihre Lage aussichtslos. Als Rückkehrerin hat sie es besonders schwer, sie wird als Fremde betrachtet. Wer einen Job will, braucht Beziehungen. Eigentlich ist die junge Frau ein Landkind, sie hasst die Hektik der Grossstadt. Doch nun erwägt sie, wieder zu ihrem Mann nach Peterborough zu ziehen, wo bereits viele Letten leben. Die Abwanderung hält an, Lettlands Einwohnerzahl unterschritt 2015 die Zweimillionengrenze.

Keine Perspektiven

Auf internationalem Parkett brilliert die lettische Regierung mit Erfolgszahlen. Nach der schweren Rezession von 2009 befindet sich das Land wieder auf Wachstumskurs. Doch die schönen Wirtschaftsdaten ändern nichts an der Perspektivlosigkeit. Die von der Regierung propagierte Erfolgsgeschichte kommt bei den Erwerbslosen wie Satire an. Die Diakonie-Runde drehte ein Video, darin zitiert sie Minister, die Lettlands relative Armut als Luxusproblem abtun: Nicht jeder könne zweimal im Jahr in Urlaub fahren. Karina, eine Mitarbeiterin der Diakonie, bedauert, dass ihre Landsleute zu brav seien. Den Letten fehle der Protestgeist der Griechen, sagt sie.           •

* Udo Bongartz ist Gastlektor an der Lettischen Kulturakademie in Riga und Redaktor beim Online-Magazin Lettische Presseschau.

Quelle: Eine Welt, Nr.3/2015, DEZA (Die Zeitschrift der DEZA kann kostenlos abonniert werden.)

Lettland in Kürze

Name

Lettland

Hauptstadt

Riga

Fläche

64 573 km2

Einwohner

1,995 Millionen

Sprachen

Lettisch (Amtssprache) 53%
Russisch 34%
Andere 13%

Lebenserwartung

Frauen 79 Jahre

Männer 68 Jahre

Migration

2,3 Auswanderer auf

1000 Personen (2014)

Wirtschaft

Lettlands Wirtschaft ist in hohem Masse exportorientiert – wichtigste Sektoren sind Holz- und Landwirtschaft, Nahrungsmittelproduktion, Maschinen- und High-Tech-Industrie, Elektroindustrie.

Armut

Die Arbeitslosenquote betrug Ende 2014 gut 10%, sie liegt damit leicht unter dem EU-Durchschnitt. Allerdings hatte Lettland 2010 mit knapp 28% den EU-weit höchsten Anteil an Niedriglöhnern unter den Beschäftigten; trotz Wirtschaftswachstum ist über ein Drittel der lettischen Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

Das Baltikum

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen liegen an der Ostsee und grenzen an Russ-land, Weissrussland und Polen. Im August 1989 demonstrierten die Baltinnen und Balten mit einer 600 Kilometer langen Menschenkette für die Unabhängigkeit ihrer Länder, die sie im Frühjahr 1990 – gegen den Widerstand Moskaus – erlangten. In der Folge erlebten die drei Kleinstaaten einen rapiden Aufschwung. 2004 traten sie der EU und der Nato bei. Im Zug der Finanzkrise erfolgte ein heftiger wirtschaftlicher Einbruch. Lettland stürzte in die EU-weit tiefste Rezession, von der sich das Land nur langsam erholte. 2014 führten Lettland und Estland den Euro ein, Litauen folgte 2015.

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