Interview mit Bundesrat Didier Burkhalter in Radio SRF, Samstagsrundschau vom 20.2.2016, Moderation: Géraldine Eicher (Auszüge)
mw. Was die Schweiz dazu befähigt, ihre Guten Dienste auf der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen, wenn sie benötigt werden – und sie werden heute immer dringender benötigt – ist ihre Neutralität, ihre Unparteilichkeit, ihre Glaubwürdigkeit. Auf dieser Grundlage erklärt Bundesrat Didier Burkhalter, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), in der Samstagsrundschau vom 20. Februar 2016 auf eindrückliche Weise die humanitären und diplomatischen Aufgaben der Schweiz auf der Welt.
Beim Zuhören erinnert man sich mit grossem Befremden an die Nato-Konferenz in Zürich, zu der die Schweiz nur wenige Tage vorher, vom 16. bis 17. Februar, als Gastgeberin eingeladen hat. Offiziere aus über 40 Staaten kamen hier zusammen, um «über die zukünftige Zusammenarbeit im Rahmen des veränderten Sicherheitsumfeldes» zu diskutieren und diese «allenfalls anzupassen». – «Gleichzeitig dient das Treffen auch als Festakt für das 20jährige Jubiläum der Schweizer Beteiligung an der Partnerschaft für den Frieden.» (Medienmitteilung des Bundes vom 16.2.2016)
Wie passt das zusammen? Wie kann die Schweiz ihre seit alters her übernommene Aufgabe in der Welt als neutrale und unparteiliche Vermittlerin und später als Sitz des IKRK und als Depositarstaat der Genfer Konventionen glaubwürdig wahrnehmen, wenn sie sich gleichzeitig faktisch an die Nato anbindet, an dasjenige militärische Bündnis, das seit 1999 zum Angriffskriegsbündnis mutiert ist?
Als Schweizerbürger, und ganz besonders für alle Menschen in den Kriegs- und Krisenländern dieser Welt, verpflichten wir den Bundesrat auf die Tradition der Guten Dienste, die Didier Burkhalter in so berührenden Worten dargelegt hat. Wir verpflichten ihn auch auf die immerwährende bewaffnete Neutralität, die unabdingbar verbunden ist mit einer glaubwürdigen eigenständigen Verteidigung unseres Landes. Diese Aufträge unserer Geschichte und unserer Bundesverfassung zu erfüllen steht der Schweiz weit besser an, als in einem Kriegsbündnis der «Grossen» dabeisein zu wollen.
Radio SRF (nach der Begrüssung und einigen allgemeinen Vorbemerkungen): Sie vermitteln also in Saudi-Arabien?
Bundesrat Didier Burkhalter: Wir machen keine Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien. Wir haben die Interessenvertretung zwischen zwei Ländern übernommen, zwei Grossmächten in der Region, die ihre diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben. Das ist gefährlich. Es ist schon vieles gefährlich im Mittleren Osten. Wenn es dazu noch keinen Dialog mehr gibt zwischen den verschiedenen Akteuren, dann wird es wirklich gefährlich. Darum trägt die Schweiz etwas bei, das einen Einfluss haben kann. Eigentlich können wir darauf stolz sein.
Hat das denn wirklich Einfluss? Hat die Schweiz wirklich eine aktive Rolle, oder ist sie viel eher Postbotin zwischen Saudi-Arabien und Iran? […]
Aber eine gute Postbotin ist eine Akteurin! […] Wenn die Botschaft sehr wichtig ist, weil es brennt, sind Sie auch froh um die Postbotin. Diese braucht es, damit ein Kommunikationskanal gesichert wird. Dass die Werte einer starken Diplomatie verteidigt und auch konkret umgesetzt werden, ist von grosser Bedeutung. Das können wir, wir Schweizer. Wir können nicht alles, man muss immer bescheiden sein, aber wir können auch stolz sein.
Die Entwicklungshilfe, die die Schweiz leistet, wächst langsamer als ursprünglich angedacht wurde, andererseits verstärkt die Schweiz die Nothilfe, die humanitäre Hilfe, zum Beispiel in Syrien. Das heisst, man reagiert mehr, als dass man agiert?
Wir machen beides. In dem Kreditrahmen, den wir für die nächsten vier Jahre haben, leisten wir humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe. Für die Entwicklungshilfe, also die dauerhafte Hilfe, mit der wir versuchen, die Ursachen möglicher Krisen zu vermeiden, werden etwa 60 Prozent der Mittel eingesetzt. Daneben müssen wir leider in den nächsten Jahren viel tun für die humanitäre Hilfe. […] Wenn man in einem Flüchtlingslager ist, in Jordanien oder Libanon, während der Syrien-Krise – ich habe in Jordanien ein Lager besucht, dort war zum Beispiel eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern, das erste wurde in Syrien während des Krieges geboren, das zweite im Lager. Sie werden jahrelang dort leben. Dann braucht es nicht nur humanitäre Hilfe als Basis, sondern auch Entwicklungshilfe, zum Beispiel Schulen für die Kinder. Man kann also nicht einfach sagen, es wird zu viel oder zu wenig humanitäre Hilfe oder Entwicklungshilfe geleistet. Es braucht beides zusammen. Auch die Anstrengungen für den Frieden sind sehr wichtig, sie gehören auch dazu. Die Schweiz tut eigentlich viel für mehr Frieden und weniger Armut.
Das aktuelle Problem, das Europa zurzeit beschäftigt, sind die Flüchtlingsströme. Hilft denn Entwicklungshilfe wirklich, diese Flüchtlingsströme zu reduzieren?
Wir haben pro Jahr – wenn das Parlament zustimmt – etwa 2,5 bis 2,7 Milliarden Franken. Und jedes Jahr werden wir einen Franken von sechs direkt oder indirekt in Migrationsprojekte investieren. Direkt: das heisst, für den Schutz der Migranten vor Ort. Wenn wir die Flüchtlinge aus Syrien vor Ort gut schützen, dann werden sie nicht nach Europa gehen wollen. Und indirekt: das heisst, wir müssen vorher investieren, bevor es Gründe für eine unfreiwillige Migration gibt, so dass die Menschen dort, wo sie leben, Perspektiven haben.
Das heisst, man müsste eigentlich Entwicklungshilfe auch aus Egoismus leisten, nicht nur aus dem Gefühl der menschlichen Pflicht? […]
Ich erlebe das nicht so. Als ich zum Beispiel in der Region um Syrien war, habe ich mit Leuten in den Flüchtlingslagern gesprochen, habe sie gefragt, was sie möchten. Fast alle haben gesagt: Wir möchten dorthin zurück, wo wir gewohnt haben. Und ich glaube, das ist auch normal. Wenn Sie selbst das erlebt hätten: Möchten Sie wirklich emigrieren? Die meisten wollen einfach zurück nach Hause. Es ist sehr schwierig für diese Menschen, weil sie seit Jahren gedacht haben, eine Rückkehr sei möglich. Deshalb sind sie in der Region geblieben. Und dann plötzlich ist die Hoffnung gestorben. Jetzt sagen viele junge Leute, aber auch Familien: Unsere Zukunft ist nicht mehr dort, wo wir herkommen. Jetzt müssen wir weg, nach Europa, wo es eine Perspektive gibt. Deshalb glaube ich: Es ist nicht egoistisch, den Leuten mehr Möglichkeiten zu geben, damit sie vor Ort bleiben und wieder nach Hause zurückkehren können.
Die Flüchtlingsströme beschäftigen uns seit Monaten. Machen wir eine kurze Tour d’horizon durch diese Woche. Europa macht die Grenzen immer dichter. […] Was kommt auf die Schweiz zu?
Was auf die Schweiz zukommt, darauf haben wir uns schon vorbereitet. Wir wissen schon lange, dass die Situation sich verschlimmern kann. Wenn die Krise in Syrien, die Krise im Jemen, die Krise in Libyen, die noch immer sehr gefährlich sein können, nicht gelöst werden, wenn sie nicht politisch gelöst werden, dann wird es weiter Probleme mit der Migration geben. Es braucht eine politische Lösung. Dazu gehört ein Dialog mit allen, so dass es wieder möglich ist, ein Land aufzubauen in dieser Region, einen Staat aufzubauen, einen dauerhaften Rechtsstaat. Wir in der Schweiz haben nationale Lösungen [für eine zunehmende Zahl von Migranten]. Lösungen, die jetzt in Deutschland oder Schweden diskutiert werden in bezug auf eine gesetzliche Regelung, haben wir schon in unseren Gesetzen. Ich hoffe, das neue Asylgesetz wird von der Bevölkerung angenommen – in der Referendumsabstimmung. [Das Referendum gegen die Änderung des Asylgesetzes vom 25.9.2015 ist zustandegekommen; das Schweizervolk wird am 5. Juni 2016 darüber abstimmen.] Auch auf die Gefahr, dass es Routen durch die Schweiz geben könnte, sind wir vorbereitet. Wir befassen uns im Bundesrat jeden Tag, jede Woche mit den aktuellen Informationen und unserem Standpunkt dazu. Zurzeit haben wir alles unter Kontrolle, aber wir wissen, dass es gefährlich und schwierig sein kann. […] Der Bundesrat und die Kantone sind gemeinsam zuständig für diese Probleme und arbeiten gut zusammen. Wenn es schwieriger wird, werden wir die Beschlüsse, die nötig sind, dann treffen.
Die Aussenpolitik ist generell von Instabilität geprägt, selbst die EU könnte zerfallen. Fürchten Sie dies, oder glauben Sie fest an Angela Merkels Aussage «Wir schaffen das»?
Ich glaube vor allem fest an die Schweiz. Ich habe grossen Respekt gegenüber Frau Merkel. Aber die Frage für den Bundesrat ist nicht, ob wir etwas fürchten für die EU oder ob wir jemanden gern oder nicht gern haben. Für uns sind die Interessen und Werte der Schweiz wichtig. Wir leben auf einem Kontinent, Europa, und wir sind sehr wichtig auf diesem Kontinent, obwohl wir nicht ein so grosses Land sind. Dieses Jahr werden wir zum Beispiel den Gotthardtunnel eröffnen [gemeint ist der Gotthard-Basistunnel, ein 57 km langer Eisenbahntunnel], dann sieht man ganz konkret, wie wichtig die Schweiz auf diesem Kontinent ist. In dieser Richtung wollen wir weiter schreiten. Bei den verschiedenen Problemen der Sicherheit und der Migration arbeiten wir sehr praktisch und konstruktiv.
Kürzlich hat Russlands Premier Medwedew gesagt, die Welt befinde sich in einem neuen Kalten Krieg. Hat er etwas mit dem Gefühl der Unsicherheit gespielt, oder ist das vielleicht schon eine Drohung?
Ich glaube, es gibt eine Spannung, die schon in den letzten zehn Jahren grösser wurde – es wurde vielleicht nicht bemerkt, oder man wollte es nicht bemerken – zwischen Russland und Europa, oder dem «Westen», zwischen Russland und den Nato-Ländern und Nato-Projekten. Sagen wir es einmal so. Das ist gefährlich. Die Schweiz hat immer gesagt: Ohne beurteilen zu wollen, wer recht oder nicht recht hat, ist es sehr wichtig, einen Dialog aufrechtzuerhalten zwischen Russland und den westlichen Ländern. Diesen Dialog werden wir auch in den nächsten Jahren weiterführen, so wie wir ihn begonnen haben, als wir in der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) Leaderfunktion hatten. Denn wir glauben, die Zukunft der Sicherheit in Europa, das heisst, auch unsere Zukunft, hängt von dieser Frage ab: Können wir Europa noch als gemeinsames Projekt der Sicherheit sehen? Wenn ja, dann müssen wir es zusammen angehen.
Welche Rolle spielt da künftig die Schweiz? Sie war früher einmal Vermittlerin in verschiedenen Konflikten, und spätestens als das Tauwetter zwischen Kuba und den USA entstand, hatte man den Eindruck, diese Rolle ist gar nicht mehr nötig. War das ein Trugschluss?
In bezug auf Mediationen erhalten wir Anfragen von überall in der Welt. Auch für Fazilitationen1 und Interessenvertretungen werden wir jetzt wieder etwas mehr angefragt, neben Saudi-Arabien und Iran haben wir noch einige andere Anfragen. Auf Grund der zunehmenden Spannungen zwischen vielen Akteuren werden die Guten Dienste der Schweiz in der nächsten Zeit eher noch mehr beansprucht werden, auch in der Form von Fazilitationen und Mediationen.
[…] Spüren Sie da vielleicht sogar eine Erwartungshaltung der internationalen Gemeinschaft? Dass sie erwartet, dass die Schweiz sich aktiver einbringt?
Ja, das habe ich erlebt, vor allem seit dem OSZE-Präsidium [Die Schweiz führte 2014 das OSZE-Präsidium] erlebe ich das fast täglich. Meine SMS kommen jetzt fast aus der ganzen Welt, oft sind sie sehr wichtig. Sie zeigen: Es besteht ein Interesse für eine Partnerin, die Schweiz, die fast … ja, einzigartig ist. Das Spezifische der Schweiz ist die Neutralität, vor allem eine Unparteilichkeit, die glaubwürdig ist, weil die Schweiz während sehr langer Zeit klar gezeigt hat, wie sie irgendwie Brücken bauen kann, wenn das sonst niemand mehr schafft. Es ist sehr wichtig, dass wir das weiterführen, ich glaube, es ist die Tradition der Schweiz. Wissen Sie, wenn die Leute auf der Strasse mit mir sprechen, sagen viele – und sie kommen von allen politischen Strömungen oder sozialen Schichten – sie glauben einfach: die Schweiz, das ist der Friede. Mit der Schweiz kann man etwas tun in Richtung Frieden. Und das gehört zu allen Schweizern, es ist nicht nur eine Aufgabe der offiziellen Schweiz, sondern irgendwie eine «genetische» Aufgabe der Schweizer. •
Quelle: Radio SRF, Samstagsrundschau vom 20. Februar 2016; Moderation: Géraldine Eicher
1 «Fazilitation ist auch ein Instrument der Guten Dienste und bedeutet, dass in einem Verhandlungsprozess logistische oder gastgeberische Aufgaben übernommen werden. Als Fazilitatorin stellt die Schweiz passende Räumlichkeiten zu Verfügung und garantiert ein sicheres Umfeld, ist aber weder in die Prozessgestaltung noch inhaltlich in die Verhandlungen involviert.» <link https: www.eda.admin.ch>www.eda.admin.ch
Die Schweiz verhandelt seit drei Jahren direkt mit der Regierung von Syriens Präsident Baschar al-Assad über humanitäre Belange. Dieser Zugang zum Regime sei einzigartig, sagte Yves Rossier, Staatssekretär im Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
«Wir sind die einzigen», sagte Rossier gegenüber der Sendung «HeuteMorgen» auf Radio SRF. Gleichzeitig werde das Engagement der Schweiz «von den anderen Seiten sehr geschätzt». Vor jedem dieser diplomatischen Treffen mache man zusammen mit den grossen internationalen Hilfsorganisationen «sozusagen eine Shopping-Liste».
Die syrische Regierung sei sehr misstrauisch gewesen gegenüber diesen Diskussionen, sagte der Schweizer Chefdiplomat. «Es brauchte Zeit. Während des ersten Jahres war es sehr, sehr schwierig.»
In den humanitären Bemühungen gehe es um «lauter konkrete Arbeitsverbesserungen». So habe man etwa deutlich mehr Visa für humanitäres Personal in Syrien und leichtere Abfertigung über die Checkpoints erreichen können.
Die Schweiz wolle diese Verbindung «möglichst nicht politisch halten», betonte Rossier. «Die Vertrauensbeziehung mit dem humanitären Arm der syrischen Regierung ist wichtig.»
Quelle: sda vom 9.2.2016
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