Die Geschichte ist dabei, sich zu wiederholen

Die Geschichte ist dabei, sich zu wiederholen

Europas Kniefall gegenüber der Türkei

von Thierry Meyssan

Mit der Unterzeichnung des Abkommens mit der Türkei zur Drosselung des Flüchtlingsstroms – was nach dem Völkerrecht im übrigen gesetzeswidrig ist – hat die Führung der Europäischen Union sich noch ein biss­chen mehr auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen. Ein grosser Teil der drei Milliarden Euro jährlich, die Ankara bewilligt wurden, wird der Unterstützung der Dschihadisten dienen und folglich die Zahl der Migranten, die vor dem Krieg flüchten, vermehren. Vor allem führen die Europäer durch die Abschaffung der Visa mit der Türkei in den nächsten Monaten den freien Verkehr zwischen den al-Kaida-Lagern in der Türkei und in Brüssel ein. Durch die Zerschlagung der irakischen und syrischen Völker unter dem Druck der Dschihadisten, die sie indirekt finanzieren, und durch die Preisgabe des türkischen Volkes an die Diktatur des Präsidenten Erdogan bereiten sie das Fundament für eine sehr weitreichende Konfrontation vor, deren Opfer sie selbst sein werden.

Der Europäische Rat hat am 17. und 18. März 2016 einem Plan zugestimmt, der das Problem des massiven Zustroms von Flüchtlingen aus der Türkei lösen soll.1 Die 28 Staats- und Regierungschefs haben sich allen Forderungen Ankaras gefügt.
Wir hatten bereits analysiert, wie die Vereinigten Staaten es schaffen, die Ereignisse im Nahen Osten zur Schwächung der Europäischen Union zu benutzen.2 Zu Beginn der aktuellen «Flüchtlingskrise» waren wir die ersten, die beobachteten, dass dieses Ereignis bewusst ausgelöst worden war, und gleichzeitig, dass es unlösbare Probleme stellen würde.3 Unglücklicherweise haben sich alle unsere Analysen bestätigt, unsere Positionen wurden seither weitgehend von unseren Kritikern von damals übernommen.
Wenn wir jetzt einen Schritt weitergehen, untersuchen wir den Weg, auf dem die Türkei das Spiel an sich gezogen hat, und die Blindheit der Europäischen Union, die ständig einen Zug im Rückstand ist.

Recep Tayyip Erdogans Spiel

Präsident Erdogan ist kein Politiker wie die anderen. Und es sieht nicht so aus, als ob die Europäer, weder die Völker noch deren Führung, sich dessen bewusst sind.
Erstens hat er seine Wurzeln in Millî Görüs, einer pantürkischen islamischen Bewegung, die mit den ägyptischen Muslimbrüdern verbunden ist und die Einrichtung des Kalifats befürwortet.4 Nach seiner Meinung – wie übrigens auch der seiner Verbündeten der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) – sind die Türken Nachfahren der Hunnen Attilas und diese wiederum Kinder des zentralasiatischen Steppenwolfes, mit dem sie die Ausdauer und Gefühllosigkeit gemeinsam haben. Sie bilden eine überlegene Rasse, die dazu berufen ist, die Welt zu beherrschen. Ihre Seele ist der Islam.
Präsident Erdogan ist weltweit der einzige Staatschef, der sich auf eine Ideologie der ethnischen Überlegenheit beruft, die mit dem Ariertum der Nazis vollständig vergleichbar ist. Er ist gleichzeitig weltweit der einzige Staatschef, der die historischen Verbrechen seines Landes leugnet, insbesondere die Massaker an den Nichtmuslimen durch Sultan Abdülhamid II. (bei den Hamidischen Massakern 1894–1895 wurden mindestens 80 000 Christen getötet und 100 000 Christinnen in die Harems gezwungen), dann durch die Jungtürken (mindestens 1 200 000 Tote durch den Völkermord an den Armeniern, den Assyrern, den Chaldäern, den Syriaken, den Pontosgriechen und den Jesiden zwischen 1915 und 1923); dieser Völkermord wurde mit Hilfe deutscher Offiziere durchgeführt, darunter Rudolf Höss, der spätere Leiter des Konzentrationslagers Auschwitz.5
Bei der Feier des 70. Jahrestags der Befreiung vom nazistischen Alptraum betonte Präsident Wladimir Putin, dass «die Konzepte der rassischen Überlegenheit und des Exklusivismus [Elitedenkens] den blutigsten Krieg der Geschichte ausgelöst haben».6 Bei einem Marsch rief er dann – ohne die Türkei zu nennen – die Russen dazu auf, zur Erneuerung des Opfers ihrer Grosseltern bereit zu sein, falls dies notwendig würde, um den Grundsatz der Gleichheit zwischen den Menschen zu bewahren.
Zweitens beherrscht Präsident Erdogan, der nur durch ein Drittel seiner Bevölkerung unterstützt wird, sein Land nur durch Zwang. Es ist nicht möglich, die Meinung des türkischen Volkes genau zu erfahren, weil die Veröffentlichung aller Information, die die Legitimität des Präsidenten Erdogan in Frage stellen, ab nun als Gefährdung der Staatssicherheit gewertet wird und sofort ins Gefängnis führt. Wenn man sich auf die letzten, im Oktober 2015 veröffentlichten Studien bezieht, unterstützt ihn hingegen weniger als ein Drittel der Wählerschaft. Das sind deutlich weniger als 1933 bei den Nazis, die damals 43 Prozent der Stimmen erhielten. Ein Grund dafür, dass Präsident Erdogan die Parlamentswahlen nur durch grobe Fälschung gewinnen konnte. Ausserdem:

  • Die oppositionellen Medien wurden mundtot gemacht: Die grossen Tageszeitungen «Hürriyet» und «Sabah» wie auch der Fernsehsender ATV wurden von Handlangern der Regierungsmacht angegriffen; die Ermittlungen zielten darauf ab, Journalisten und Presseorgane wegen Unterstützung des «Terrorismus» anzuklagen oder dafür, diffamierende Äusserungen über Präsident Erdogan gemacht zu haben; Webseiten werden blockiert; zahlreiche Dienstanbieter haben ihr Angebot oppositioneller Fernsehkanäle gestrichen; drei der fünf nationalen Fernsehkanäle inklusive des öffentlich-rechtlichen haben in ihren Sendungen deutlich die Regierungspartei begünstigt; die übrigen nationalen Fernsehkanäle, Bugün TV und Kanaltürk, wurden von der Polizei geschlossen.
  • Saudi-Arabien, ein ausländischer Staat, hat sieben Milliarden Bücher als «Spende» ausgeschüttet, um die Wähler davon zu «überzeugen», Präsident Erdogan zu unterstützen (das beläuft sich auf ungefähr zwei Milliarden Euro).
  • 128 politische Zweigstellen der Partei der Linken (HDP) wurden von Handlangern der Partei Präsident Erdogans angegriffen. Zahlreiche Kandidaten und ihre Teams wurden verprügelt. Mehr als 300 kurdische Geschäfte wurden ausgeplündert. Dutzende von HDP-Kandidaten wurden verhaftet und für die Zeit des Wahlkampfs in Untersuchungshaft genommen.
  • Mehr als 2000 Gegner wurden während des Wahlkampfes getötet, entweder durch Attentate oder auf Grund der Strafmass­nahmen gegen die PKK. Mehrere Dörfer im Südosten des Landes wurden durch Panzer der Streitkräfte teilweise zerstört.

Seit Erdogans «Wahl» hat sich eine Decke aus Blei über das Land gelegt. Es ist unmöglich geworden, sich durch die nationale Presse über den türkischen Staat zu informieren. Die wichtigste oppositionelle Tageszeitung «Zaman» wurde unter Aufsicht gestellt und beschränkt sich seitdem darauf, die Grösse von «Sultan» Erdogan zu rühmen. Der Bürgerkrieg, der bereits im Osten des Landes wütet, dehnt sich – bei vollständiger Gleichgültigkeit der Europäer – durch die Attentate bis nach Ankara und bis nach Istanbul aus.7
Umgeben von einer eng begrenzten Gruppe mit dem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu herrscht Erdogan fast allein. Während seines Wahlkampfs hat er öffentlich erklärt, er werde die Verfassung nicht einhalten, und alle Machtbefugnisse würden nun an ihn fallen.
Am 14. März 2016 hat Präsident Erdogan mit Bezug auf die Kurden erklärt: «Die Demokratie, die Freiheit und der Rechtsstaat haben nicht mehr die geringste Bedeutung.» Er hat seine Absicht angekündigt, die rechtliche Definition von «Terroristen» zu erweitern, um diejenigen darunter fassen zu können, die «Feinde der Türken» sind – gemeint sind die Türken und die Nichttürken, die sich seiner Vorherrschaft widersetzen.
Drittens nutzt Präsident Erdogan die Machtbefugnisse, die er sich im Widerspruch zur Verfassung genehmigt hat, um den türkischen Staat in einen Paten für den internationalen Dschihadismus zu verwandeln. Im Dezember 2015 konnten die Polizei und die türkische Justiz die persönlichen Beziehungen von Erdogan und seinem Sohn Bilal zu Yasin al-Qadi, dem globalen Bankier von al-Kaida, ermitteln. Er hat dann die Polizisten und die Staatsanwälte, die gewagt hatten, «den Interessen der Türkei Schaden zuzufügen» (sic), kaltgestellt, während Yasin al-Qadi und der Staat einen Prozess gegen die linke Tageszeitung «BirGün» anstrengten, weil sie meinen Leitartikel «Al-Kaida, die ewige Hilfstruppe der Nato» abgedruckt hatte.
Im letzten Februar lieferte die russische Föderation einen Geheimdienstbericht an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem die Unterstützung des internationalen Dschihadismus durch den türkischen Staat bei Verstoss gegen zahlreiche Resolutionen belegt wurde.8 Ich habe eine genaue Studie dieser Anschuldigungen veröffentlicht, die ebenfalls sofort von der Türkei zensiert wurde.9

Die Antwort der Europäischen Union

Die Europäische Union hatte eine Abordnung geschickt, um die Parlamentswahlen vom November 2015 zu überwachen. Sie hat die Veröffentlichung ihres Berichts lange hinausgeschoben und sich dann entschlossen, eine kurze abgemilderte Version davon zu veröffentlichen.
In Panik versetzt durch die harten Reaktionen ihrer Bevölkerung auf den massiven Zustrom von Migranten – und für die Deutschen auf die Abschaffung der Mindestlöhne, die sich daraus ergab – haben die 28 Staatschefs und die Regierung der Union mit der Türkei ein Verfahren entwickelt, mit dem die Probleme gelöst werden sollen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, deckte sofort auf, dass die gewählte Lösung gegen das Völkerrecht verstösst, aber in der Annahme, dass die Dinge nachgebessert werden können, ist dies nicht das Hauptproblem.
Die Union hat sich verpflichtet,

  • 3 Milliarden Euro jährlich an die Türkei auszuzahlen, um ihr zu helfen, ihren Verpflichtungen nachzukommen, aber ohne Nachweissystem für die Verwendung dieser Mittel;
  • dem Visazwang für Türken, die in die EU einreisen wollen, ein Ende zu setzen10 – was nur eine Frage von mehreren Monaten, wenn nicht Wochen ist;
  • die Verhandlungen über den Anschluss der Türkei an die Union zu beschleunigen – das wird hingegen sehr viel länger dauern und unsicher sein.

Mit anderen Worten: Geblendet durch die kürzliche Wahlniederlage von Angela Merkel11 haben sich die europäischen Führer damit zufriedengegeben, eine vorübergehende Lösung zur Verlangsamung des Migrantenstroms zu finden, ohne nach einer Klärung des Ursprungs des Problems zu suchen und ohne das Eindringen von Dschihadisten mit diesem Strom zu berücksichtigen.

Das Beispiel von München

In den dreissiger Jahren betrachteten die europäischen und US-amerikanischen Eliten die UdSSR auf Grund ihrer Vorbildfunktion als Bedrohung für ihre Klasseninteressen. Daher unterstützten sie gemeinsam das nationalsozialistische Projekt der Kolonisierung Osteuropas und der Zerstörung der slawischen Völker. Trotz der wiederholten Aufrufe Moskaus zur Schaffung eines breiten Bündnisses gegen den Nationalsozialismus nahmen die europäischen Führer alle Forderungen des Kanzlers Hitler an, einschliess­lich der Annexion der von den Sudeten bevölkerten Gebiete. Dies waren die Verträge von München (1938), welche die UdSSR dazu brachten, Rette-sich-wer-kann zu praktizieren und ihrerseits den Deutsch-sowjetischen Pakt (1939) zu schliessen. Zu spät begriffen verschiedene europäische, dann US-amerikanische Führer ihren Irrtum und beschlossen, sich mit Moskau gegen die Nazis zu verbünden.
Vor unseren Augen wiederholen sich die gleichen Fehler. Die europäischen Eliten betrachten die Republik Syrien als Gegner, entweder weil sie den kolonialen Standpunkt Israels vertreten oder weil sie hoffen, selbst die Levante erneut zu kolonisieren und sich die riesigen noch nicht erschlossenen Gasvorkommen anzueigen. Deshalb haben sie die geheime US-amerikanische Operation des «Regimewechsels» unterstützt und vorgegeben, an das Märchen vom «arabischen Frühling» zu glauben. Nach fünfjährigem Stellvertreterkrieg und der Erkenntnis, dass Präsident Bashar al-Assad noch immer da ist, obwohl sein Rücktritt tausendmal angekündigt wurde, haben die Europäer beschlossen, in Höhe von drei Milliarden Euro jährlich die türkische Unterstützung für die Dschihadisten zu finanzieren. Was nach ihrer Logik zum Sieg führen dürfte, also die Migration beenden müsste. Sie werden bald, allerdings zu spät, begreifen,12 dass sie mit der Abschaffung der Visumpflicht für die türkischen Staatsangehörigen die Freizügigkeit zwischen den al-Kaida-Lagern in der Türkei und in Brüssel genehmigt haben.13
Der Vergleich mit dem Ende der dreissiger Jahre ist um so passender, als zur Zeit der Münchner Abkommen Österreich bereits durch das Nazi-Reich annektiert worden war, ohne dass dies nennenswerte Reaktionen der anderen europäischen Staaten hervorrief. Nun besetzt die Türkei bereits heute den Nordosten eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, Zypern, und einen Streifen von einigen Kilometern Tiefe in Syrien, den es durch einen Wali (Präfekt) verwalten lässt, der zu diesem Zweck ernannt wurde. Die Europäische Union passt sich daran nicht nur an, sondern ermutigt durch ihre Haltung Ankara, die Annexionen unter Missachtung des Völkerrechts fortzusetzen. Die gemeinsame Logik von Kanzler Hitler und Präsident Erdogan ist mit der Vereinigung der «Rasse» und der Säuberung des Volkes begründet. Der erste wollte die Völker «deutscher Rasse» vereinen und sie von «fremden» Elementen (den Juden und den Roma) säubern, der zweite will die Einwohnerschaften «türkischer Rasse» einen und sie von «fremden» Elementen (den Kurden und den Christen) säubern.
Die europäischen Eliten glaubten 1938 an die Freundschaft Hitlers, heute glauben sie an die des Präsidenten Erdogan.    •
(Übersetzung Sabine)

1    «Next operational steps in EU-Turkey cooperation in the field of migration», Voltaire Network,
16. März 2016
2     «Die Blindheit der Europäischen Union gegenüber der Militärstrategie der USA», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Neue Rheinische Zeitung (Deutschland), Voltaire Netzwerk,
27. April 2015
3    «Die gefälschte ‹Flüchtlingskrise›», von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 7. September 2015
4    «Das nahende Ende des Systems Erdogan», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 15. Juni 2015
5    «Die Türkei von heute setzt den armenischen Genozid fort», von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 2. Mai 2015
6    «Wladimir Putins Rede zum 70sten Jahrestag des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg», von Wladimir Putin, Übersetzung Ralf Hesse, Voltaire Netzwerk, 9. Mai 2015
7    «Die Europäische Union hat jene aufgegeben, die kämpfen, um die Freiheiten in der Türkei zu verteidigen», von Can Dündar, Übersetzung Horst Frohlich, Le Monde (Frankreich), Voltaire Netzwerk, 19. März 2016
8    «Bericht des russischen Geheimdienstes über die aktuelle türkische Hilfe für Daesh», Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 19. Februar 2016
9    «Wie die Türkei die Dschihadisten unterstützt», von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 22. Februar 2016
10    «Roadmap towards a visa-free regime with Turkey», Voltaire Netzwerk, 16. März 2016
11    «Alternative für Deutschland nimmt kein Blatt vor den Mund», von Ian Blohm, Übersetzung Horst Frohlich, Strategic Culture Foundation (Russland), Voltaire Netzwerk, 12. März 2016
12    «Offener Brief an die Europäer hinter dem US-israelischen Eisernen Vorhang», von Hassan Hamadé, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 28. Mai 2014
13    «Israeli general says al Qaeda’s Syria fighters set up in Turkey», Dan Williams, Reuters, 29. Januar 2014

Quelle: <link http: www.voltairenet.org article190881.html>www.voltairenet.org/article190881.html 

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