Es ist gerade in der gegenwärtigen angespannten Weltlage sehr verdienstvoll, dass ein wunderschöner Kunstband über den russischen Landschaftsmaler Isaak Lewitan (1860–1900) erschienen ist. Mit dem Buch von Alfried Nehring «Isaak Lewitan – Abendglocken an der Wolga – Russische Künstlerkolonien um 1900» soll das Gemeinsame, Verbindende und die «grosse Tradition der Kultur Russlands und deren Bedeutung für Europa», so der Autor der reich bebilderten Publikation, betont werden. Im Zentrum steht die wichtigste Schaffensperiode von 1888 bis 1895, in welcher der Künstler seine einzigartigen und lyrischen Wolga-Landschaften gemalt hat. «Dabei wird», so der Klappentext, «auch seine Arbeitsweise, die dem Aufbruch der europäischen Kunst in den Künstlerkolonien des 19. Jahrhunderts verwandt ist, besonders beleuchtet.»
Das Besondere am Kunstband von Alfried Nehring ist die Darstellung von Leben und Werk sowie die gründliche Aufarbeitung von wertvollem Archivmaterial und Briefen über den Künstler und sein Umfeld. Nehring hat gemeinsam mit seiner Frau Museen, Wirkungsorte Lewitans und die Künstlerkolonien in Russland besucht und sich intensiv mit dem jung verstorbenen Künstler beschäftigt. Zentral wurde dabei die Schilderung der lebenslangen Freundschaft mit dem gleichaltrigen Schriftsteller, Dramatiker und Arzt Anton Tschechow (1860–1904). «Beide stehen für die Herausbildung einer nationalen Identität Russlands und deren künstlerischer Ausstrahlung nach Europa.» (Klappentext) Maria Pawlowa, die Schwester des Dichters, wurde zu einer engen Vertrauten des Malers. Von grosser Bedeutung wurde für Lewitan die Beziehung zum Kunstsammler Pawel Tretjakow, der schon früh die ausserordentliche Begabung des Malers erkannte und mit Ankäufen unterstützte. In der weltberühmten staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau können Bilderschätze der Maler des Realismus bewundert werden.
Der 1860 in Kibarty (heute Kibartaj, Litauen) geborene Isaak Ilitsch Lewitan entstammte einer armen jüdischen Familie und hatte drei ältere Geschwister. Seine jüdischen Wurzeln wurden im zaristischen Russland für ihn und die Familie sehr belastend. Der Buchautor schreibt: «Auf Grund eines zaristischen Erlasses, der Juden untersagte, in der russischen Hauptstadt zu wohnen, wies die Polizei Lewitan 1879 aus Moskau aus.» (S. 17) Der Vater unterrichtete Kinder reicher jüdischer Familien. Trotz der Armut wurde es Isaak möglich, seine Ausbildung an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur bei A. K. Sawrassow und W. D. Polenow zu absolvieren. Auf Grund seiner grossen Begabung wurden ihm die Studiengebühren erlassen. Dankbar erinnert sich der Künstler an seine ersten Lehrer: «Seit Sawrassow sind Lyrik und grenzenlose Liebe zur Heimaterde in die Landschaftsmalerei gekommen.» (S. 17)
Seine Werke sind tiefempfundene Naturbilder, die auch verschiedene seelische Zustände und Gemütsbewegungen widerspiegeln. Ehemalige Schüler berichteten über ihn, wie er sich am Einfachen und Natürlichen freuen konnte: «Schon in den ersten Frühlingstagen verliess er die Stadt, erfreute sich inmitten des tauenden Schnees an der Schönheit des erwachenden Lebens. Sawrassow kam danach ganz erregt ins Atelier gelaufen und berichtete davon, als sei es ein besonderes Ereignis, um gleich danach die jungen Menschen in die grünenden Wälder und Felder zu führen.» (S. 18) Den wichtigen Titel «Mitglied der Akademie» erhielt Lewitan erst 1898, als er auch zwei Jahre die Klasse für Landschaftsmalerei leiten konnte.
Neben Aufenthalten in Moskau, auf der Krim und in einigen europäischen Ländern (auch der Schweiz) waren seine zahlreichen Reisen und besonders seine Aufenthalte an der Wolga zentral. Wichtig für seine künstlerische Entwicklung wurden die zeitgenössischen Maler und sein Mitwirken an den Ausstellungen der berühmten russischen «Wandermaler», einer Genossenschaft für Wanderausstellungen, die von Sawrassow 1871 gegründet wurde. Zahlreiche berühmte Maler wie Repin und der Kreis um Tolstoi wirkten dort mit.
Diese Künstler schufen ihre lebensnahen Skizzen und Bilder direkt in den Landschaften und im Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung. Sie stellten die Werke in und besonders auch ausserhalb der Städte aus. «Wie die meisten Maler aus dem Zusammenschluss der ‹Peredwischniki› legt auch Lewitan bereits am Beginn der Arbeit einen Titel für das geplante Gemälde fest, der über die Beschreibung des Motivs hinausgeht und eine spirituelle Dimension offenbart.» (S. 40)
Bei den meisten dieser Künstler steht eine humane, ethische und soziale Ausrichtung im Zentrum. In den Künstlerkolonien befruchteten sich Dichter, Maler, Musiker und Wissenschaftler in einem interdisziplinären Austausch. Ähnliche Bewegungen und Künstlerkolonien gab es im 19. Jahrhundert beispielsweise in Frankreich mit den «Barbizon-Malern» und in zahlreichen anderen europäischen Ländern.
Isaak Lewitan regte auch seine Schüler zur Teilnahme bei den Wandermalern an: «Heute fahre ich nach Petersburg. Meine Schüler debütieren auf der Ausstellung der ‹Peredwischniki›. Ich zittere mehr als um mich selbst.» (S. 59) Der inzwischen international anerkannte Künstler wurde im Sommer 1900 mit einer grossen Werkschau für die Kunstausstellung im russischen Pavillon der Pariser Weltausstellung eingeladen. Nach «jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen der dem Zaren direkt unterstehenden Akademie der Künste und den Peredwischniki» (S. 59) erkannte Alexander III. nun, auch durch die wegweisende Sammlertätigkeit Pawel Tretjakows, den grossen Wert dieser nationalen und modernen russischen Malerei. Der Zar verkündete bei «einem Besuch der 17. Wanderausstellung im Jahr 1889» seinen Plan, in St. Petersburg ein Russisches Nationalmuseum zu gründen, welches dann vom Thronfolger Zarewitsch Nikolaus II. verwirklicht wurde.
Lewitan wurde zuvor auch an zahlreiche andere Ausstellungen zur russischen Kunst eingeladen, unter anderen an die damaligen Secessions-Kunstausstellungen in Wien und Berlin. Wassili Polenow war ein weiterer wichtiger Lehrer von Isaak Lewitan. Er nahm ihn in sein Atelier auf und führte ihn in die Künstlerkolonie Abramzewo des russischen Eisenbahnkönigs Sawwa Mamontow ein, und es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung.
In der Künstlerkolonie waren «die wichtigsten Maler im ausgehenden 19. Jahrhundert, Ilja Repin und Valentin Serow» (S. 21), zu Gast. Hier arbeiteten beispielsweise Iwan Turgenjew an seinem Roman «Das Adelsnest», Nicolai Gogol am Roman «Tote Seelen» und andere grosse russische Dichter des 19. Jahrhunderts. Der Künstler nahm Anteil am kulturellen Leben, er liebte auch leidenschaftlich die beruhigende Wirkung der Musik «und nahm ihre Schönheit voller Empfindsamkeit auf». (S. 48) Er übertrug dieses anregende soziale und geistige Klima in seine tiefgründigen Landschaftsbilder.
Isaak Lewitan erkrankte in Moskau an Typhus, reiste 1890 zur Kur und auf Anraten seiner Freunde nach Italien. «Die Sonne des südlichen Himmels weckt bei ihm ein neues Farbempfinden, das später auch bei seinen Arbeiten in Russland zur Wirkung kommt.» (S. 40) Der Maler wendete sich 1895 nochmals, wie viele andere, dem Wolga-Thema zu. Weltberühmt wurde Ilja Repins grossartiges Werk «Die Wolgatreidler» (1873). Lewitan «malt den Fluss als Ort geschäftigen Treibens in hellen bunten Farben. Das Gemälde erscheint mit seiner neuen lebensbejahenden Sicht als eine grosse Liebeserklärung an die Wolga und bildet den Abschluss der Arbeiten, in denen er den facettenreichen Strom als Lebensader Russlands gestaltet hat». (S. 55)
Sein Freund Anton Tschechow kümmerte sich stets auch als Arzt um seinen Gesundheitszustand und seine Gemütsstimmungen. Der Künstler schuf trotz gesundheitlichen Problemen noch zahlreiche Meisterwerke, in denen sich die russische Seele und das geistige Klima Russlands spiegeln. Niemand konnte vor Lewitan so einfühlsam die Natur mit ihrer eigenen Poesie und nahezu seelischer Ausstrahlung darstellen.
Der junge Dichter und Bewunderer russischer Kultur Rainer Maria Rilke reiste, angeregt durch seine Gönnerin und Geliebte Lou Andreas-Salomé, die in St. Petersburg geboren war, nach Russland, um eine Kunstausstellung zu besuchen. Dabei erschienen ihm die Werke Lewitans «wie Perlen oder Sterne erster Grösse» (S. 67). Er wollte den Künstler im Atelier in Moskau besuchen. Leider kam er nicht mehr dazu, traf sich aber mit Leo Tolstoi.
Nach Jahren der Krankheit starb Isaak Lewitan 1900 viel zu früh in Moskau. Alfried Nehring, der Autor des wunderschönen Kunstbandes, gibt uns einige Zeilen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke mit, geschrieben auf einer Wolga-Reise: «Mit diesen Tagen tun wir einen grossen Schritt auf das Herz Russlands zu, nach dessen Schlägen wir schon lange hinhorchen im Gefühl, dass dort die richtigen Taktmasse sind auch für unser Leben […]. In diesem Augenblick, da ich Ihnen schreibe, gleicht sie [die Welt] ganz den Bildern von Lewitan […].» •
Das Buch von Alfried Nehring, Isaak Lewitan, 2017 ISBN 978-3-941064-66-9, kann über den Selbstverlag des Autors (<link http: www.isaak-lewitan.de>www.isaak-lewitan.de) bezogen werden. Die Thematik und der ethische Realismus der «Peredwishniki» wurde vom gleichen Autor in Zeitfragen Nr. 24, 15.9.2015 ausführlich behandelt) (<link de ausgaben nr-24-15-september-2015 kunst-als-lehrbuch-des-lebens.html>www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2015/nr-24-15-september-2015/kunst-als-lehrbuch-des-lebens.html)
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.