Strommarktliberalisierung im Sinne der EU gefährdet die Souveränität und die direkte Demokratie

Strommarktliberalisierung im Sinne der EU gefährdet die Souveränität und die direkte Demokratie

Perspektive über die Volksabstimmung vom 21. Mai hinaus

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Das grosse Pumpspeicherwerk Limmern im Kanton Glarus ist vor wenigen Monaten fertiggestellt worden. Es liegt auf 2500 m über Meer in der schönen Bergwelt von Glarus. Am Muttsee ist eine Staumauer von einem Kilometer Länge errichtet worden – eine Meisterleistung der Ingenieurs- und der Baukunst und auch der Glarner Bevölkerung, die das Projekt an der Landsgemeinde ermöglicht hatte. Es hat über 2 Milliarden Franken gekostet. Es soll in Kürze in Betrieb genommen werden. Nun droht bereits Ungemach: Die Axpo als Erbauerin verlangt vom Kanton Glarus (der zu 15 Prozent beteiligt ist) und damit vom Steuerzahler, dass er die hohen Millionenverluste, die in den nächsten Jahren anfallen werden, mittragen soll. Der Regierungsrat rechnet mit einem Betrag von ungefähr 11 Millionen Franken jährlich. Für einen kleinen Kanton wie Glarus ist das viel. Der Kanton stellt sich auf den Standpunkt, dass Glarus den Strom aus dem neuen Kraftwerk gar nicht brauche. Sie hätten das Kraftwerk für die ganze Schweiz gebaut und ihre schöne Bergwelt zur Verfügung gestellt. Das sei eine Solidaritätsleistung für das Land, und es sei stossend, dafür bestraft zu werden, sagen die Glarner. Möglicherweise wird das Bundesgericht den Streit klären. («Fridolin» vom 30. März) Auch aus dem Kanton Wallis hört man immer wieder Stimmen, die beklagen, dass es nicht mehr möglich ist, mit der Wasserkraft – der saubersten Energieform überhaupt – kostendeckend Strom zu produzieren.

Was ist los mit unserer Stromversorgung, wenn Streit darüber entsteht, wer die Verluste aus der Produktion der saubersten aller Energieformen bezahlt? Die Axpo hat beim Kraftwerk Limmern in ihren Büchern bereits eine halbe Milliarde Franken an Wertverlust abschreiben müssen, bevor überhaupt ein einziges Kilowatt Strom produziert wird. Auch die anderen Wasserkraftwerke in der Schweiz haben in ihren Büchern viele Milliarden Franken an Wert eingebüsst. – Grossbritannien scheint zurzeit manches besser zu machen. Die Insel ist ein Ort mit viel Windkraft an den zahlreichen Küsten. Riesige Windparks liefern viel Strom – aber nur, wenn der Wind weht. Anlagen, die grosse Mengen von Strom speichern können, stehen aber bis auf weiteres nicht zur Verfügung. Um die Versorgungssicherheit zu garantieren, hat die Regierung deshalb zwei Gross­kraftwerke in Auftrag gegeben, die zuverlässig Strom liefern – auch wenn der Wind nicht weht. In den Verträgen mit den Betreibern steht – anders als in der EU –, dass der produzierte Strom in einigen Jahren zu Gestehungskosten, das heisst zu kostendeckenden Preisen, verkauft wird. Eine Situation wie im Kanton Glarus kann so gar nicht eintreten.

Unterschiedliche Situationen in den verschiedenen Ländern der EU …

In Deutschland ist die Situation wieder anders. Es gibt kein Land mit so viel Solar- und Windkraftanlagen. Deutschland ist aber auch ein Kohleland. Deshalb laufen parallel zu den vielen alternativen Anlagen für erneuerbare Energie zahlreiche Kohlekraftwerke, die kostengünstig den Bandstrom liefern für die Zeit, in der kein Wind weht und keine Sonne scheint. Scheint jedoch die Sonne und weht der Wind, hat es oft viel zu viel Strom. Heute wird der überschüssige Strom in die Nachbarländer geleitet und drückt den Preis an der Strombörse in den Keller, so dass die Wasserkraftwerke der Schweiz ihre saubere Energie nicht mehr kostendeckend produzieren können (siehe Kanton Glarus).
In Österreich ist die Situation noch einmal anders. Ganz ähnlich wie die Schweiz verfügt das Land über viel Wasserkraft. In den siebziger Jahren hat die Bevölkerung entschieden, auf die Atomkraft zu verzichten. Die entstandene Versorgungslücke wird wie in Deutschland zu einem Teil mit Kohlekraftwerken gedeckt. Biomasse (aus Holz) spielt jedoch eine wachsende Rolle. Die Situation in Frankreich ist wiederum ganz anders usw.

… und in der Schweiz

Nun zur Stromversorgung in der Schweiz: Im 20. Jahrhundert haben mehrere Generationen grosse Anstrengungen unternommen, um die Stromversorgung für das Land zu sichern – und zwar in erster Linie auf der Basis der Wasserkraft. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern besitzt die Schweiz keine Kohle, was sich in Krisensituationen wie in den beiden Weltkriegen als grosses Problem erwiesen hat. Deshalb wurde schon früh der Ausbau der Elektrizitätsversorgung forciert. Zahlreiche Fluss­kraftwerke wurden gebaut und in den Alpen grosse Stauseen mit Kraftwerken errichtet, die über viele Jahrzehnte ihren Strom zuverlässig und zu kostendeckenden Preisen an die Bevölkerung abgaben. Die Schweiz war weltweit das erste Land, das seine Eisenbahnen zu hundert Prozent elektrifiziert hat. Für die Gotthardlinie ist dies bereits im Ersten Weltkrieg geschehen. Mangelsituationen im Winter werden mit Importen überbrückt und Überschüsse vor allem im Sommer exportiert. Zudem wurde das Land bald einmal als Transitland für Strom vom Norden nach Süden gebraucht. Auch heute fliessen jeden Tag grosse Mengen ausländischen Stroms durch das Land und beanspruchen das Leitungsnetz immer wieder bis an die Kapazitätsgrenzen.
Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete am 23. März, dass die Schweiz im internationalen Ranking der Energiesysteme den ersten Rang einnimmt – von 217 Ländern. Kriterien waren die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Nachhaltigkeit. Auch die CO2-Bilanz ist nach einer Studie, die das WEF jedes Jahr durchführt, ausgezeichnet.

Vom Volk legitimiert

Unser System ist über eine Vielzahl von Volksabstimmungen sowohl auf Gemeinde-, Kantons- wie auch auf Bundesebene in der Bevölkerung breit abgestützt und legitimiert. Viele Gemeinden haben eigene Gemeinde- oder Stadtwerke eingerichtet, Kantone kantonale Werke – meist öffentlich-rechtliche Einrichtungen. Gemeinden haben sich mit anderen Gemeinden zusammengeschlossen und Genossenschaften und Korporationen verschiedenster Art gegründet. Das gleiche geschah auf der Ebene der Kantone. Etwa 800 solcher Elektrizitäts- und Versorgungsunternehmen beliefern die Haushalte zuverlässig mit Strom und versorgen sie oft auch mit Wasser und Gas zu Gestehungspreisen. Diese Unternehmen sind auf vielfältige Art regional miteinander verbunden und vernetzt.

Paradigmenwechsel im Kielwasser der EU

Diese Situation hat sich im neuen Jahrtausend geändert. 1998 beschloss die EU, den Strommarkt länderübergreifend zu liberalisieren, und hat damit einen grundlegenden Systemwechsel eingeleitet. Der Strom sollte nicht mehr zu Gestehungskosten an die Bevölkerung abgegeben werden, sondern der Markt bzw. die Strombörse sollten künftig die Preise festlegen. Es ging nicht lange, bis die Schweiz unter Federführung von SP-Bundesrat Moritz Leuenberger das Elektrizitätsmarktgesetz ausarbeitete, das diesen Systemwechsel nachvollziehen sollte. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund ergriff das Referendum, und es kam zur Abstimmung. Leuenberger lockte mit folgendem Argument: Die Konsumenten könnten künftig den Stromanbieter wechseln, und sie müss­ten dann für den Strom weniger bezahlen – so wie es beim Handy schon der Fall sei. Das sei die Zukunft, und man dürfe nicht am alten festhalten. Das Volk traute den Schalmeienklängen des Bundesrates zu Recht nicht und lehnte das Gesetz deutlich ab. Kurz danach bereitete der Bundesrat eine neue, ähnliche Vorlage vor: das Stromversorgungsgesetz, das erneut den Boden bereiten sollte für ein Strommarktabkommen mit der EU. Auch dieses Gesetz wollte einen Systemwechsel einleiten – diesmal jedoch in zwei Schritten. 2007, nur 5 Jahre nach dem Volks-Nein, trat das neue Gesetz in Kraft, und 2007 begannen die Verhandlungen mit der EU. Seit 2009 ist der Strommarkt liberalisiert für Grossverbraucher, die mehr als 100 000 Kilowattstunden Strom beziehen. Dieser grenzüberschreitende, freie Markt ist seit einigen Jahren sehr attraktiv, weil – wie oben dargelegt – viel Billigststrom vor allem aus deutschen Kohle- und Windkraftwerken oder aus Atomkraftwerken von Frankreich in die Schweiz fliesst, der die Preise der einheimischen Kraftwerke unterbietet. Etwa die Hälfte des gesamten Stromumsatzes kommt so aus dem Ausland, so dass man eigentlich einen grossen Teil der einheimischen Kraftwerke abstellen könnte. Man tut es nicht, um wenigstens einen Teil der fixen Kosten zu decken.
Der Strommarkt für private Haushalte in der Schweiz sollte 2014 mit einer Volksabstimmung in einem zweiten Schritt ebenfalls liberalisiert werden, so dass die Haushalte ihren Stromlieferanten frei wählen können. Der Bundesrat hat die Volksabstimmung mehrere Male verschoben – 2016 auf unbestimmte Zeit, weil die vollständige Liberalisierung wegen der tiefen Preise in Kürze zum Konkurs vieler einheimischer Elektrizitätsgesellschaften führen würde und weil sie vor dem Volk kaum eine Chance hätte. Ohne Abstimmung ist jedoch das heutige System direktdemokratisch nicht legitimiert.
Die Situation ist aus einem weiteren Grund anspruchsvoll. Der Bundesrat verhandelte seit 2007 mit der EU über ein Stromabkommen. Die Verhandlungen sind seit April 2015 sistiert, weil die EU als Vorbedingung zusätzlich ein institutionelles Rahmenabkommen verlangt, das die Schweiz politisch noch enger an die EU anbinden soll.

Stromversorgung in der EU wird von Grosskonzernen dominiert

Brüssel reguliert den Strommarkt seit August 2015 einheitlich und umfassend. Verbindliche Vorgaben und gemeinsame Regelungen für Kraftwerke, Netzbetreiber, Versorger und Konsumenten sollen es richten und den EU-Binnenmarkt auch im Strombereich zum Abschluss bringen. Neue grenzüberschreitende Leitungen sollen die Länder verbinden und die nationalen und regionalen Märkte zusammenwachsen lassen. Es sind sogenannte «Stromautobahnen» geplant oder schon realisiert, mit denen riesige Mengen Strom quer durch Europa transportiert werden. Der EU-Binnenmarkt wird die Stromversorgung in den einzelnen Ländern grundlegend verändern, so dass wie in den USA einige wenige Grosskonzerne die Stromversorgung beherrschen. Die Schweiz ist als Stromdrehscheibe für den Handel bereits eingeplant und auch ohne Abkommen bereits integriert, weil Tag für Tag grosse Mengen Strom von Norden nach Süden durch das Land fliessen. Würde die Schweiz an der Grenze den «Stecker herausziehen», würden grosse Teile des EU-Strommarktes nicht mehr funktionieren. Das ist ein wesentlicher Beitrag – ähnlich wie der Transit für Lastwagen –, den die Schweiz heute schon an «Europa» leistet und den die Schweizer Verhandlungsführer in die Waagschale legen könnten. Von «Rosinenpickerei» kann keine Rede sein.
Die heutige Rechtsgrundlage für den EU-Strombinnenmarkt ist der Lissaboner Vertrag. Gemäss Artikel 193 und 194 kann Brüssel die Energiepolitik in den Mitgliedsländern zwar nicht direkt bestimmen, hat aber weitreichende Kompetenzen, um die nationale Politik ihrer Mitgliedsländer erheblich zu beeinflussen.

Reaktionen in der Schweiz

Das Konzept der EU ist in den Unterlagen des Bundesamtes für Energie bereits enthalten. So heisst es im Arbeitspapier «Auslegeordnung Strommarkt nach 2020»: «[…] In der Vergangenheit wurde die Versorgungssicherheit hauptsächlich national betrachtet […]. Im stark vernetzten europäischen Binnenmarkt ist dieser Ansatz überholt. Seit kurzem wird dieses Thema vermehrt länderübergreifend betrachtet.» (S. 14)
Wie hat in der Schweiz die Stromwirtschaft reagiert? Die beiden grossen traditionellen Stromgesellschaften Atel (Aare-Tessin AG für Elektrizität) und EOS (Energie Ouest Suisse) haben sich im Jahr 2009 zu Alpiq zusammengeschlossen. Energie Raetia hat sich umbenannt zu Repower. Beide haben in den letzten Jahren versucht, sich auf dem EU-Binnenmarkt zu positionieren, indem sie zahlreiche ausländische Gesellschaften aufgekauft oder sich beteiligt und sich massiv verschuldet haben – ähnlich wie einst die Swissair. Dazu gehören Beteiligungen an Windparks in der Nordsee und in Spanien, und auch an Kohlekraftwerken. Alpiq und Repower sind Aktiengesellschaften, deren Aktien an der Börse gehandelt werden, die sich jedoch gegen 80 Prozent in der öffentlichen Hand der Kantone und Gemeinden befinden. Die Ergebnisse waren und sind katastrophal. Ihre Aktienkurse sind wie bei der Swissair vor dem Grounding um gegen 90 Prozent eingebrochen. Darauf kündigte der Verwaltungsratspräsident von Alpiq, Jens Alder, an, sie wollten 49 Prozent der Beteiligung an Grande Dixence verkaufen, dem grössten Wasserkraftwerk der Schweiz – wenn nötig auch ins Ausland.
Die Walliser Gemeinden, auf deren Gebiet Grande Dixence liegt, haben vor ungefähr 70 Jahren in weiser Voraussicht den «Heimfall» in die Verträge eingebaut. Das heisst, dass das Eigentum an den Anlagen in wenigen Jahren an die Gemeinden zurückfällt. Zudem hat das Wallis vor wenigen Monaten – ebenfalls in weiser Voraussicht – den Heimfall und den Weiterbetrieb der Kraftwerke gesetzlich geregelt – und zwar so, dass die Macht über das Wasser im Kanton bleibt. Das Parlament hat dem neuen Gesetz mit 99 Prozent zugestimmt (vgl. Kasten S.1). Zur Volksabstimmung kam es nicht, weil es keinerlei Opposition gab. Dies ist eine deutliche Botschaft an die international operierenden Stromgesellschaften und auch an den Bundesrat und das Parlament in Bern. Vielleicht sollten sich die Schweizer Stromkonzerne weniger im Ausland betätigen (und dafür EU-Subventionen beziehen), sondern ihre Hausaufgaben im eigenen Land lösen.

Ermöglicht ein Strommarktabkommen den Zugriff der EU auf das Wasser?

Brüssel verlangt, dass ausländische Stromkonzerne im grenzüberschreitenden Wettbewerb den inländischen Gesellschaften gleichgestellt sein müssen. Das würde konkret bedeuten, dass ausländische Stromkonzerne ebenfalls Wasserrechtskonzessionen in den Bergkantonen erwerben könnten. Zudem würden viele der 800 kleineren und grösseren Elektrizitätsgesellschaften Schwierigkeiten bekommen. Zahlreiche Gesellschaften befinden sich heute im Eigentum der Gemeinden und Kantone und bezahlen im Rahmen des Service public keine Steuern (so wie zum Beispiel die städtischen Verkehrsbetriebe oder auch Radio und Fernsehen SRF). Auf dem EU-Binnenmarkt wäre dies nicht erlaubt, weil Brüssel dies als Wettbewerbsvorteil ansieht und nicht toleriert. Zudem bekämen kleinere Elektrizitätsgesellschaften Probleme, weil die Vorschriften aus Brüssel in erster Linie auf Grosskonzerne ausgerichtet sind. Daraus würde politisch Druck entstehen, die gemeinde- oder kantonseigenen Werke zu privatisieren, zusammenzulegen und zu verkaufen. Es käme auch in der Schweiz zu einer Situation, in der möglicherweise einige privatisierte Grosskonzerne den Strommarkt beherrschen. – Wollen wir einen solchen Umbau unseres zuverlässigen, über Generationen aufgebauten Systems wirklich?

Connecting Europe oder dezentrale Versorgung in den Nationalstaaten?

Der einheitliche Binnenmarkt für Strom ist Teil eines EU-Programms mit dem Namen Connecting Europe, das die Schweiz über das Stromabkommen und einen politischen Rahmenvertrag einbinden möchte. Brüssel will bis 2020 mit 50 Milliarden Euro grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte realisieren. Damit soll auch die Wirtschaft angekurbelt werden. 9,2 Milliarden sind für Energie vorgesehen. Der ehemalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat sich in einer Arte-Sendung vom 5.9.2013 dazu wie folgt geäussert: «Letztlich geht es bei Connecting Europe darum, die Grundlagen für eine wirklich geeinte Europäische Union zu schaffen, in der alle Völker Europas verbunden werden.»
Es wäre nicht das erste Mal, dass Brüssel die Weichen falsch gestellt hat, weil es sich von seinen ideologischen Zielen hat leiten lassen. Das EU-Projekt eines einheitlichen Strommarktes ist in seiner Dimension ähnlich gross und politisch kaum weniger bedeutsam als der Euro, der schlecht funktioniert, gerade weil die grossen ökonomischen und kulturellen Unterschiede zwischen den beteiligten Ländern nicht berücksichtigt wurden. Auch im Elektrizitätswesen sind die Unterschiede riesig, und es stellt sich vor allem die Frage: Sind kleinere, überblickbare Gebiete, die von der Bevölkerung dezentral kontrolliert werden, nicht weit besser in der Lage, ihre Bevölkerung zuverlässig mit Strom zu versorgen? In Deutschland zum Beispiel ist seit einigen Jahren wieder ein Trend zur Rekommunalisierung zu beobachten. Die Gemeinden übernehmen die Verantwortung für die Stromversorgung vermehrt wieder selber.

Stromzukunft Schweiz – selbstbestimmt

Das neue Energiegesetz (EnG), über das wir am 21. Mai abstimmen, soll mittelfristig die Voraussetzungen schaffen, um aus der Atomkraft auszusteigen. Diese Zielsetzung ist sicher richtig. Nur – wie stehen die Chancen, dieses Ziel auch zu erreichen? Tatsache ist: Der bereits begonnene Umbau der von Gemeinden und Kantonen getragenen Stromversorgung im Kielwasser der EU ist für die Schweiz fatal und führt zu massiven Problemen, die sich heute bereits zeigen. Für die Berggemeinden könnte das bedeuten, dass die Wasserzinsen um die Hälfte gekürzt würden, weil die Stromgesellschaften weniger Geld verdienen (siehe Kasten). Viele der Gemeinden sind jedoch existenziell darauf angewiesen usw.
Es wird manchmal als Vorteil angeführt, dass Grossbezüger sich abkoppeln können und heute ihren Strom günstig auf dem internationalen Markt bzw. an der Strombörse von Leipzig oder Paris beziehen. Das untergräbt den Zusammenhalt, schwächt nicht nur die Wasserkraft, sondern das ganze Land. Die Schweiz kann es sich nicht leisten, die Wasserkraft zu schwächen. Sie ist auch von staatspolitischer Bedeutung. Man müsste Wege finden – unabhängig von der EU –, damit sich die Preise im Sinne des Service public wieder an den Gestehungskosten und am Gemeinwohl orientieren – und nicht am vielfach verzerrten grenzüberschreitenden EU-Markt, der von einer trügerischen Ideologie geleitet ist. Der Service public hat gegolten, als die ganze Schweiz auf eine effiziente Art elektrifiziert wurde. In den fünfziger Jahren haben etliche Kantone und Gemeinden viel Geld in Grande Dixence investiert. Die Bauarbeiten dauerten mehr als zehn Jahre. Danach versorgte das Kraftwerk die Bevölkerung von mehreren Kantonen zu kostendeckenden Preisen mit Strom. Dieser Vorgang – unter Federführung der Gemeinden und Kantone – war in den Bergregionen, in vielen Tälern und an Flüssen zu beobachten – im Glarnerland, im Kanton Graubünden und im ganzen Land. Importe im Winter und Exporte im Sommer gehörten dazu. Es war wirklich eine Erfolgsgeschichte.
Die Schweizer Stromversorgung ist ein Juwel, dem wir Sorge tragen müssen. Es besteht kein Grund, den von den Gemeinden und Kantonen getragenen Service public zu verlassen. Auf dieser Basis lässt sich der Atomausstieg planen, lassen sich Windparks errichten, andere Möglichkeiten für die Stromerzeugung ins Auge fassen, die Sinn machen, und lässt sich Forschung betreiben – und vor allem wäre das Volk weiterhin über die direkte Demokratie auf allen politischen Ebenen unmittelbar einbezogen und könnte mitreden. Das neue EnG ermöglicht zwar viele Subventionen, das Geld würde fliessen. Misserfolge sind jedoch vorprogrammiert, und es besteht Gefahr, dass die Diskussion über die zentrale Frage wieder einschläft, die allem zugrunde liegt: Markt ohne Grenzen oder Service public?
Unterschiedliche Bedingungen in den einzelnen Ländern und ein Wust verschiedenartiger Subventionen verzerren die Preisbildung im EU-Strommarkt. Aufmerksame Ökonomen (die von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt sind) sprechen von Marktversagen, weil eine nachhaltige und massgeschneiderte Stromversorgung mit einer vernünftigen Planung gar nicht möglich ist. So wird heute im Wasserbereich zwar subventioniert, aber kaum investiert. Oder wenn investiert wird wie am Muttsee in Glarus, kommt es zu bösen Überraschungen. Die Ursachen für diese Malaise liegen im System. Wie oben bereits erwähnt, ist die Situation vergleichbar mit dem heutigen Euro, der so nicht überleben wird, weil die beteiligten Länder sich in verschiedener Hinsicht stark unterscheiden und ein einheitlicher Markt gar nicht entstehen kann. Das ist im Bereich der Stromversorgung ebenfalls der Fall.
Die Schweiz hat nicht wie Deutschland Kohle, um den regelmässig fliessenden Bandstrom aus den AKW zu ersetzen. Neben der Förderung der Solar- und Windkraft, verbunden mit einem sorgsameren Umgang mit Energie, müssen wir in erster Linie auf unsere eigentliche Stärke, die Wasserkraft, setzen und entsprechend längerfristig planen: Die Wasserkraft ist unser eigentlicher Trumpf, dem wir wieder den Wert geben müssen, den er verdient. Es gibt bereits etliche Projekte im Wallis, in Graubünden und im Kanton Bern, die ausgearbeitet und realisiert werden könnten. Dafür sollten wir unser Geld einsetzen!     •

Heimfall im Kanton Wallis – am Gemeinwohl orientiert

ww. Der Heimfall wird in der Schweiz unterschiedlich gehandhabt. Die Gewässerhoheit für die Rhone hat der Kanton inne. Für die Seitenbäche, die in den Hauptfluss münden, sind die Gemeinden zuständig. Diese Aufteilung bringt den Berggemeinden in den Seitentälern eine starke Position, weil fast alle der 50 Wasserkraftwerke auf ihrem Gebiet liegen.
Nach Ablauf der meist 80jährigen Konzessionsdauer – das heisst nach 2030 –kommt es zum sogenannten Heimfall. Ein grosser Teil der Kraftwerksanlagen (gut 80 Prozent) fällt ohne Entschädigung an das Gemeinwesen zurück, das die Konzession erteilt hat. Es sind dies die «nassen Anlagen» eines Kraftwerkes, das heisst die Staumauer, die Druckleitungen und Turbinen. Die elektrotechnischen Anlagen kann es gegen eine angemessene Entschädigung vom bisherigen Betreiber erwerben. Anlagen im Wert von vielen Milliarden Franken werden so in wenigen Jahren den Besitzer wechseln.
Seit einem Jahr beschäftigte die Bevölkerung die ganz zentrale Frage: Soll wirklich nur eine Minderheit der Gemeinden vom bevorstehenden Heimfall profitieren, und die anderen sollen leer ausgehen? Und wer führt die Kraftwerke nach dem Heimfall weiter? Nach einer mehrmonatigen Debatte wurde eine Lösung gefunden, die alle Gemeinden, den Kanton und die ganze Schweiz einbezieht und sich am Gemeinwohl orientiert (Lex Cina). Am 10. November 2016 stimmte der Grosse Rat in Sitten praktisch einstimmig zu: 30 Prozent der Anlagen gehen an den Kanton (der durch die Walliser Elektrizitätsgesellschaft vertreten ist), 30 Prozent gehen an die Gemeinden, die vor vielen Jahren die Konzession erteilt haben, und 40 Prozent können fakultativ an einen externen Partner aus der Strombranche abgetreten werden, der das Kraftwerk möglicherweise weiterführt («Walliser Bote» vom 10.11.2016).
Der Heimfall ist für das Wallis wichtig, weil die zahlreichen Wasserkraftwerke heute anteilsmässig zum grössten Teil Gesellschaften aus der deutschen und französischen Schweiz gehören. Alpiq (die ans Ausland verkaufen will) besitzt 60 Prozent an Grande Dixence.

Hände weg von den Wasserzinsen

ww. Die Wasserzinsen sind ein Entgelt zur Nutzung der Wasserkraft, und sie basieren auf einem Pakt zwischen den Gemeinden in den Alpen und dem industrialisierten Mittelland seit hundert Jahren. In vielen Berggemeinden machen sie mehr als die Hälfte der Einnahmen aus. In einigen sind sie wesentlich höher als die Steuern. Dieser Zustupf aus dem Mittelland trägt wesentlich dazu dabei, dass die Berggebiete heute so gepflegt sind, die Abwanderung aus den vielen Tälern relativ gering ist und die Gemeinden ihre Aufgaben im Dienste des Landes erfüllen können. Die Wasserzinsen gehören zum Erfolgsmodell Schweiz und dürfen nicht angetastet werden! 

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