Kronzeugenregelung à la USA oder gerechte Strafe gemäss Schweizer Rechtsverständnis?

Kronzeugenregelung à la USA oder gerechte Strafe gemäss Schweizer Rechtsverständnis?

Am 31. Mai im Nationalrat

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

In den USA und einigen anderen Staaten können die Strafverfolgungsbehörden einem Verbrecher Straffreiheit zusichern, wenn er bereit ist, als «Kronzeuge», das heisst als Hauptzeuge der Anklage, gegen seine(n) Mittäter auszusagen. Dem Rechtsverständnis und dem Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung in der Schweiz und in vielen anderen Staaten sind solche «Deals» mit Schwerverbrechern fremd. Dennoch findet zurzeit im National- und Ständerat eine Diskussion darüber statt, ob zur wirksameren Strafverfolgung krimineller Organisationen eine Kronzeugenregelung eingeführt werden soll, die weiter geht als die heute bereits bestehende «kleine Kronzeugenregelung». Am 14. Dezember 2016 hat der Ständerat als Erst-rat die Motion Janiak gutgeheissen, die den Bundesrat mit dem Entwurf einer solchen Regelung beauftragt. In einer denkwürdigen Stellungnahme mahnt der Bundesrat demgegenüber zur Einhaltung rechtlicher und in der Bevölkerung verankerter Grundsätze. Die Rechtskommission des Nationalrates (RK-N) hat nun am 6. April 2017 der Motion Janiak mehrheitlich zugestimmt und als mögliche Variante eine eigene Motion lanciert, die besser zur Schweizer Rechtsauffassung passen würde. In der ersten Woche der kommenden Sommersession, am 31. Mai, wird der Nationalrat über die beiden Motionen entscheiden.

Worum es in den beiden parlamentarischen Vorstössen geht und was es aus rechtlicher und ethischer Sicht zu bedenken gibt, soll hier kurz dargelegt werden.

Wer eine Straftat begangen hat, soll auch dafür geradestehen. Aus dem Grundsatz der Rechtsgleichheit (Artikel 8 Absatz 1 der Bundesverfassung) und aus dem Willkürverbot (Artikel 9) folgt, dass im Prinzip jeder Täter gleichermassen bestraft werden muss, wobei die Schwere seiner Schuld im Einzelfall abzuwägen ist. Auf diesem Rechtsverständnis beruht das Strafrecht in Rechtsstaaten, so auch das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB). Um jedem Täter gerecht zu werden, kennt das StGB auch Strafmilderungsgründe, so etwa, «wenn der Täter aufrichtige Reue betätigt, namentlich den Schaden, soweit es ihm zuzumuten war, ersetzt hat» (Artikel 48 d).

Die «kleine Kronzeugenregelung» in Artikel 260ter StGB

Mit dem verstärkten Aufkommen krimineller Organisationen auch in der Schweiz wurde 1994 eine neue Strafnorm beschlossen, welche die Beteiligung an solchen Organisationen unter Strafe stellt und ebenfalls einen Strafmilderungsgrund enthält.

Artikel 260ter sieht für die Beteiligung an Organisationen1, die zum Zweck haben, Gewaltverbrechen zu begehen oder daraus finanziellen Nutzen zu ziehen, eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor. Die «kleine Kronzeugenregelung» steht in Ziffer 2 des Artikels: «Der Richter kann die Strafe mildern […], wenn der Täter sich bemüht, die weitere verbrecherische Tätigkeit der Organisation zu verhindern.»

Mit dem schweizerischen Rechtsverständnis ist diese Regelung vereinbar: Der Täter soll milder bestraft werden, wenn er im Sinne des Gemeinwohls mit den Strafverfolgungsbehörden kooperiert und sich für die Verhinderung weiterer Straftaten einsetzt.

Motion Janiak (16.3735): Strafbefreiung für kooperative Gewalttäter?

Mit der Motion 16.3735 von Ständerat Claude Janiak (SP Basel-Landschaft) soll der Bundesrat beauftragt werden, dem Parlament «eine [darüber hinausgehende] Regelung für die Einführung des Kronzeugen im Schweizer Strafrecht zu unterbreiten». Die Motion will damit «eine wirksame und effiziente Strafverfolgung von kriminellen Organisationen und anderen schweren Verbrechensformen» sicherstellen. «Beispiele im Ausland, namentlich in Italien und den USA, belegen die Wirksamkeit von Kronzeugenregelungen.»

Aus rechtsstaatlichen, aber auch aus ethischen Gründen wäre eine weitergehende Privilegierung eines Mitglieds einer Verbrecherbande, insbesondere seine völlige Strafbefreiung, allerdings äusserst problematisch. Sollen die Staatsanwaltschaft und die Gerichte mit Gewalttätern einen «Deal» machen, um sie zum Reden zu bringen? Wollen wir Bürger wirklich, dass unsere Strafverfolgungsbehörden sich auf eine solche Ebene begeben und damit rechtsstaatliche Grundsätze (Rechtsgleichheit, Willkürverbot, Gerechtigkeitsempfinden) ausser Kraft setzen? Ausserdem müsste die behauptete «Wirksamkeit» genauer unter die Lupe genommen werden. Zweifellos wird die Aussicht auf Strafbefreiung einen Kriminellen dazu bringen, dass er «auspackt». Aber auch die sorgfältigste Überprüfung seiner Aussagen wäre keine Garantie dafür, dass nicht die falschen Leute zu hohen Strafen verurteilt werden und die wirklichen Schurken sich ins Fäustchen lachen. Gerade in den USA sind sogenannte «Justizirrtümer» häufig, immer wieder werden Unschuldige zu jahrzehntelangen Gefängnisstrafen (oder sogar zum Tod) verurteilt, während die Bandenchefs ungeschoren wegkommen. Wenn wir unseren Rechtsstaat behalten wollen, können wir einer ähnlichen Regelung sicher nicht zustimmen.

Überzeugende Stellungnahme des Bundesrates vom 23. November 2016 zur Motion 16.3735

«Soweit Kronzeugen für ihre Mitwirkung sogar mit Straffreiheit sollen belohnt werden können, lehnt der Bundesrat die Motion ab: Denn eine derart weitgehende Regelung würde namentlich den Grundgedanken der Rechtsgleichheit und des Schuldstrafrechts des Strafgesetzbuches zuwiderlaufen und könnte auch das Risiko der Irreführung der Justiz erhöhen sowie die Bereitschaft zur Normbefolgung untergraben. […] Auch dürfte es in der Bevölkerung kaum verstanden werden, wenn gerade solche Täter durch kooperatives Verhalten straffrei ausgehen können, die selber schwerste Straftaten (zum Beispiel terroristische Anschläge) begangen und unter Umständen zahlreiche Personen getötet haben.

Weil die Motion sich auch als Begehren auf Einführung einer ausgedehnten Kronzeugenregelung verstehen lässt, ist sie nach Ansicht des Bundesrates abzulehnen.»

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Berechtigte Bedenken der Nationalratskommission

Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist es schwer zu verstehen, dass der Ständerat der Motion Janiak im ersten Durchgang zugestimmt hat. Es ist auch schwer zu verstehen, dass die «Kommission für Rechtsfragen Nationalrat» dem Nationalrat mit 15 zu 8 Stimmen und 2 Enthaltungen die Annahme der Motion Janiak beantragt (Bericht der Kommission für Rechtsfragen Nationalrat vom 6. April 2017, S. 1). Dies mit dem fast etwas naiven Argument, dass ein möglichst früher Deal mit einem Mitglied einer kriminellen Vereinigung oder einer Terrororganisation positive Folgen zeitigen könnte: «Dank einer solchen Kronzeugenregelung könnte geständigen Tätern bereits in einem frühen Verfahrensstadium von den Strafverfolgungsbehörden (und nicht erst nachträglich von den Gerichten) für ihre Informationen Strafmilderung oder Straffreiheit zugesichert werden. Dies könnte dazu beitragen, sie zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden zu bewegen.»

Die Kommission bezieht denn auch schwerwiegende Gründe gegen die Strafbefreiung von Schwerverbrechern in ihre Überlegungen mit ein: «Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Aussicht auf einen möglichst guten ‹Deal› mit den Strafverfolgungsbehörden auch einen Anreiz zu interessant klingenden Falschaussagen bietet. Ein weiterer kritischer Punkt könnte sein, dass durch die Zusicherung von Strafmilderung oder Straffreiheit in einem frühen Verfahrensstadium der Spielraum des Gerichtes eingeschränkt und daher eine rechtsgleiche Bestrafung von vergleichbaren Sachverhalten verunmöglicht werden könnte.» (Bericht der Kommission für Rechtsfragen Nationalrat vom 6. April 2017, S. 3f.)

Hier kommt ein neues wichtiges Argument zur Sprache: Wenn der Staatsanwalt während seiner Strafuntersuchung einem Täter ein mildes Urteil verspricht, müsste das Gericht sich später daran halten, auch wenn es zum Schluss kommt, dass den «Kronzeugen» eine schwerere Schuld trifft als einen Mittäter, der strenger bestraft wird. Oder soll dessen Strafe aus Gründen der Rechtsgleichheit dann auch reduziert werden, so dass beide zu gut wegkommen? Hier wird noch klarer, dass die ganze Konstruktion der Kronzeugenregelung rechtsstaatlich nicht haltbar ist.

Motion RK-N (17.3264): Ausweitung der sogenannten «kleinen Kronzeugenregelung» auf Mitglieder terroristischer Organisationen

Die «Kommission für Rechtsfragen Nationalrat (RK-N)» hat am 6. April 2017 als Ergänzung zur Motion Janiak und unter Einbezug der Stellungnahme des Bundesrates eine eigene Motion lanciert. Diese will die Bestimmung über die Strafmilderung von Artikel 260ter Ziffer 2 des Strafgesetzbuches auf das «Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen ‹al-Kaida› und ‹Islamischer Staat› sowie verwandter Organisationen vom 12. Dezember 2014» ausweiten. Gemäss diesem Gesetz ist die Beteiligung oder Unterstützung dieser Terrororganisationen in der Schweiz oder von der Schweiz aus strafbar.

Die RK-N will anhand eines Entwurfs des Bundesrats konkret überprüfen, «ob die Ausweitung des Anwendungsbereichs der ‹kleinen Kronzeugenregelung› geeignet ist, um terroristische Organisationen wirkungsvoller zu bekämpfen» – ohne jedoch so weit zu gehen wie die Motion Janiak.

Die Motion der RK-N beschränkt sich demnach auf die nach unserem Rechtsverständnis besser vertretbare Möglichkeit einer Strafmilderung, «[…] wenn der Täter sich bemüht, die weitere verbrecherische Tätigkeit der Organisation zu verhindern». Diese Norm soll gegebenenfalls auf IS- oder al-Kaida-Unterstützer in der Schweiz ausgedehnt werden.

In Anbetracht dessen, dass vor Gericht ohnehin jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen ist, kann diesem Vorstoss der Nationalratskommission zugestimmt werden.

* * *

Fazit: Die Motion Janiak ist abzulehnen. Die Motion der RK-N kann – wenn sie mit Blick auf das Gemeinwohl ausgestaltet wird – angenommen werden.

Es ist nicht einzusehen, warum die Schweiz eine Praxis aus den USA übernehmen soll, die mit unserem Rechtsverständnis nicht vereinbar ist und zu grossen Ungerechtigkeiten führen kann. Denn deren negative Auswirkungen (Belohnung von Straftätern, die mit allen Wassern gewaschen sind, auf der einen Seite, Zerstörung des Vertrauens der Bevölkerung in die Gerechtigkeit der Rechtsprechung auf der anderen) können eine – vielleicht! – verbesserte Aufklärung einzelner Verbrechen nicht rechtfertigen.

Strafmilderung im Einzelfall und unter Abwägung aller Fakten und Umstände – ja. Aushandlung von Strafmilderung oder gar -befreiung mit Mitgliedern von Verbrecherbanden bereits in der Untersuchungsphase mit verpflichtender Wirkung für das urteilende Gericht – nein.   •

1  Die Ausübung solcher Verbrechen kann selbstverständlich schwerer bestraft werden.

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