Michael Lüders ist Nahost-Experte und war lange Jahre Nahost-Korrespondent für die deutsche Wochenzeitung Die Zeit. Er hat bereits verschiedene Bücher zu den Entwicklungen im Nahen Osten publiziert und wird vielen Lesern von Zeit-Fragen bereits bekannt sein. Sein neuestes Buch, «Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte», knüpft, wie bereits der Titel vermuten lässt, thematisch an sein früheres Werk «Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet» an: Wer den Wind sät, wird Sturm ernten. Ging es in jenem, 2015 erschienenen Buch darum, die politischen und strategischen Verwicklungen des Westens im gesamten Nahen Osten und die Mitschuld des Westens unter Führung der USA an der jetzigen Misere aufzuzeigen, so konzentriert sich Lüders in seinem brandaktuellen Buch auf die Entwicklungen in Syrien.
«Kriege werden erzählt, nicht anders als Geschichten», so steigt Lüders in das Thema ein und zeigt auf, worum es ihm geht: Er will den anderen Teil der Geschichte beleuchten, der in der Nato-Hofberichterstattung unserer Leitmedien bewusst weggelassen oder in verfälschender Weise dargestellt wird. Der Geschichte von den «Werten», für die westliche Politik stehe und die es in Syrien zu verteidigen gelte, stellt er die strategischen und wirtschaftlichen «Interessen» der Akteure gegenüber. Vor hundert Jahren wurde die Ausbeutung ganzer Erdregionen durch europäische Mächte noch damit begründet, die «Eingeborenen» an die Segnungen der «Zivilisation» heranzuführen. Heute werden im Namen sogenannter westlicher Werte ganze Regionen mittels Soft- und/oder Hardpower destabilisiert, um sie dann um so besser ihrer Schätze berauben und für die eigenen hegemonialen Interessen ausnutzen zu können. Wenn «Werte» zum Alibi einer hegemonialen Politik werden, hören sie auf, Werte zu sein.
Michael Lüders hält klar fest: Der Krieg in Syrien hätte ohne die massive Einmischung von aussen niemals die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die Terrorakte in verschiedenen europäischen Ländern wie auch die Flüchtlingskrise sind direkte Folgen einer gewaltsamen Interventionspolitik. «Ohne die Fehler des Westens, namentlich der USA im Irak, wäre der ‹Islamische Staat› gar nicht erst entstanden.»
Um die aktuellen Entwicklungen einordnen und sich gegen das propagandistische Kriegsgeschrei der Nato-Medien wappnen zu können, muss man die Vorgeschichte kennen. Diese stellt Lüders ausführlich dar. Er beginnt mit den Ränkespielen der imperialistischen Mächte England und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg und fährt mit dem amerikanischen Hegemoniestreben nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Es ist eine Geschichte von inszenierten Staatsstreichen, Putschversuchen und Klientelregimen; und von dem Versuch, jegliche Entwicklung hin zu einer eigenständigen, in den eigenen Traditionen fussenden Politik zu verhindern. Es hat im Nahen Osten Ansätze zu einer solchen, den Interessen der eigenen Völker verpflichteten Politik gegeben, es gibt sie auch heute noch, wenn man die Völker nur in Frieden liesse und sie ihr geistiges und kulturelles Potential ausschöpfen könnten. Aber, so Lüders: «Unter den sozialen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, wie sie heute in der arabischen Welt bestehen, unter den Bedingungen also von Armut, Unfreiheit, Staatszerfall und Terror, ist kein Raum für Reformdenken. Die Menschen sind hinlänglich mit ihrem eigenen Überleben befasst.»
Eine friedliche Entwicklung in der Region ist möglich, wenn die Einmischung von aussen aufhört und den Völkern die dazu nötige Zeit zugestanden wird. Für eine solche Erneuerung muss, so Lüders, auch der Glaube derjenigen, die dort leben, berücksichtigt werden: «Von Marokko bis Indonesien spielt der Glaube an Gott eine zentrale Rolle im Leben des einzelnen wie auch der Gesellschaft. Wer annimmt, die Region sei ohne den Faktor Islam zu erneuern, denkt westlich.» Islam und Islamismus sind dabei nicht gleichzusetzen. Dass letzterer vom Westen erst gezüchtet wurde, um ihn dann «zur Freude der Rüstungsindustrie» zu bekämpfen, und wohl auch, um einen Vorwand für die permanente Interventionspolitik zu schaffen, kann im gegenwärtigen geistigen Unklima in unseren Ländern nicht genügend betont werden. «Den ‹Islamischen Staat› ein für alle Mal zu besiegen, hat übrigens in letzter Konsequenz niemand ein wirkliches Interesse. Er liefert den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Interventionsmächte […].»
Michael Lüders räumt mit fast allen Narrativen auf, die in unseren Leitmedien mantrahaft wiederholt werden. Zum Beispiel mit dem Narrativ, dass es sich in Syrien um einen Kampf des Volkes gegen ein böses Regime handle. «Das westliche Narrativ, die gesamte syrische Bevölkerung oder wenigstens doch die überwältigende Mehrheit hätte sich gegen Assad erhoben, ist eindeutig falsch […], weder die religiösen Minderheiten, […], noch die sunnitischen Händler» haben sich bis heute dem Aufstand angeschlossen. Rund die Hälfte der Syrer stehe nach wie vor hinter Assad. «Die westliche Wahrnehmung, die syrische ‹Opposition› verträte das gesamte oder auch nur nennenswerte Teile des syrischen Volkes, entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Das entwertet nicht die Kritik der Oppositionellen am Regime – aber auch in freien Wahlen hätten sie kaum Chancen auf Sieg.» Die meisten Syrer ziehen die jetzige Regierung mit allen Einschränkungen einer Herrschaft der Dschihadisten vor. Ihnen ist es – wie auch den Verantwortlichen im Westen – bekannt, dass die Herrschaft der Dschihadisten die Alternative sein wird, wenn Assad gehen muss.
Der Leser erhält zudem viele Hintergrundinformationen über die verschiedenen Kriegsparteien, die helfen, die zum Teil widersprüchlichen Entwicklungen besser zu verstehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle Englands, das im ganzen Syrien-Konflikt und heute wieder verstärkt durch seine bellizistischen und interventionistischen Hetztiraden auffällt. Wie nebenbei erfährt der Leser, dass Grossbritannien zum zweitgrössten Waffenlieferanten Saudi-Arabiens aufgestiegen ist, dort massive Geschäfte mit dem Tod macht und dazu noch die völkerrechtswidrigen saudischen Luftangriffe auf den Jemen leitet und koordiniert. Soviel zu den Werten, die Aussenminister Johnson regelmässig für sich reklamiert. Dass diejenigen, die «sich allein den Menschenrechten verpflichtet glauben», in Syrien laut schreien, aber zum Jemen schweigen, ist ein anderes Kapitel.
Besonders aktuell sind Lüders Ausführungen zu den Giftgas-Einsätzen auf Ghouta bei Damaskus im Jahre 2013: «Der Giftgas-Angriff auf Ghouta und die Reaktionen darauf sind ein Lehrstück dafür, wie spielend leicht die Öffentlichkeit in einer so elementaren Frage wie Krieg und Frieden manipuliert werden kann […].» Noch heute wird dieses Verbrechen ungeprüft der Regierung Assad angelastet.
Wie gross war das Geschrei, die USA müssten jetzt endlich Damaskus bombardieren, allen voran damals wie heute auch wieder Hillary Clinton und ihr Verbindungsmann zu den Dschihadisten John McCain, die es erst möglich gemacht haben, dass Waffen aus dem libyschen Arsenal in die Hände der dschihadistischen Kämpfer gelangen konnten.
Lüders legt dar: «Die genannten Indizien legen den Schluss nahe, dass nicht das AssadRegime für den Giftgas-Angriff auf Ghouta verantwortlich war, sondern die Nusra-Front, unter Regie der türkischen Regierung.» Denken wir die jüngsten Ereignisse hinzu, so können wir ein weiteres Mal mitverfolgen, wie Kriegsgründe geschaffen werden und eine ahnungslose Bevölkerung massenmedial für reine Interessenpolitik manipuliert wird – hier bei uns im Westen wie auch in den Ländern des Nahen Ostens.
Michael Lüders schliesst sein Buch mit dem Aufruf, eine «Weltordnung zu begründen, die um Ausgleich und Kompromiss unter den jeweiligen Akteuren bemüht ist, einen Dialog auf Augenhöhe führt». Die rechtlichen Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben auf unserer Erde sind ja vorhanden. Auf sie könnte man, so man will, gut aufbauen.
Was kann jeder einzelne tun? Lüders plädiert dafür, den offiziellen Verlautbarungen zu misstrauen und auch medialen Darstellungen nicht unkritisch zu folgen. Es ist doch erschreckend, wie wenig es braucht, «politische Feindbilder zu erzeugen oder am Leben zu erhalten».
Die Lektüre von Lüders Buch hilft, sich gegen die permanenten Manipulationsversuche der Kriegsfraktion zu wappnen, einen eigenen inneren Standpunkt zur Frage von Krieg und Frieden, zur Frage von Recht und Unrecht und zur Frage der Gleichwertigkeit zwischen den Völkern zu entwickeln. Am Ende fordert uns der Autor auf, der Logik aus Macht und Dominanz zu entsagen und uns anders zu denken, unter Einbeziehung all derer, die guten Willens sind. Vielleicht bedürfe es «tatsächlich einer grundlegenden Bewusstseinsänderung, der Einsicht, dass wir keine Wahl haben als unsere Zukunft selbst zu gestalten».
Ein lesenswertes Buch, ein Buch das informiert, das zur Diskussion anregt und ein emotionales Gegengift zur Kriegspropaganda darstellt. Es sollte weite Verbreitung finden unter den vielen Mitbürgern, die sich wie wir für eine Welt des friedlichen Miteinanders einsetzen. •
km. Das neue Buch von Michael Lüders hat in Deutschland sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Ein paar weitverbreitete deutsche Leitmedien haben gegen den Autor scharf polemisiert und versucht, seine Seriosität in Frage zu stellen. Aber das war nicht die durchgängige Reaktion. Michael Lüders wird in ganz Deutschland zu zahlreichen Lesungen und Vorträgen eingeladen, das Kulturmagazin der ARD, «titel, thesen, temperamente», hat Autor und Buch am 30. April positiv gewürdigt. Fazit der Sendung: «Lüders' Buch ist wichtig, man sollte ihm zuhören und mit ihm reden.» Die Universität Trier steht trotz eines Protestbriefes zu einer Gastprofessur des Buchautors – und der Kommentar von zwei für die Vorlesungsreihe verantwortlichen Hochschullehrern spricht für sich: «Den Autoren [des Protestbriefes gegen Michael Lüders] geht es offenkundig darum, die Freiheit der Wissenschaft an der Universität zu behindern, indem man verlangt, jemanden auszuladen, der unbequeme Meinungen vertritt.» Eindrucksvoll auch der Bericht und Kommentar von saarland-fernsehen.de nach der ersten Vorlesung von Michael Lüders in Trier: «Er demaskiert den Narrativ westlicher Politik, ‹in erster Linie Gutes tun zu wollen›, als Deckmantel für interessen- und machtgetriebene Geopolitik. […] Nicht humanitäres Wohlwollen, sondern geopolitisches Kalkül treibt die Grossmächte an […]. Folgt man Michael Lüders’ Vortrag, dann ist er [der Nahe Osten] dem Westen äusserst nahe, wenn es darum geht, dort seine Interessen zu wahren. Aber doch so fern, wenn die Menschen und deren Wohlergehen im Mittelpunkt stehen sollten.»
Der Deutschlandfunk hatte zwar vor allem die Kritik an Lüders referiert, liess ihn aber auch selbst zu Wort kommen, woraufhin der Autor die Vorgehensweise gegen ihn treffend charakterisierte: «Grundsätzlich muss man wohl sagen, wer sich gegen den Mainstream stellt und wer vorherrschende Gewiss-heiten in der Politik, aber auch in der medialen Berichterstattung in Frage stellt, der muss natürlich gewappnet sein, dass er Gegenwind bekommt, denn das gefällt natürlich nicht allen, dass da jemand eine offizielle Lesart, die als richtig empfunden wird, in Frage stellt.» Und: «Mir fällt auf, dass diejenigen, die meine Ansichten teilen, oder generell die Menschen, die nicht eine bestimmte Mainstream-Linie bedienen, häufig nicht in der Sache, sondern als Person kritisiert werden.»
Allem Anschein nach beeindruckt das aber viele Menschen in Deutschland nicht mehr. Das Misstrauen gegenüber dem «Mainstream» ist sehr gross geworden, Kampagnen verweisen auf Menschen, die Interessantes zu sagen haben. Das spricht sich herum.
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