«Auf der Suche nach einer universalen Ethik»

«Auf der Suche nach einer universalen Ethik»

Internationale theologische Kommission, Rom, 2006 –2008

von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, und Dr. phil. Elisabeth Nussbaumer

Im Bewusstsein der Notwendigkeit, das Überleben der Menschheit angesichts der Vielzahl existenzbedrohender Kriege und Krisen auf der Welt zu sichern, widmete sich in den Jahren 2006–2008 eine internationale theologische Kommission der Frage, ob es «objektive sittliche Werte» gibt, «die in der Lage sind, die Menschen zu vereinen und ihnen Frieden und Glück zu verschaffen». (Abs. 1) Mit ihrem Dokument reiht sich die päpstliche Kommission in den geschichtlichen Strom der Menschheit ein, die seit jeher versucht hat, sich Regeln für das sittliche Leben zu geben, die dem gerechten Wohl aller dienen.
Das Dokument beschreibt die im Christentum enthaltenen sittlichen Normen als unmittelbar durch die praktische Vernunft des Individuums erkennbare Werte; sie seien dem Menschen von Natur gleichsam ins Herz geschrieben. Da die menschliche Natur universal ist, geht es darum, die in der Menschennatur angelegten Neigungen zu sittlichem Verhalten zu erfassen, um so naturrechtlich begründete Werte und Normen herauszuarbeiten, die von allen Menschen in allen Kulturen anerkannt werden können. Die Kommission fordert daher die Vertreter anderer Kulturen und Weisheitstraditionen auf, in einen gemeinsamen Dialog einzutreten, um Grundsätze einer universalen Ethik zu formulieren, die für alle Menschen verschiedenster Kulturen und Weisheitstraditionen einsichtig und annehmbar sind und so die Grundlage einer universalen Ethik bilden können. Sie lädt «Experten und Sprecher der anderen grossen religiösen, weisheitlichen und philosophischen Traditionen» ein, «auf der Grundlage ihrer eigenen Quellen» mitzuarbeiten, damit sie gemeinsam zu einer «gegenseitigen Anerkennung universaler sittlicher Normen» gelangen. (Abs. 116) Die Anerkennung und die Förderung dieser ethischen Werte sollen zum Aufbau einer menschlicheren Welt beitragen.

Mit Vernunft und Gewissen begabt

Der Mensch ist – von dieser Gewissheit gehen die Verfasser des Dokuments aus – mit Vernunft und Gewissen begabt und dadurch fähig, Grundwerte des sittlichen Lebens zu erkennen und sein Leben in Einklang mit seinen natürlichen sittlichen Neigungen zu gestalten. Dies gelingt dann, wenn nicht falsche Theorien und Lebenseinstellungen, falsche Motive und Ziele sein Denken irreführen und sein Herz verschliessen.
Solcherart mit Vernunft ausgestattet und fähig, die Wahrheit zu erkennen, neigt der Mensch dazu, mit seinen Mitmenschen in Dialog zu treten und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Die Neigung, in Gemeinschaft zu leben, kommt daher, dass der Mensch von Natur aus den Kontakt mit seinesgleichen sucht, weil er dadurch seine individuellen Grenzen überwindet und so seine soziale Wesensnatur verwirklicht. In diesem sozialen Miteinander wird der Mensch zum Menschen, vervollkommnet sich das Individuum und gelangt in verschiedenen Lebensbereichen zur Reife. (vgl. Abs. 50)

Gefahren des herrschenden Relativismus

Die Verfasser des Dokuments beziehen alle «kulturellen, politischen, ökonomischen, sittlichen und religiösen Dimensionen unserer sozialen Existenz» (Abs. 2) in ihre Überlegungen ein. Sie weisen auf die Gefahren des herrschenden Relativismus und – damit verbunden – auf das alarmierende Staats- und Rechtsversagen in vielen dieser Bereiche hin. Mit ihren Ausführungen wollen sie jedoch keinen Kodex von unantastbaren Vorschriften, kein abgeschlossenes Lehrgebäude der Ethik vorlegen; sie suchen vielmehr nach Grundsätzen einer allgemeingültigen, universalen Ethik, die zu einem zuverlässigen, beständigen und normativen Inspirationsprinzip für ein sittliches Leben der Menschen auf der Erde werden kann. Das Christentum habe kein Monopol auf das natürliche Sittengesetz, denn das natürliche Sittengesetz «gründet in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft und ist die Grundlage der Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens, welche religiöse Überzeugungen sie auch haben mögen». (Abs. 9)
Es geht also beim natürlichen Sittengesetz um eine Grundorientierung für das sittliche Handeln und nicht um konkrete Verhaltensregeln, denen sich das Individuum automatisch unterwerfen soll: Je mehr sich die sittlichen Reflexionen auf konkretes Handeln beziehen, «desto mehr sind ihre Folgerungen von einem Merkmal der Wandelbarkeit und Ungewissheit betroffen». (Abs. 53) Die konkreten Anwendungen des natürlichen Sittengesetzes können sich in verschiedenen Epochen oder Kulturen ändern. Als Beispiele werden Sklaverei, Zinsnahme, Duell oder Todesstrafe genannt. Deshalb seien die Reflexion und der Dialog über die Konkretisierungen der Ethik wichtig. Zudem müsse das sittliche Subjekt über eine bestimmte Zahl innerer Dispositionen (entwickeltes Gewissen) verfügen, die ihm erlauben, zugleich offen für seine sittliche Grundorientierung und gut informiert über die Gegebenheiten der konkreten Situation ein Gewissensurteil zu fällen. (Abs. 55)
Die Verfasser weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Bildung hin, die den Menschen ermöglichen soll, die universalen Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes «an die konkreten Existenzbedingungen in den verschiedenen kulturellen Kontexten anzupassen». (Abs. 56) «Tatsächlich nimmt diese Perspektive zur Kenntnis, dass die Wissenschaft von der Sittlichkeit dem handelnden Subjekt keine Norm zur Verfügung stellen kann, die sich auf angemessene Weise und wie automatisch auf die konkrete Situation anwenden liesse: nur das Gewissen des Subjekts, das Urteil seiner praktischen Vernunft, kann die unmittelbare Norm des Handelns formulieren. […] Das natürliche Sittengesetz sollte also nicht vorgestellt werden als eine schon bestehende Gesamtheit aus Regeln, die sich a priori dem sittlichen Subjekt auferlegen, sondern es ist eine objektive Inspirationsquelle für sein höchst personales Vorgehen der Entscheidungsfindung.» (Abs. 59)

Die personal-soziale Wesensnatur des Menschen

Im Zentrum aller Überlegungen steht die personal-soziale Wesensnatur des Menschen, dergemäss der Mensch, mit Vernunft, Geist und Gewissen begabt, eine ihm innewohnende Würde hat. Infolgedessen steht «die Person […] im Mittelpunkt der politischen und sozialen Ordnung, weil sie ein Ziel in sich ist und kein Mittel […]. Die Person ist von Natur aus ein soziales Wesen, nicht auf Grund von Entscheidungen oder reiner vertraglicher Festlegung.» (Abs. 84) Daher gilt: «Die Person geht […] der Gesellschaft voraus, und die Gesellschaft ist nur humanisierend, wenn sie auf die Erwartungen antwortet, die der Person als soziales Wesen eingeschrieben sind.» (Abs. 86) Damit sind die «inneren Neigungen» der menschlichen Wesensnatur angesprochen, die den Menschen als Person gemeinsam mit anderen veranlassen, nach «dem sittlich Guten» zu suchen. Der Mensch beginnt «darauf zu hören», was die «grundlegenden Neigungen» seiner Natur sind, die ihn mit allen Menschen verbinden. (vgl. Abs. 45) Dabei ist jeder Mensch immer vor die Situation gestellt, seinem Gewissen folgend oder geleitet durch «emotionale Intelligenz» (Abs. 57), sittlich gute Entscheidungen zu treffen.

Drei Komplexe natürlicher Antriebe des Menschen

Das Dokument nennt drei Komplexe natürlicher Antriebe des Menschen: «Der erste, den der Mensch mit jedem Wesen gemeinsam hat, beinhaltet wesentlich die Neigung, seine Existenz zu erhalten und zu entwickeln.» (Abs. 46) Der zweite Komplex, den er mit allen Lebewesen teilt, «umfasst die Neigung, sich fortzupflanzen zum Fortbestehen der Art». (Abs. 46) Dabei betonen die Autoren: «Der Antrieb zur Fortpflanzung ist innerlich verbunden mit der natürlichen Hinneigung des Mannes zur Frau und der Frau zum Mann, die eine universal anerkannte Tatsache in allen Gesellschaften darstellt. Dasselbe gilt für die Neigung zur Sorge für die Kinder und für deren Erziehung.» (Abs. 49) Schon dadurch ist die Beziehung von Mann und Frau auf Dauer angelegt, worin der Wert der Treue gegründet liegt. (Dritter Komplex siehe Abschnitt «Neigung in Gemeinschaft zu leben»)

Entscheidende Bedeutung von Bildung und Erziehung

In diesem Zusammenhang wird die entscheidende Bedeutung der Bildung und der Erziehung für die Menschwerdung betont. Die natürlichen Neigungen zu sittlichem Verhalten beginnen sich im frühen emotionalen Dialog zwischen Mutter und Kind zu entfalten. So beginnt die Entwicklung der seelischen Grundlage für die Lösung existentieller Lebensaufgaben: «Erst nach und nach gelangt die menschliche Person zur sittlichen Erfahrung und wird fähig, sich selbst die Vorschriften zuzusprechen, die ihr Handeln leiten sollen. Sie gelangt dorthin in dem Masse, wie sie von Geburt an, beginnend mit der Familie, in ein Netz menschlicher Beziehungen eingefügt ist, die ihr erlaubt haben, sich nach und nach ihrer selbst und der sie umgebenden Wirklichkeit bewusst zu werden. Das geschieht insbesondere durch das Erlernen einer Sprache – der Muttersprache, die lehrt, die Dinge zu benennen, und erlaubt, zum seiner selbst bewussten Subjekt zu werden.» Geleitet durch die ersten Bezugspersonen und geprägt durch die Kultur, in die das Kind eingebettet ist, nimmt es «bestimmte Verhaltens- und Denkweisen als Werte wahr, die es anzustreben gilt, als Gesetze, die zu befolgen sind, als nachahmenswerte Beispiele, als Sichtweisen der Welt, die es zu übernehmen hat. Der soziale und kulturelle Kontext spielt also eine entscheidende Rolle in der Erziehung zu sittlichen Werten.» (Abs. 38)

Neigung, in Gemeinschaft zu leben

Den dritten Komplex bildet die Neigung des Menschen, in Gemeinschaft zu leben. Die Gemeinschaft ist «spezifisch für den Menschen als geistiges Wesen, der mit Vernunft ausgestattet und befähigt ist, die Wahrheit zu erkennen, mit anderen in Dialog zu treten und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen». Diesem Aspekt, so betonen die Verfasser, «muss man also eine ganz besondere Bedeutung beimessen». (Abs. 50) – Die Neigung, in Gemeinschaften zu leben, «kommt zunächst daher, dass der Mensch der anderen bedarf, um die innewohnenden individuellen Grenzen zu überwinden und seine Reife in verschiedenen Bereichen seiner Existenz zu erlangen. Um seine geistige Natur voll zur Entfaltung zu bringen, muss er jedoch mit seinesgleichen Beziehungen grosszügiger Freundschaft schliessen und eine intensive Zusammenarbeit in der Suche der Wahrheit entwickeln. Sein vollständiges Wohl ist so eng an ein Leben in Gemeinschaft gebunden, dass er sich kraft einer naturgegebenen Neigung und nicht auf Grund einer einfachen Übereinkunft in einer politischen Gesellschaft organisiert.» (Abs. 50)

Bedeutung des Naturrechts

Damit ist der Kern des christlichen wie des säkularen Naturrechts angesprochen. Historisch wurde der entscheidende Durchbruch des Naturrechts mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 erreicht. Die Menschenrechtskonvention, so die Verfasser, «bleibt eine der höchsten Ausdrucksformen des menschlichen Gewissens in unserer Zeit und bietet eine solide Basis für die Förderung einer gerechteren Welt», denn die Konvention leitet sich von der «Anerkennung der angeborenen Würde aller Mitglieder der Menschheitsfamilie» (Abs. 5) ab. Damit ist der Relativismus des Rechts wie auch die willkürliche Herrschaft des positiven, von Menschen gesetzten Rechts ausgeschlossen. Das von Menschen gesetzte, positive Recht muss sich letztlich am Naturrecht und am natürlichen Sittengesetze messen; nur so kann es sich als gerechtes Recht erweisen.

Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität

Das sittliche Gesetz im Sinne einer universalen Ethik «lässt sich gemäss der Soziallehre der [katholischen] Kirche durch vier Werte umschreiben, die sich von den natürlichen Neigungen des Menschen herleiten und die Umrisse des Gemeinwohls skizzieren, das die Gesellschaft anzustreben hat, und zwar: Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diese vier Werte entsprechen den Erfordernissen einer ethischen Ordnung in Übereinstimmung mit dem natürlichen Sittengesetz.» (Abs. 87) Wenn einer der Werte fehlt, ist das Gemeinwesen in Gefahr, in Rechtlosigkeit oder unter die Herrschaft des Stärkeren zu verfallen. Ohne Freiheit, die in der Personnatur des Menschen angelegt ist, ist keine soziale, menschliche und politische Ordnung möglich. «Ohne die Suche nach der Wahrheit und die Achtung ihr gegenüber gibt es keine Gesellschaft, sondern die Diktatur des Stärksten.» (Abs. 87) Ebenso gibt es ohne Gerechtigkeit «keine Gesellschaft, sondern die Herrschaft der Gewalt. Die Gerechtigkeit ist das höchste Gut, zu dem das Gemeinwesen verhilft.» (Abs. 87)
Hier zeigt sich deutlich, dass das Individualwohl mit dem Gemeinwohl zusammengeht und Recht, Ethik, Sittlichkeit und Frieden auf der Wesensnatur, der Würde des Menschen aufbauen.

Ethische Grundlagen des Rechts und der Politik

Recht und Gerechtigkeit im Sinne einer universalen Ethik hängen zentral mit dem Naturrecht zusammen. Die Wissenschaftler der päpstlichen Kommission gehen darum genauer auf die gegenwärtigen Gefahren des Relativismus, des Pluralismus und des Rechtspositivismus ein. Sie betonen, dass seit mehreren Jahrzehnten «die Frage der ethischen Grundlagen des Rechts und der Politik in bestimmten Sektoren der gegenwärtigen Kultur ausgeklammert […]» (Abs. 7) wird. Dies «unter dem Vorwand, dass jeder Anspruch auf eine objektive universale Wahrheit Quelle von Intoleranz und Gewalt sei und dass allein der Relativismus den Pluralismus der Werte und die Demokratie erhalten könne». (Abs. 7) Der herrschende Relativismus dient, so die Autoren, «letztlich nur den Interessen der Mächtigsten». (Abs. 5) «Vor allem zeigt sich eine Tendenz, die Menschenrechte zugunsten eines rein utilitaristischen Legalismus neu zu interpretieren und sie von der ethischen und rationalen Dimension abzutrennen» (Abs. 5), die grundlegend für unser Zusammenleben sind. Die Verfasser beziehen sich auf Papst Benedikt XVI., der 2007 anlässlich eines internationalen Kongresses über das natürliche Sittengesetz darauf hinwies, dass man versuche, «private Interessen oder Wünsche, die den aus der sozialen Verantwortung erwachsenden Verpflichtungen zuwiderlaufen, in Rechte umzuwandeln». (Abs. 7) Damit sei der Weg offen «für die Willkür der Macht, für die Diktatur der zahlenmässigen Mehrheit und für die ideologische Manipulation, zum Schaden des Gemeinwohls». (Abs. 7)

Die Notwendigkeit einer universalen Ethik

Deshalb betonen die Autoren die Notwendigkeit einer universalen Ethik im Sinne des natürlichen Sittengesetzes für eine politische Ordnung des Friedens, des Individual- und Gemeinwohls: «Die Gesellschaft, die im Hinblick auf das Gemeinwohl ihrer Mitglieder organisiert ist, antwortet auf eine Anforderung der sozialen Natur der Person. Das natürliche Sittengesetz erscheint also als normativer Horizont, in dem die politische Ordnung sich ihrer Berufung nach bewegen soll. Es definiert die Gesamtheit der Werte, die für eine Gesellschaft als humanisierend erscheinen. Es stellt sich beispielsweise den Bürgern in einer Demokratie die Aufgabe, durch ehrliches Abwägen der konkreten Lebensumstände vor dem Hintergrund des natürlichen Sittengesetzes zu einer weisen Einigung zu kommen. (Abs. 86) «So muss das Gemeinwesen den Personen, die es bilden, das Nötige zur vollen Verwirklichung ihres menschlichen Lebens zur Verfügung stellen, einschliesslich bestimmter geistiger und religiöser Werte, sowie die Freiheit für die Bürger und Bürgerinnen, gegenüber dem Absoluten und den höchsten Werten ihre eigene Position einzunehmen.» (Abs. 96) «Sobald man sich auf dem sozialen und politischen Feld befindet, können die Werte nicht mehr privater, weltanschaulicher oder konfessioneller Natur sein: sie betreffen alle Bürger und Bürgerinnen.» (Abs. 86)
So ist die gegenseitige Hilfe und Solidarität unter den Menschen das Entscheidende, sich für die gerechten Anliegen des anderen und der Gemeinschaft einzusetzen, wie es in der Lebensform der direkten Demokratie und in den Genossenschaften zum Ausdruck kommt. «Das ist es, was man das ‹Gemeinwohl› nennt. […] Als Gut aller und jedes einzelnen bringt es die gemeinschaftliche Dimension des menschlichen Wohls zum Ausdruck.» (Abs. 85)

Vier Bereiche einer universalen Ethik

Vier wichtige Bereiche im Zusammenhang mit dem natürlichen Sittengesetz im Sinne einer universalen Ethik sind es, die die Verfasser des Dokuments nennen:
1)    «Angesichts des Aufstiegs einer Kultur, die Rationalität auf die harten Wissenschaften beschränkt und das sittliche Leben dem Relativismus preisgibt, besteht sie auf der naturgegebenen Fähigkeit der Menschen, mit ihrer Vernunft – die ethische Botschaft, die im Sein enthalten ist – zu erfassen und die Grundnormen eines gerechten Handelns in Übereinstimmung mit ihrer Natur und ihrer Würde in deren grossen Linien zu erkennen. Das natürliche Sittengesetz antwortet so auf die Anforderungen, die Menschenrechte vernünftig zu begründen, und es macht einen interkulturellen und interreligiösen Dialog möglich, der den universalen Frieden zu begünstigen und den ‹Kampf der Kulturen› zu vermeiden vermag.» (Abs. 35)
2)    «Angesichts des relativistischen Individualismus, der jedes Individuum als Quelle seiner eigenen ‹Werte› betrachtet und die Gesellschaft als Ergebnis eines blossen Vertrags zwischen Individuen, die sich dafür entscheiden, daraus alle Normen selbst festzulegen, […]» kann das soziale und politische Leben nicht sichergestellt werden. «Insbesondere ist die demokratische Regierungsform innerlich an stabile ethische Werte gebunden, die ihre Quellen» nicht in einem Individualismus oder Relativismus haben, sondern «die ihre Quellen in den Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes haben und die folglich nicht von den Schwankungen im Konsens einer zahlenmässigen Mehrheit abhängen.» (Abs. 35)
3)    «Angesichts eines aggressiven Laizismus, der die Gläubigen aus der öffentlichen Debatte ausschliessen will, hebt die Kirche hervor, dass die Beiträge der Christen im öffentlichen Leben zu Themen, die das natürliche Sittengesetz betreffen (Verteidigung der Rechte von Unterdrückten, Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen, Verteidigung des Lebens und der Familie, Religionsfreiheit und Freiheit der Erziehung), nicht von sich aus einen Bezug zum Glaubensbekenntnis haben, sondern aus der Sorge hervorgehen, die jeder Bürger und jede Bürgerin für das Gemeinwohl der Gesellschaft haben soll.» (Abs. 35)
Als vierter Bereich wird im Dokument die Gewissensfreiheit sowie die Pflicht zum Ungehorsam hervorgehoben, wenn das natürliche Sittengesetz im Sinne des Individual- und Gemeinwohls verletzt wird:
4)    «Angesichts der Bedrohungen des Machtmissbrauchs bzw. des Totalitarismus, den der Rechtspositivismus in sich birgt und den bestimmte Ideologien vermitteln, erinnert die Kirche daran, dass die Zivilgesetze nicht im Gewissen verpflichten, wenn sie im Widerspruch zum natürlichen Sittengesetz stehen, und proklamiert die Anerkennung des Rechts auf Widerstand im Gewissen sowie die Pflicht zum Ungehorsam im Namen des Gehorsams gegenüber einem höheren Gesetz. Der Bezug zum natürlichen Sittengesetz bringt keineswegs Konformismus hervor, sondern garantiert die persönliche Freiheit und tritt für diejenigen ein, die durch soziale Strukturen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl vernachlässigt und unterdrückt werden.» (Abs. 35)

Grundwerte müssen vorgelebt werden

Die Grundwerte im Sinne des natürlichen Sittengesetzes müssen dem einzelnen Menschen von Kind an vorgelebt und in den Schulen sowie an den Universitäten gelehrt werden. Psychologische Erkenntnisse zeigen, dass das sittliche Empfinden beim Individuum in einem geglückten Erziehungsprozess am elterlichen Vorbild emotional erfahren wird, im Netz zwischenmenschlicher Beziehungen zur Entfaltung kommt und gefestigt wird. Die kindliche Wesensnatur ist ganz auf die soziale Kooperation mit den Erziehern ausgerichtet. Die Familie hat hier ihre Kernaufgabe, die von Schule, Religion und der Gesellschaft unterstützt werden soll, um zu einer echten und lebendigen Demokratie und zum Frieden beizutragen.

Lebensaufgaben in Familie, Arbeit und grösserer Gemeinschaft

Hier wird deutlich, dass das Leben auf der Grundlage des natürlichen Sittengesetzes und des Naturrechts immer aufgabenhaft ist. Die Lebensaufgaben in Familie, Arbeit und in der grösseren Gemeinschaft, der Nation, zum allgemeinen Wohl zu bewältigen (vgl. Abs. 84) ist nur in gleichwertigen Beziehungen mit anderen Menschen möglich. Der Mensch kann seine Persönlichkeit nur in Kooperation mit der menschlichen Gemeinschaft voll entwickeln. Nur so kann er seinen Lebensaufgaben gerecht werden und seinen Beitrag zur Kultur leisten. Das schreibt ihm sozusagen seine Natur vor. So ist das Naturrecht nicht eigentlich vom Menschen geschaffen, obschon er es durch Jahrhunderte des kulturellen Lebens immer genauer formuliert hat. Es ist dem Menschen vorgegeben und steht nicht in seiner Verfügungsgewalt.
Darum müssen der gegenwärtige Kulturkrieg, der organisierte Bildungsabbau und die systematische Demontage der menschlichen Grundwerte und der Nationalstaaten gestoppt werden. Mit dem hier vorgelegten Beitrag verfolgen die zitierten Professoren und Theologen «kein anderes Ziel, als dabei zu helfen, über diese Quelle der personalen und gemeinschaftlichen Sittlichkeit nachzudenken». (Abs. 115)

Einladung zum Dialog für ein friedliches Zusammenwirken

Die Verfasser des Dokuments laden «jenseits der Divergenzen unserer religiösen Überzeugungen und der Verschiedenheit unserer kulturellen Voraussetzungen» (Abs. 116) zum Dialog für das friedliche Zusammenwirken mit folgenden Worten ein: «Wir leisten unseren eigenen Beitrag zur Suche nach einer universalen Ethik und legen eine rational vertretbare Grundlage vor; damit möchten wir Experten und Sprecher der grossen religiösen, weisheitlichen und philosophischen Traditionen der Menschheit zu einer entsprechenden Arbeit auf der Grundlage ihrer eigenen Quellen einladen, um zur gegenseitigen Anerkennung universaler sittlicher Normen zu gelangen, die in einem rationalen Zugang zur Wirklichkeit gründen. Diese Arbeit ist notwendig und dringlich. Wir müssen jenseits der Divergenzen unserer religiösen Überzeugungen und der Verschiedenheit unserer kulturellen Voraussetzungen dazu gelangen, uns zuzusprechen, welches die grundlegenden Werte für unser gemeinsames Menschsein sind, so dass wir zusammenarbeiten, um das Verständnis, die gegenseitige Anerkennung und die friedliche Zusammenarbeit unter allen Mitgliedern der Menschheitsfamilie zu fördern.» (Abs. 116)
Zum Schluss sei hier das ganze Dokument zur Lektüre empfohlen. Seine Reichhaltigkeit und Tiefe, die stringent und konzise hergeleiteten Aussagen sind für jeden friedliebenden Menschen eine Wohltat.    •

Quelle: <link http: www.vatican.va roman_curia congregations cfaith cti_documents rc_con_cfaith_doc_20090520_legge-naturale_ge.html>www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_con_cfaith_doc_20090520_legge-naturale_ge.html 

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK