Immer wieder drängt es mich, eines der Bücher zur Hand zu nehmen, die mir bereits in meiner Kindheit ans Herz gewachsen sind. Eines hat mich immer begleitet. Aus dem schöpfe ich heute noch sehr vieles, das mir im Alltag von Bedeutung ist. Es handelt sich um «Das Grosse Balladenbuch», in dem die schönsten und wichtigsten Werke der deutschsprachigen Lyrik herausgegeben wurden und das Kindern und Jugendlichen zur Lektüre empfohlen wurde. Heute besitze ich natürlich eine Vielzahl von Gedicht- und Balladenbüchern, und in allen sind wahre Schätze der Dichtkunst gesammelt. Im Eingangstext zum Grossen Balladenbuch wird eine Stelle aus Goethes «Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Diwans» zitiert, in denen er von den Dichtarten spricht:
«Es gibt drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik, Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebilde hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker gewahr werden.»
Für mich persönlich sind es die grossen Weisheiten, welche in den Gedichten und Balladen zum Ausdruck kommen, die mich faszinieren und bewegen. Aus unserer heutigen Sicht kommen häufig tiefe psychologische Einsichten und Erkenntnisse zur Sprache, und die Belehrung auf höchstem menschlichen Niveau spielt dabei eine zentrale Rolle. Viele Beispiele dafür sind bekannt: «Der Zauberlehrling», «Belsazar», «Die Kraniche des Ibykus», «Des Sängers Fluch» und viele mehr. Es erfüllt mich immer wieder mit einer tiefen Ergriffenheit, Schillers «Bürgschaft» zu lesen, den Wert und die Bedeutung von Freundschaft, die dort zum Ausdruck kommt, kann man dramatischer und ergreifender nicht darstellen. Aber auch andere, kleinere und weniger bekannte Werke sind wahre Schätze der Literatur: Zum Beispiel «Das Riesenspielzeug» von Adalbert Chamisso oder «Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland» von Theodor Fontane.
Hier möchte ich gerne eine Ballade vorstellen, die gerade in der heutigen Zeit grosse Aktualität besitzt. Sie spricht einen Aspekt an, der im Zusammenleben der Menschen grosse Bedeutung besitzt, aber in der Zeit eines überbordenden Konsumwahns und der Selbstgefälligkeit zunehmend schwächer wird und Gefahr läuft, ganz verlorenzugehen: Es ist die Bescheidenheit und die Wertschätzung der kleinen, unscheinbaren Dinge des Lebens.
Als noch, verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf der Erden ging
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt er sich gar über die Massen,
Seinen Hof zu halten auf der Strassen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht.
Er liess sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören;
Besonders durch Gleichnis und Exempel
Macht’ er einen jeden Markt zum Tempel.
So schlendert er in Geistes Ruh
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Strass’,
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
«Heb doch einmal das Eisen auf!»
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte soeben im Gehen geträumt,
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt:
Denn im Kopf hat das keine Schranken;
Das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Kron und Zepter sein;
Aber wie sollt er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und tut, als hätte er’s nicht gehört.
Der Herr, nach seiner Langmut, drauf
Hebt selber das Hufeisen auf
Und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Tür,
Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
Kauft ihrer so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreier geben will,
Die er sodann nach seiner Art
Ruhig im Ärmel aufbewahrt.
Nun ging’s zum andern Tor hinaus,
Durch Wies und Felder ohne Haus,
Auch war der Weg von Bäumen bloss;
Die Sonne schien, die Hitz war gross,
So dass man viel an solcher Stätt
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
Lässt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldener Apfel wär;
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr, nach einem kleinen Raum,
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
Wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So lässt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
«Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
Hättst du’s bequemer haben mögen.
Wer geringe Dinge wenig acht’t,
Sich um geringere Mühe macht.»
Johann Wolfgang von Goethe
PS Bis heute erscheinen immer wieder Werke, die Balladen gesammelt haben, 2016 zum Beispiel «Das grosse Balladenbuch» mit von Christian Strich gesammelten Texten, reichlich bebildert von Tatjana Hauptmann.
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