Dem Boten zuhören … oder ihn umbringen?

Dem Boten zuhören … oder ihn umbringen?

Zum Buch «Unter unseren Augen: vom 11. September zu Donald Trump»1 von Thierry Meyssan

von Arno Mansouri, Direktor des Verlags Demi-Lune, Frankreich

Thierry Meyssan* ist ein Autor, wie es ihn selten gibt: 10 Jahre sind verstrichen seit seinem letzten Werk, 15 seit dem Erscheinen der beiden Bücher, die ihn international bekannt machten und die ich 2007 neu aufgelegt habe.2 Ich konnte es nicht akzeptieren, dass sie «nicht mehr lieferbar» waren für unsere Mitbürger. Wie Sie schnell bemerken werden, schreibt Meyssan nicht, wie viele andere, über Banalitäten oder – was aufs Gleiche herauskommt – um die Illusionen, in denen wir leben, aufrechtzuerhalten.
Seine Überlegungen konfrontieren uns mit der Realität, was sicher unangenehm ist, aber notwendig, um nicht zu sagen heilsam. Seine Analysen befreien uns nicht nur aus der Zwangsjacke der täglichen Propaganda, sondern vor allem von unseren bequemen Gewissheiten.
Er ist der Bote, der sehr schlechte Nachrichten überbringt: Die westlichen «Demokratien» – welche die Presse fälschlicherweise «internationale Gemeinschaft» nennt, obwohl sie im ganzen nur etwa 8 % der Weltbevölkerung ausmachen –, das heisst die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland, rufen in der arabischen Welt ein Chaos hervor und unterhalten es. Unter dem Deckmantel nobler Ziele (Demokratie exportieren, unterdrückten Völkern zu Hilfe eilen, Krieg gegen den Terrorismus führen) haben sie Afghanistan, den Irak, Libyen, Syrien, den Jemen und Somalia destabilisiert, besetzt und zerstört – um nur von den muslimischen Ländern zu sprechen. Sie sind die wahren Verantwortlichen für Hunderttausende Toter und Millionen Verletzter, Vertriebener, Flüchtlinge und Migranten aus der Zivilbevölkerung dieser Länder. Sie haben die Terroristen, die manchmal auch auf unserem Boden zuschlagen, geschaffen, mit Geld und Waffen ausgerüstet und teilweise auch ausgebildet. Barbaren bei uns, «moderate» Rebellen in Libyen und Syrien – es sind die gleichen Individuen, die im Namen der gleichen Ideologie agieren, die ihren Ursprung bei unseren saudischen und katarischen «Freunden» hat.
Diese wirklich erschreckenden Wahrheiten gehören natürlich zum Unsagbaren: Sie dürfen ganz einfach nicht in den Medien dargelegt werden, und jeder, der dies macht, wird umgehend mit dem Schandmal des «Verschwörungstheoretikers» stigmatisiert, als «Freund der Mullahs und der weltweit-schlimmsten-Diktatoren» verurteilt oder als «Revisionist in Echtzeit» verleumdet. Nichts wirklich Neues: Es gehört von jeher zur Grundlage jeder Kriegspropaganda, den Pazifisten als Verräter zu diffamieren. Seit den Attentaten vom 7. Januar [2015, Charly Hebdo, Paris] und 13. November [2015, Bataclan und Stade de France, Paris] hat sich der Zeiger jedoch leicht bewegt: Es kommt nun manchmal vor, dass echte Fachleute eingeladen werden und sich über den Terrorismus oder die betroffenen Regionen äussern dürfen. Deren Aussagen stehen oft in totalem Gegensatz zur allgemeinen, in den Medien veröffentlichten Meinung und gehen oft in die gleiche Richtung wie die Analysen dieses Buchautors.
Für Thierry Meyssan zählt einzig das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Völkerrecht. Dieses Recht wird von den westlichen Ländern mit Füssen getreten und sowohl von den politisch Verantwortlichen in Frankreich als auch von der Medienwelt («Editokraten») völlig ignoriert. Wie stark hat sich doch die Stimmung in Frankreich seit der Friedensrede Dominique de Villepins vor dem Sicherheitsrat der Uno von 2003 bis zur heutigen verheerenden Kriegssituation in verschiedenen Teilen der Welt geändert! Wie kommt es, dass unsere führenden Politiker – von Rechts und Links – in weniger als 10 Jahren imperialistischer als das Imperium und neokonservativer als die Amerikaner geworden sind? Wie kann man widerspruchslos akzeptieren, dass der Chef der französischen Diplomatie (!) [der Aussenminister] öffentlich zum Mord an einem Staatschef aufruft?3 Zur Erinnerung: Diese Aussage wurde nur 10 Monate nach dem Lynchmord an Muammar al-Gaddafi gemacht und hätte alle unsere parlamentarischen Volksvertreter dazu bewegen müssen, die Demission dieses verantwortungslosen Politiker zu fordern; sie hat jedoch in Frankreich keinerlei Auseinandersetzung darüber ausgelöst.

Von der «Verschwörungstheorie» zur Ära des Postfaktischen

Dieses Buch erscheint zur gleichen Zeit, in der die französische, obrigkeitshörige Tageszeitung «Le Monde» eine Art Index Librorum Prohibitorum – Decodex genannt – schafft. Dazu macht sie einen geschichtlichen Rückgriff um 500 Jahre, um dieses Instrument allen Internet-Nutzern als modernstes Mittel zur «Überprüfung der Quellen» anzupreisen. Unfähig, die wahren Gründe für den Brexit und die Wahl Donald Trumps vorauszusehen und zu erklären, widmen die Mainstream-Medien unzählige Artikel dem Thema des «Postfaktischen». Dieser völlig verschwommene Begriff soll erklären, wie die Wähler durch die «Lügen» («alternative Fakten») der englischen und amerikanischen «Populisten» oder der «russischen Geheimdienste des bösen Putins» in die Irre geführt wurden. Wie wenn Lüge, Verdrehung, Instrumentalisierung zum Grundwerkzeug nur einer Seite gehörten. Eine solche Absurdität ist kaum mehr zu überbieten.
Es ist keineswegs nebensächlich, dass der Wikipedia-Artikel über das «Postfaktische», die Kritik an der offiziellen Version der Anschläge vom 11. September als wichtigstes Beispiel einer «Verschwörungstheorie» anführt. Das ist vielsagend! Anstatt die Stichhaltigkeit der Argumente derjenigen zu untersuchen, die die offizielle Version dieser Attentate anzweifeln, zieht man es vor, sie aller möglichen Übel zu bezichtigen. So werden sie zu Ketzern und zu denjenigen abgestempelt, welche die Stimmbürger so verwirren, dass sie nicht mehr in der Lage sind, richtig zu wählen!

Eine Welt, die sich derjenigen von «Orwell» immer mehr annähert

Der faszinierendste Zaubertrick ist sicherlich die Art und Weise, wie al-Kaida vom Status eines absoluten Schreckgespenstes, einer «undurchsichtigen terroristischen Vereinigung», die 10 Jahre lang beschuldigt wurde, den westlichen Lebensstil zerstören zu wollen, im Libyen- und Syrien-Krieg zu einem echten Alliierten des gleichen Westens werden konnte. Obwohl dies nie offiziell zugegeben wurde, ist es öffentlich bekannt, dass die libyschen «Revolutionäre» wie auch die al-Nusra-Kämpfer Mitglieder dieser terroristischen Organisation sind oder ihr Treue geschworen haben. Um diese spektakuläre und kaum vorstellbare «erneute Umkehr» zu bewirken – denn in den 1980er Jahren wurden die Taliban und diejenigen, die später zu al-Kaida mutierten, noch von Präsident Ronald Reagan empfangen, der sie als authentische «Friedenskämpfer» gegen die damalige Achse des Bösen, die UdSSR, feierte –, genügte es, sich des «Phantoms» bin Laden zu entledigen, indem man einen neuen Bösewicht erschuf: den «Islamischen Staat». Wie in Orwells Buch «1984» wird die Geschichte ständig neu geschrieben, damit sie den jeweiligen Bedürfnissen der momentan aktuellen Propaganda entspricht.

Kriegspropaganda und Medienlügen

Es ist wichtig zu betonen, dass die Propaganda, die sich selber am Leben erhalten muss, immer wieder neue Lügen braucht, um ihre Wirkung nicht zu verlieren. Es geht darum, die Vernunft zu untergraben. Und tatsächlich, es ist eine ständige Anreicherung und Wiederholung notwendig, um mit der Kraft einer Dampfwalze das kritische Denken zu unterdrücken: Dieser Druck darf nie aufhören, da sonst – angesichts der wieder aufkommenden Kraft der Beweiselemente und der Hohlheit der Propaganda – alles zusammenbricht. Unfähig, die kleinste ihrer Anschuldigungen zu beweisen, sind die Propagandisten gezwungen, immer wieder Neues zu erfinden, um die ältesten und offensichtlichsten Lügen in Vergessenheit geraten zu lassen.
Es scheint mir aber wichtig zu betonen, dass die Journalisten als Ganzes, wie auch die Politiker kaum bewusst lügen. Sie stehen nicht morgens auf und fragen sich, welche Geschichte sie nun erzählen wollen, um das «Assad-Regime» noch etwas mehr verteufeln zu können. So wie es Thierry Meyssan aufzeigt, ist die Realität weit komplexer: Es geht um einen absolut faszinierenden Fall von Autointoxikation der Politiker durch die Medien (und umgekehrt), gestützt auf einen grossen Teil Blindheit, einen Mangel an Urteilskraft und an wahrem Verständnis der Realitäten und der Herausforderungen. Daneben geht es auch um Hab- und Machtgier der ersten sowie intellektuellen Bequemlichkeit, Naivität, Dummheit oder Unterwürfigkeit der zweiten. Wenn Sie sich in eine Nachrichten-Redaktion (TV, Radio oder Presse) begeben oder auch einen Journalisten einzeln befragen, so wird jeder Ihrer Gesprächspartner Ihnen ohne weiteres bestätigen, dass «die Wahrheit das erste Opfer jeglichen Krieges ist» oder, dass es nie einen Krieg gegeben hat, der ohne Propaganda ausgekommen wäre. Das sind absolute, universelle und offen gesagt banale Tatsachen. Wenn es jedoch um internationale Politik geht, so publizieren die meisten Medien nur das, was ihnen ihre Regierung sagt, ohne sie jemals, auch nur ansatzweise, öffentlich in Frage zu stellen. So hat man uns zum Beispiel in den ersten zwei Jahren der Syrien-«Krise» fast täglich eingetrichtert, dass der Sturz des syrischen Regimes unmittelbar bevorstehe. So was bezeichnet man gewöhnlich als reines Wunschdenken – Selbst-Überzeugung zeigt jedoch in der internationalen Geo­politik wenig Wirkung. Die Beweise, dass «Bashar» [al-Assad] Giftgaswaffen benutzt hat? Völlig unnötig, sie zu suchen, und noch weniger, sie vorzulegen, da ja Präsident Hollande und sein Aussenminister Fabius bereits behauptet haben, sie zu besitzen! In diesem speziellen Fall kann zwar ein solcher Quatsch bei einer bestimmten Schicht geistloser und vergesslicher französischer Medienvertreter eine gewisse Illusion entstehen lassen. Aber die Verantwortlichen der britischen und US-amerikanischen Politik (mit Cameron und Obama an der Spitze) wissen sehr wohl, dass die öffentliche Meinung in ihren Ländern sich nicht nochmals durch eine verlogene Rhetorik über «von einem Tyrannen des Nahen Ostens benutzte Massenvernichtungswaffen» wird täuschen lassen. In Meyssans Buch wird dieses Thema nicht zentral behandelt. Die Art und Weise jedoch, wie er die Entstehung von Propaganda anhand konkreter Beispiele beschreibt, ist äusserst erhellend.
Abschliessend möchte ich den grossen Mut von Thierry Meyssan würdigen, der sich entschieden hat, seinen Kampf gegen den Imperialismus und für das Völkerrecht nicht von einer luxuriösen Pariser Wohnung aus zu führen, sondern indem er sich selber in die Kriegsgebiete Libyen und Syrien begab und sein Leben aufs Spiel setzte, um von dort aus über die Situation berichten zu können. Im August 2011, nach dem Sturz von Tripolis, musste man während mehrerer Tage das Schlimmste befürchten, bevor man mit grosser Erleichterung erfuhr, dass er wohlbehalten exfiltriert worden war. Er ist einer der ganz wenigen Franzosen, wenn nicht der einzige, der seit sechs Jahren vor Ort in Syrien lebt. Seine Analysen haben einen speziellen Wert und sind äusserst aufschlussreich. Lesen wir sie.    •

*    Thierry Meyssan, 1957 geboren, ist ein französischer Schriftsteller und international tätiger Geo­politologe. Er ist Gründer und Präsident des Reseau Voltaire (www.voltairenet.org) und lebt seit mehreren Jahren in Syrien. Er schockierte 2002 die Welt, als er die offizielle Version der New Yorker Attentate vom 11. September 2001 in einem in 26 Sprachen übersetzten Bestseller hinterfragte. Seither wird er von den Mainstream-Medien gerne als Musterbeispiel für einen «Verschwörungstheoretiker» diffamiert. Seine geopolitischen Analysen zu den Hintergründen der Kriege in Nordafrika sowie im Nahen und Mittler Osten hat er seither in sehr vielen Artikeln und vier aufschlussreichen Büchern publiziert.

1    Meyssan, Thierry. Sous nos yeux: du 11-Septembre à Donald Trump. [Unter unseren Augen: Vom 11. September 2001 zu Donald Trump], Editions Demi-Lune 2017. ISBN 978-2-91711-231-1
2    Es handelt sich um die beiden Bücher «L’effroyable Imposture» und «Le Pentagate», erschienen im Verlag Editions Demi-Lune, Collections Résistances, 2007
3    Laurent Fabius, nicht etwa Kriegsminister, sondern Aussenminister, erklärte am 17. August 2012 in bezug auf den syrischen Präsidenten: «Das syrische Regime muss schnellstmöglich gestürzt werden, [...] ich bin mir der Tragweite sehr wohl bewusst, von dem, was ich jetzt sage: Bashar al-Assad verdient es nicht, auf dieser Erde zu sein.»

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Zum Inhalt des Buches «Sous nos Yeux»

Synopsis: In diesem Buch werden die internationalen Beziehungen seit den Attentaten vom 11. September 2001 dargelegt. Es beschreibt und analysiert die verwendeten Strategien, die der Aufrechterhaltung der Beherrschung der restlichen Welt durch die USA dienen. Die Rolle der Briten in der Vorbereitung der «Arabischen Frühlinge» wird ebenso dargestellt wie die verborgenen Konflikte, in denen sich der arabische Widerstand und Russland dem amerikanischen «Deep State» gegenüberstanden.
Aufbau: Dieses Buch, das die Rolle von mehreren Dutzend Staaten nachzeichnet – ob sie sich nun der Beherrschung durch die USA unterzogen oder dagegen angekämpft haben –, ist auf eine originelle Weise abgefasst. Die letzten 15 Jahre werden dreimal auf verschiedene Art nachgezeichnet – je nach Standpunkt: zuerst aus der Sicht von Paris, wo die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Regierungen versuchen, sich am Geschehen zu beteiligen, ohne es zu durchschauen; dann aus der Sicht der Muslimbrüderschaft, die die verschiedenen dschihadistischen Gruppen im Auftrag Londons und Washingtons strukturieren; schliesslich gemäss den Vorstellungen der Angelsachsen.
Nutzen dieses Buches: Verfasst von einem aktiven Zeitgenossen – der Autor war Berater oder Mitglied der venezolanischen, iranischen, libyschen und syrischen Regierungen –, berichtet es die Ereignisse gut lesbar für die breite Öffentlichkeit. Es stützt sich auf Dokumente, von denen die wichtigsten noch nie publiziert, geschweige denn in der Presse erwähnt wurden. Die Analyse des Autors widerspricht frontal dem allgemeinen Mediendiskurs, liefert jedoch die einzige plausible Erklärung für die «Revolutionen» und Kriege, mit denen wir in den letzten Jahren konfrontiert wurden und immer noch werden.
Bemerkung: In diesem Buch wimmelt es von präzisen Informationen. Es wird zwangsläufig zu einem Referenzwerk für die kommenden Jahre werden, auch für diejenigen – die zuerst einmal – den Inhalt beanstanden werden. (jpv.)

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