Internationale Friedensordnung in einer multipolaren Welt

von Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dr. h.c. Hans Köchler*

Ich werde meine Überlegungen zum Frieden in einer multipolaren Welt in drei Abschnitte gliedern: Rückblick, Momentaufnahme und Ausblick. Zunächst werde ich mich mit der Ära der Bipolarität beschäftigen. In einem zweiten Schritt – Momentaufnahme – werde ich die nun zu Ende gehende Phase der Unipolarität behandeln. Hier möchte ich insbesondere den Selbstwiderspruch herausarbeiten, der in jeder unipolaren Ordnung angelegt ist, und die «Torheit der Macht» thematisieren. Schliesslich – drittens – werde ich im Hinblick auf die sich abzeichnende multi­polare Konstellation die Frage stellen, ob es so etwas wie ein Kräfteparallelogramm des Friedens geben kann.

Realistischer Idealismus bzw. idealistischer Realismus

Zunächst jedoch gestatten Sie mir eine kurze Vorbemerkung zur Frage von Weltordnung im Sinne meines Ansatzes, den ich vorab als «realistischen Idealismus» oder «idealistischen Realismus» umschreiben würde. Wenn man sagen will, wie die Weltordnung beschaffen sein soll, muss man zunächst einmal wissen, wie sie tatsächlich ist (das heisst, welches ihre konstitutiven Elemente sind und unter welchen Umständen sie Bestand hat). Dem Wunsch nach ihrer friedlichen Beschaffenheit im Sinne der kantischen Vision vom «ewigen Frieden» zwischen republikanisch verfassten Gemeinwesen steht das Faktum der Gewaltbereitschaft des Menschen – vor allem dann, wenn er im Kollektiv handelt – gegenüber. Tatsache ist weiter, dass die jeweilige internationale Konstellation, also Weltordnung, Ergebnis des Ringens um Vorherrschaft, nicht einer bewussten und zielstrebigen Realisierung von Idealen ist. Dass dieses Ringen – als Durchsetzung der nationalen Interessen – oftmals die Form des Krieges annimmt, ist ebenfalls ein unleugbares historisches Faktum. So rechtfertigte auch der Präsident der Vereinigten Staaten den von ihm kürzlich angeordneten Raketenangriff auf Syrien nicht mit Bezug auf das Völkerrecht, sondern auf die nationalen Interessen der USA.
Auch wenn «the national interest» ein zentraler Begriff in der Theorie der internationalen Beziehungen ist (vgl. insbesondere das richtungweisende Werk von Hans Morgenthau), so kommt es im Kräftemessen der Staaten doch darauf an, dass dieses nach moralisch definierten Regeln geschieht, die im zwischenstaatlichen Bereich sodann rechtlich, das heisst in Form von Verträgen, konkretisiert werden.
In den gängigen Diskussionen zur Weltordnung dominiert die idealistische Diktion. Idealismus muss jedoch, um glaubwürdig zu sein, stets im Realismus fundiert sein. Anstatt von einem durch Wunschdenken verzerrten Bild der Wirklichkeit auszugehen, muss die Betrachtung der Weltordnung unter dem Gesichtspunkt eines Ideals stets den Tatsachen Rechnung tragen, um dann Methoden und Strategien zur Verwirklichung moralisch begründeter Ziele entwickeln zu können. Dies ist das Wesen einer glaubwürdigen Friedenspolitik. Diese realistische Vorsicht – besser: Umsicht – ist um so wichtiger, als durch die Geschichte hindurch stets Ideale zur Rechtfertigung und Durchsetzung konkreter machtpolitischer Interessen – notfalls unter Anwendung militärischer Gewalt – instrumentalisiert worden sind.
Ein geradezu klassischer Fall einer solchen idealistischen Tarnung globaler Machtpolitik war die Proklamation einer «neuen Weltordnung» zum Auftakt des Golf-Krieges von 1991 durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Diese neue Ordnung wurde charakterisiert im Sinne einer weltweiten Herrschaft des Rechts und der Respektierung der Menschenrechte. Die Weltordnung, die Präsident Bush senior im Sinn hatte, war jedoch unipolar und – ganz im Gegensatz zum eschatologischen Pathos ihrer Verkündigung – kurzlebig. Ein Vierteljahrhundert später zeichnen sich – hier und jetzt – unübersehbar die Konturen einer abermals neuen – und zwar multipolaren – Architektur der internationalen Beziehungen ab.

Die Ära der Bipolarität

Der Beginn der unipolaren Zeitspanne war durch das – von den meisten nicht vorhergesehene – Ende der Ära des Kalten Krieges markiert. Das bipolare Machtgleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion hatte sich auf Grund der wirtschaftlich-sozialen Dynamik als weniger stabil erwiesen, als man im Blick auf das nukleare Abschreckungspotential beider Grossmächte zunächst hätte erwarten können. In dieser Epoche des Machtwettbewerbes zwischen ideologisch unvereinbaren Systemen konnte zwar eine globale Konfrontation vermieden werden, die sogenannte «friedliche Koexistenz» war jedoch prekär und verhinderte nicht eine Reihe von katastrophalen Stellvertreterkriegen (in Korea, Vietnam, Afghanistan). Zudem brachte – was auch im Hinblick auf die sich jetzt neu herausbildende Konstellation von Interesse ist – der Machtkampf zwischen den zwei Weltmächten eine Lähmung der Vereinten Nationen mit sich, da sich die beiden Antagonisten im Sicherheitsrat gegenseitig mit ihrem Vetoprivileg blockierten – ein Dilemma, das sich vor allem am Beispiel des bis zum heutigen Tag ungelösten Korea-Konfliktes der fünfziger Jahre illustrieren lässt. Damals war ein Einschreiten der Amerikaner und ihrer Verbündeten nur möglich, weil der sowjetische Delegierte die Beratungen des Sicherheitsrates verlassen hatte und deshalb kein Veto eingelegt wurde. Ansonsten hätte es den Korea-Krieg in dieser Art nicht gegeben, da man sich nicht auf die Vereinten Nationen hätte berufen können. Das absurde Ergebnis der seinerzeitigen Konstellation ist, dass es an der Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea bis heute ein Kommando gibt, das nicht unter der Fahne der Vereinigten Staaten, sondern formaliter unter derjenigen der Vereinten Nationen steht.
Das plötzliche Verschwinden eines der beiden Protagonisten, das mit den Ereignissen von 1989 in Afghanistan und Osteuropa eingeleitet wurde, führte notgedrungen zu einer unipolaren Konstellation, die jedoch von vielen – nicht nur vom sogenannten Sieger – falsch interpretiert wurde. Die wiedererlangte Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (wie sie internationale Beobachter an den Resolutionen zum Irak-Krieg 1991 oder zur Einsetzung von Kriegsverbrechertribunalen konstatierten) war nicht Ausdruck eines moralischen Konsensus, gar eines gemeinsamen Bekenntnisses zu internationaler Rechtsstaatlichkeit, sondern schlicht und einfach Resultat der neuen unipolaren Konstellation: Mit dem Ende des Machtwettbewerbes des Kalten Krieges konnte einer allein die Entscheidungen diktieren. Die Einstimmigkeit im Sicherheitsrat – wenn man die Stimmenthaltungen Chinas nicht als im Widerspruch zum Einstimmigkeitserfordernis nach Artikel 27(3) der Uno-Charta ansieht – war in dieser Phase – in der das Russland von Jelzin zu kollabieren drohte – nichts Authentisches, kein Ausdruck eines gemeinsamen Bekenntnisses zu den (Friedens)zielen der Uno, sondern Folge der Schwäche der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates beziehungsweise der Angst der nicht-ständigen Mitglieder (zumeist kleiner und mittlerer Staaten, deren Zustimmung zu Zwangsresolutionen des Sicherheitsrates etwa in der Golf-Krise 1991 in Einzelfällen de facto durch Erpressung erreicht wurde).1 Dies war also nicht der Auftakt zu einer neuen globalen Friedenspolitik, sondern der Beginn einer Phase des weltpolitischen Diktates der einzig verbliebenen Supermacht, des «globalen Hegemons». Die triumphalistische Pose, in welcher der Hegemon seinen machtpolitischen Anspruch der Welt sozusagen mitteilte und kollektiven Gehorsam einmahnte, trug jedoch bereits den Keim des Scheiterns (das heisst des Endes der globalen Vormachtstellung) in sich.

«Die Torheit der Macht» oder: der Selbstwiderspruch der Unipolarität

Im Siegesrausch haben die USA nach 1990/91 – gemeinsam mit ihren Vasallen – das Projekt eines «neuen amerikanischen Jahrhunderts» (Project for the New American Century)2 in Angriff genommen. «Humanitäre Intervention» (später euphemistisch mit «Responsibility to Protect» umschrieben) wurde zum Schlagwort, wenn es darum ging, Aggressionskriege zur Durchsetzung eigener strategischer und wirtschaftlicher Interessen zu rechtfertigen (zum Beispiel im Jugoslawien-Kosovo-Konflikt von 1999, in Afghanistan 2001, aber auch im Irak 2003 und in Libyen 2011). «Offiziell» ging es bei all diesen im wesentlichen unilateralen Aktionen um den Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
In die Zeit nach dem Irak-Krieg fiel auch die Inangriffnahme des ambitioniertesten – und nunmehr, vor unser aller Augen, katastrophal scheiternden – geopolitischen Projektes: der Schaffung eines sogenannten «New Middle East» (oder «Greater Middle East») mit dem Ziel, die Region des Nahen und Mittleren Ostens, einschliesslich Afghanistan, nach westlichen Welt- und Lebensvorstellungen (vor allem mit Bezug auf Demokratie und Menschenrechte) umzuformen und sie so dauerhaft in den westlichen Machtbereich einzugliedern.
Dieser geradezu totalitäre Anspruch der Umerziehung, die mit brutaler Waffengewalt bewerkstelligt werden sollte, hat nicht nur die gesamte Region destabilisiert und den Weltfrieden nachhaltig gefährdet, sondern auch die Nachbarregion Europa in eine tiefe ­po­litische – und ich meine hier nicht nur sicherheitspolitische – Krise gestürzt, was sich insbesondere in der völlig unbewältigten Flüchtlings- und Migrationsproblematik zeigt. Das Phänomen des sogenannten Islamischen Staates und des von ihm inspirierten Terrors würde es ohne die von den Vereinigten Staaten zu verantwortende Politik des «regime change» – also der gewaltsamen Änderung des Regierungssystems – nicht geben. Wie sich immer deutlicher zeigt, hat die westliche Konsum- und Spassgesellschaft dieser Entwicklung und der vom «Islamischen Staat» ausgehenden Motivation zu Gewaltaktionen – belegt durch die Erklärungen von immer mehr islamischen Bewegungen in anderen Regionen der Welt wie zum Beispiel Mindanao – ausser kruder Waffentechnologie nichts entgegenzusetzen.
In dieser unipolaren Konstellation, in der das dominierende Land ungestraft und ohne Furcht vor Gegenmassnahmen seine weltweite Dominanz zu zementieren suchte, hat die beschriebene Politik tatsächlich zu viel grösserer geopolitischer Instabilität und Unsicherheit geführt, als dies in der Ära der Bipolarität jemals der Fall gewesen war – in einer Zeit, als die beiden Konkurrenten um die Weltherrschaft sich gegenseitig in Schach hielten.
Trotz allen Einsatzes von «hard» und «soft power» war – und ist, muss man sagen – der Hegemon in der jetzigen unipolaren Konstellation nicht imstande, das von ihm verursachte politische Vakuum – im Irak, in Afghanistan, in Libyen – auszufüllen. Die Interventionen lösten vielmehr eine unkontrollierbare Kette von Ereignissen aus, die auch mit symbolischen Raketenattacken (wie vor kurzem in Syrien) und dem Einsatz einer sogenannten MOAB («Mother of all Bombs», in Afghanistan), um nur die aktuellsten Beispiele zu nennen, nicht beherrschbar wurde – trotz martialischer Rhetorik des jeweiligen Oberbefehlshabers.
Die für eine solche Konstellation typische Verblendung des Alleinherrschers zeigte sich insbesondere in der von Präsident Bush jun. nach den Ereignissen von 2001 proklamierten Nationalen Sicherheitsstrategie, deren oberste Maxime es ist, dass es niemals zu einer Situation kommen dürfe, in der eine andere Macht militärische Parität mit den Vereinigten Staaten erreichen würde. So wurde es seinerzeit von Präsident Bush jun. verkündet (National Security Strategy of the United States of America, September 2002, Kap. IX). Wie die Geschichte zeigt, kann jedoch keine Macht der Welt die Zeit anhalten. Für mich war diese Proklamation einer nationalen Sicherheitsstrategie schon damals ein Beispiel für Realitätsverweigerung par excellence. Es ist, so glaube ich, dieser übersteigerte kollektive Wille zur Macht, der sich schliesslich auf Grund der von ihm geradezu neurotisch verdrängten Folgen dieses Machtstrebens selbst negiert. Die Welt, das heisst die Gemeinschaft der Völker, ist gegenwärtig wiederum Zeuge eines solchen Prozesses, der nach dem Schema von actio und reactio abläuft. Man könnte hier auch von der «Dialektik der Macht» sprechen, die ich an zwei Aspekten erläutern möchte:
Erster Aspekt: Der vom Staat mit seinem globalen Herrschaftsanspruch ausgeübte Druck erzeugt unmittelbar Gegendruck, das heisst, er motiviert die betroffenen Völker und Volksgruppen gerade dann, wenn die jeweilige staatliche Organisation zerschlagen worden ist, zum Widerstand, also dazu, sich neu zu formieren – und zwar in einer Weise, die bisherige staatliche Grenzen zu sprengen vermag (siehe etwa die Ereignisse in der arabisch-islamischen Region im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings). Das Stichwort dazu ist – ob man dies zur Kenntnis nehmen will oder nicht, man muss der Realität ins Auge sehen – auch von den Ideologen des Islamischen Staates schon vorletztes Jahr gegeben worden, nämlich: Zerfall von Sykes-Picot, also Auflösung der Ordnung, die im Zuge des Endes des Ersten Weltkrieges in einem Geheimvertrag (1916) zwischen den britischen und französischen Unterhändlern, nach deren Familiennamen der Vertrag benannt ist, für die Region des Mittleren Ostens beschlossen worden war. Diese Ordnung ist jetzt definitiv dabei zu zerfallen. Was den Aspekt von Druck und Gegendruck betrifft und den Umstand, dass irgendwann doch der Zeitpunkt kommt, in dem die Völker sich neu organisieren, so wird diese Überlegung jetzt auch von Leuten angestellt, von denen man es gar nicht so sehr erwarten würde. Letztes Jahr hat Zbigniew Brzezinski, der Nationale Sicherheitsberater unter Präsident Carter, Ähnliches angedeutet, als er in seinen Überlegungen zu einem «Global Realignment» (in: The American Interest, April 2016) zu begründen versuchte, warum sich die Supermacht Vereinigte Staaten jetzt wird dazu bequemen müssen, von ihrem unipolaren Herrschaftsanspruch Abstand zu nehmen und sich wieder wird einreihen müssen in eine globale Allianz mit anderen Staaten (wobei er im besonderen Russland und China erwähnte).
Zweiter Aspekt: Auf weltweiter Ebene beginnen Staaten, sich zu neuen Gruppierungen zu formieren, und zwar sowohl mit regionaler als auch globaler Zielsetzung. Beispiel für ersteres ist etwa die von Russland ausgehende Bildung der Eurasischen Union, aber auch die Gründung des Shanghai Cooperation Council. Für zweiteres ist die Staatengruppierung ein Beispiel, die unter dem Kürzel BRICS bekannt geworden ist (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Zum ersteren (das heisst zum regionalen Aspekt) möchte ich noch ein interessantes aktuelles Detail vermerken, nämlich die geostrategische Entwicklung im Bereich östlich von Afghanistan. Ich meine hier insbesondere den «China-Pakistan Economic Corridor» (CPEC), also das Abkommen zwischen China und Pakistan über Verkehrs- und Infrastrukturprojekte von der chinesischen Grenze bis zum Arabischen Meer, das letztlich eine ganz klare Abwendung der Nuklearmacht Pakistan von ihrer einstigen Schutzmacht bedeutet – und zwar nicht irgendwie und insgeheim, um mehrere Ecken, sondern inzwischen auch offen deklariert, wovon ich mich bei meinem kürzlichen Besuch in Islamabad überzeugen konnte.3 Dies ist ein nicht unwichtiges regionales Mosaiksteinchen einer globalen Entwicklung, die der von mir so genannten «Dialektik der Macht» geschuldet ist.
Letztlich haben wir es hier mit dem Ausdruck eines graduellen Kontrollverlustes im unipolaren System zu tun. Die zwischenstaatlichen Gruppierungen und Abkommen, die ich erwähnt habe – regional und weltweit –, haben eine neue weltpolitische Dynamik in Gang gesetzt und sind wohl auch die Bausteine einer zukünftigen multipolaren Ordnung, wie sie eigentlich – das sollte man nicht vergessen – von den Vereinten Nationen bereits in ihrem Gründungsjahr, also 1945, anvisiert worden war.

Multipolarität: Kräfteparallelogramm des Friedens?

Vielleicht sollten wir hier kurz innehalten und uns nochmals des Wesens von Ordnung im zwischenstaatlichen, also internationalen Bereich vergewissern. Es handelt sich hierbei um ein komplexes System von Wechselwirkungen auf mehreren Ebenen. Ordnung in diesem multidimensionalen Sinn, die die Felder von Wirtschaft, Politik, Militärischem und Soziokulturellem einschliesst, ist niemals statisch, sondern von vornherein dynamisch. Sie existiert in keiner anderen als der dynamischen Form. In diesem Sinne ist Stabilität einer Weltordnung immer nur relativ zu verstehen. Stabilität sensu stricto ist ein unerreichbares Ideal. Bei der konkreten Weltordnung handelt es sich jeweils um ein Kräfteparallelogramm, das aus der Artikulation der Interessen der staatlichen und – in unserer mehr und mehr globalisierten Welt – auch der nicht-staatlichen Akteure resultiert. Dies bedeutet unvermeidlich ein ständiges Ringen um Einfluss – man könnte auch lapidar von einem Ringen um Macht sprechen, das aus dem kollektiven Wollen der Bürger der einzelnen Staaten resultiert. Wie ich schon angedeutet habe, ist dieses Wollen nicht quasi von vornherein ethisch motiviert, etwa nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, das heisst des gegenseitigen Respektes. Es wird vielmehr durch das natürliche Streben nach Vorteil geleitet, den die jeweilige Regierung, um sich zu legitimieren, dem eigenen Volk verspricht. Realität der internationalen Beziehungen ist nun einmal, dass normative Überlegungen sekundär sind und in der Regel erst dann zum Zug kommen, wenn man einsieht, dass eine rücksichtslose Interessendurchsetzung seitens jedes einzelnen Staates letztlich allen zum Schaden gereicht. Die Zwänge der Realpolitik zur Kenntnis nehmend, könnte man, ohne zu resignieren, immerhin sagen: «better late than never».
Der Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit ist auch wesentlich für das Völkerrecht. Er ist insbesondere das normative Fundament der souveränen Gleichheit der Staaten. Als Philosoph werde ich jedoch nicht leugnen, dass das Prinzip der souveränen Gleichheit in theoretischer Hinsicht auch menschenrechtlich abgeleitet werden kann. Faktisch ist es jedoch so, dass die jeweilige, ständig im Umbruch befindliche Weltordnung ein mehr oder weniger spontanes Ergebnis der Interessenartikulation und -durchsetzung einer Vielzahl von Akteuren auf einer Vielzahl von Ebenen ist – und eben zunächst nicht ein zielstrebig herbeigeführter Zustand zwischenstaatlicher Beziehungen nach einem System von Regeln, von deren normativer Geltung alle überzeugt wären. Wenn dem so wäre, dann wäre mit dem Inkrafttreten der Uno-Charta im Jahre 1945 die politische Geschichte an ihr Ende gelangt, denn es hätte dann ab diesem Zeitpunkt dauerhafter Friede geherrscht, dessen Rahmen die Normen der Charta abstecken und dessen Sicherung schliesslich Hauptziel der Weltorganisation war und weiterhin ist.
Tatsache ist auch, dass die Weltordnung oftmals – siehe auch die Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten, die Gründung der Uno nach dem Zweiten Weltkrieg – Resultat eines Krieges ist, der die Machtrelationen zumindest für eine gewisse Zeit neu bestimmt. Beide Organisationen entstanden als Ergebnis einer globalen Konfrontation, und ihre Satzungen spiegelten bzw. spiegeln die Machtkonstellation nach dem vorausgehenden Krieg wider. Mit Bezug auf die Uno bedeutet dies insbesondere das Veto-Privileg von fünf Staaten, die die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges waren und mit der Verankerung dieses Privilegs in der Charta (Artikel 27) gewissermassen die Zeit anhalten, das heisst, ihre Machtposition auf Dauer festschreiben wollten. (Die Charta kann nicht ohne Zustimmung dieser Staaten geändert werden.)
Aber auch hier ist man inzwischen schon zur bitteren Einsicht gelangt – ich sage das mit einer gewissen Ironie –, dass man die Zeit eben nicht anhalten kann. Die gegenwärtige Konstellation ist nicht mehr die von 1945. Die Staatengemeinschaft befindet sich in einer Phase des Umbruchs, des globalen Interregnums, wo sich ein durch einen überbordenden, oftmals kriegerisch durchgesetzten Machtanspruch (unwillkürlich) herbeigeführter Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Konstellation abzeichnet.

Kollektive Sicherheit in einer multipolaren Welt

In dieser Zeit des Umbruchs könnte jedoch die Charta der Vereinten Nationen eine neue Relevanz erhalten: nämlich als normativer Rahmen, als Regelwerk für ein sich neu entwickelndes multipolares Machtgleichgewicht. Das Uno-System der kollektiven Sicherheit könnte geradezu als Modell einer zukünftigen Friedensordnung angesehen werden. Allerdings ist eine Entwicklung in diese Richtung nur dann möglich, wenn die Architektur des Sicherheitsrates den neuen Realitäten angepasst wird. Die Struktur dieses mit fast absoluter Machtvollkommenheit ausgestatteten Gremiums – Hans Morgentau hat vom Sicherheitsrat als der Heiligen Allianz unserer Zeit gesprochen –, mit den fünf seinerzeitigen Grossmächten (USA, Frankreich, Grossbritannien, China, Sowjetunion, jetzt Russland) als ständigen, mit Vetovollmacht ausgestatteten Mitgliedern, ist tatsächlich multi­polar. Die Uno-Charta ist nicht eine Architektur für unipolare Herrschaft, sondern spiegelt eben die Multipolarität von 1945 wider, auch wenn es in der Folge realpolitisch (das heisst machtpolitisch) zu einer bipolaren Konstellation kam. Die Handlungsfähigkeit dieses Gremiums hängt wegen des Vetos unvermeidlich vom Konsens zwischen diesen fünf Ländern ab, zwischen denen idealerweise ein Machtgleichgewicht bestehen sollte. Dies war die leitende Idee, als man die Charta in der Endphase des Zweiten Weltkrieges konzipiert hat. Allerdings ist im Zuge des Kalten Krieges die multipolare Architektur der Charta ziemlich schnell obsolet geworden, da die Dynamik der militärisch-waffentechnischen Entwicklung zu einem bipolaren System des Machtgleichgewichtes zwischen den USA und der Sowjetunion führte, in dem die anderen ständigen Mitglieder letztlich marginalisiert wurden und der Sicherheitsrat wegen des gegenseitigen Vetos dieser beiden Staaten gelähmt war.
Von der Struktur her gilt jedoch auch heute weiterhin das, was 1945, wenngleich mit anderer Absicht – nämlich im Hinblick auf die angestrebte Perpetuierung der damaligen Machtkonstellation – angedacht war: nämlich, dass der Frieden zwischen einer Vielzahl von Akteuren, also in einem multipolaren Rahmen, nur kooperativ und nicht durch unkontrollierten Machtwettbewerb gesichert werden kann. Dies, so meine ich, ist das Um und Auf der kollektiven Sicherheit gemäss Kapitel VII der Uno-Charta. Entscheidungen zur Friedenssicherung, das heisst also zur Durchsetzung des zwischenstaatlichen Gewaltverbotes, müssen im Konsens zwischen den ständigen Mitgliedern getroffen werden. Das ist der eigentliche Sinn des Vetos, nicht die Absicherung einer ungezügelten Machtpolitik im Interesse jeder einzelnen der fünf Vetomächte.
Allerdings muss man, um keine falschen Hoffnungen zu wecken, auch darauf hinweisen, dass diese Regelung, die den Konsens zwischen den ständigen Mitgliedern bei Mass­nahmen zur Friedenssicherung vorschreibt, nur Sinn macht, wenn bei Entscheidungen über Krieg und Frieden eine Streitpartei zur Stimmenthaltung verpflichtet ist – was allerdings gegenständlich nicht der Fall ist. (Die meisten Kommentatoren der Weltordnung sind sich dieser Problematik überhaupt nicht bewusst.) Nach der Uno-Charta kann nämlich ein ständiges Mitglied, das ein anderes Land angreift, einen Beschluss im Sicherheitsrat verhindern, indem es ein Veto einlegt. Würde innerstaatlich der Befangenheitsgrundsatz in dieser Weise negiert, würde dies bedeuten, dass jeder, der einen Gesetzesbruch begangen hat, in eigener Sache über sich zu Gericht sitzen könnte. Wie man es auch dreht und wendet, im Bereich der Vereinten Nationen ist es gemäss den Formulierungen von Artikel 27 der Charta tatsächlich so.4 Der sogenannte «fine print», wie es in Amerika heisst, wird von den Idealisten, die von der Uno alles erwarten, was gut ist, zumeist übersehen. Die Uno ist eben doch nicht so perfekt, wie man sich dies wünscht – und sie kann es auch gar nicht sein, auch dann nicht, wenn man alles, was in der Charta steht, nach Buchstaben und Beistrich verwirklicht: Die Charta selbst enthält – machtpolitisch erzwungene – Widersprüche (also normenlogische Fehler), die das System sprengen.5
Gerade deshalb wäre es entscheidend, dass die auf das Machtgleichgewicht zwischen den seinerzeitigen Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges ausgelegte Architektur der Charta an die sich neu herausbildende multipolare Konstellation angepasst wird, die sich im Gefolge der regionalen Krisen immer deutlicher abzeichnet und – bis auf weiteres zumindest – nicht ein Ergebnis von Weltkrieg III ist. Man kann nur hoffen, dass dies weiter so bleibt.
Diese Adaptierung würde konkret bedeuten, dass die Beschlüsse des Sicherheitsrates zur Friedenssicherung beziehungsweise zur Friedensdurchsetzung im Konsens zwischen den einzelnen globalen Regionen getroffen werden. In einer multipolaren Welt können nicht weiter ganze Kontinente – Afrika, Lateinamerika, Südostasien – von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden. Sollte dies weiterhin der Fall sein, wird die Instabilität des sich neu formierenden multipolaren Systems weiter zunehmen und die Uno sich sozusagen selbst abschaffen, das heisst obsolet machen.
Was ich hiermit meine, ist, dass in den Vereinten Nationen eine Reform Platz greifen müsste, der gemäss regionale Organisationen den Status von ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat erhalten. Beispiele hiefür wären etwa die Afrikanische Union oder die Europäische Union (letztere anstelle der Einzelmitgliedschaften von Frankreich und Grossbritannien). Wenn man am Veto – also präzise: an der Konsensverpflichtung, denn der Begriff «Veto» kommt in der Charta an keiner Stelle vor – festhält, dann würde dies bedeuten, dass Entscheidungen über Krieg und Frieden, also Zwangsentscheidungen nach Kapitel VII der Charta, die auch die Anwendung von Waffengewalt einschliessen, im Konsens zwischen allen globalen Regionen getroffen werden müssten, damit man nicht einfach den in einer bilateralen Konfrontation Schwächeren überfahren kann.
Tatsache ist allerdings auch, dass, wie auch immer das zwischenstaatliche Regel­system beschaffen sein mag, der Friede nicht erzwungen werden kann. Entscheidend ist – und das ist schliesslich die Philosophie der Uno-Charta – die Orientierung am Konsens­prinzip, die in einem multipolaren Rahmen realistischer ist als in einer unipolaren Konstellation, wo Stabilität faktisch nur durch Zwang erreicht werden kann.

Das nukleare Dilemma

Es gibt allerdings ein schwerwiegendes Caveat, dessen Erwähnung in diesem unserem Zeitalter der Massenvernichtungswaffen ein Gebot der Ehrlichkeit ist. Ich muss hier auf ein praktisch unauflösbares Dilemma verweisen, was den Frieden in einer solchen idealen multipolaren Welt, in der die verschiedenen regionalen Organisationen, die wiederum die Interessen der Einzelstaaten in ihrem Bereich vertreten, gemeinsam und im Konsens – das heisst, ohne dass der eine den anderen überstimmen kann – die Aufgaben der Friedenssicherung übernehmen. Ich meine hier die Verzerrung der Machtkonstellation durch das nukleare Waffen- beziehungsweise Vernichtungspotential.
Die Weltordnung mag sich, so wie es sich jetzt abzeichnet, in Richtung Multipolarität entwickeln – was in unserer Ära der Globalisierung auch bedeutet, dass die klassische politische Handlungsebene der Nationalstaaten von der wirtschaftlichen und der zivilgesellschaftlichen Ebene der Informationsgesellschaft ergänzt beziehungsweise teilweise überlagert, auf jeden Fall mit geformt wird. Die politischen Handlungsspielräume mögen zunehmend auch von nicht-politischen Akteuren beeinflusst beziehungsweise gestaltet werden. Das ist nun einmal das Wesen von Multipolarität unter den Bedingungen der Globalisierung. Aber jedes wie immer geartete Machtgleichgewicht wird durch das Nuklearpotential einzelner Akteure ungeachtet ihres sonstigen Gewichtes – politisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell – verzerrt beziehungsweise droht völlig instabil zu werden. Jedes noch so glaubwürdige Bekenntnis zum Konsens zwischen sich als gleich an Rechten ansehenden Partnern wird schal, ja obsolet, sobald ein Staat die nukleare Option in Erwägung zieht. Was dies bedeutet, wird uns gerade in diesen Tagen und Wochen an der Zuspitzung der Korea-Krise vor Augen geführt. Solange das Regelsystem in einer multipolaren Konstellation keine Antwort auf das durch den Besitz von Nuklearwaffen bedingte Machtungleichgewicht hat, ist jeder Friede prekär, auch wenn es ansonsten durchaus funktionierende Mechanismen des Interessenausgleichs auf globaler Ebene geben sollte.
Wie unerfreulich es auch sein mag, sich dies einzugestehen: angesichts von Massenvernichtungswaffen ist Friede nun einmal nicht eine positive Qualität, sondern einzig die Abwesenheit des Krieges auf Grund gegenseitiger Abschreckung. Den Fachausdruck für diesen Tatbestand gibt es schon seit dem Kalten Krieg: «nuclear mutual deterrence». Gemeint ist damit ein Friede, der auf einem grundsätzlichen Misstrauen gebaut ist. Stabil ist das Ganze nur, so lange keiner – unter gar keinen Umständen – von diesem Misstrauen abrückt. Ein rechtliches Verbot von Nuklearwaffen, wie es gerade jetzt wieder angedacht wird – Österreich mit seinem Aussenminister Kurz ist hier federführend –, muss letztlich wirkungslos bleiben, da der Verzicht auf Nuklearwaffen seitens derjenigen, die bereits in ihrem Besitz sind, nicht erzwungen werden kann. Wie würde dies ausser mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, die die Betreiber des Nuklearwaffenverbotes nicht besitzen, möglich sein? Vor allem aber ist freiwillige Abrüstung, wie man sie etwa von den «Kleinen» (gemeint ist hier das Nuklearpotential eines Staates) erwartet, eine Illusion, solange die sogenannten Grossen, konkret die USA und Russland, auf ihrem Privileg bestehen.
Notwendig – im etymologischen Sinne: die Not wendend – wäre eine Konstellation, in der sich kein Staat in seinem Überleben bedroht fühlen muss, womit sich allerdings der circulus vitiosus der Friedenspolitik schliesst. Wenn nämlich nachhaltige Friedenssicherung nur durch nukleare Abrüstung möglich ist und die Bereitschaft zu dieser Abrüstung davon abhängt, dass sich keiner in seinem Überleben bedroht fühlt, das heisst also, dass Friede herrscht, dann wird das bestehende Ungleichgewicht zwischen Nuklear- und Nicht-Nuklearmächten und damit die Kriegsgefahr weiter auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Das ist, so absurd es auch anmutet, geradezu eine Art Perpetuum mobile in der internationalen Machtpolitik.
Was ich damit sagen wollte, ist, dass das nukleare Dilemma auch in einem multi­polaren Rahmen nicht gelöst werden kann, solange es kein Umdenken in moralischer Hinsicht, das heisst ein gemeinsames Eintreten aller Staaten für einen Verzicht auf Nuklearwaffen gibt. Das kleine Nordkorea, das wirtschaftlich schwach ist und auch im Bereich von «soft power», also von Propaganda und Informationspolitik, praktisch keinen Einfluss über den eigenen Staat hinaus hat, kann trotzdem schlicht auf Grund der Tatsache, dass es über Nuklearwaffen verfügt, das gesamte regionale und überregionale Machtgleichgewicht aus dem Lot bringen, wenn es tatsächlich imstande sein sollte – oder wenn man ernsthaft davon ausgehen sollte, dass es dazu imstande ist –, einen Nuklearsprengkopf zielgenau zum Beispiel in Hawai zu plazieren.
Ein nochmaliges realpolitisches Caveat ist hier angebracht: Alle Vorkehrungen und Regelwerke zur Sicherung des Friedens – ob in einem unipolaren, bipolaren oder multipolaren Rahmen – bleiben prekär, solange einzelne Staaten der Auffassung sind, dass sie zur Sicherung ihres Fortbestandes auf Nuklearwaffen nicht verzichten können. Dies bezieht sich auch auf die nuklearen Grossmächte, insofern sie sich durch eine andere Grossmacht in ihrem Bestand gefährdet sehen. Dieses Faktum der Realpolitik – als Machtpolitik – schlägt sich auch mit einer grundlegenden Norm des Völkerrechts, nämlich der nationalen Souveränität. Das Prinzip der souveränen Gleichheit (wie in Artikel 2 (1) der Uno-Charta verankert) verträgt sich nicht mit dem Bedrohungspotential von Massenvernichtungswaffen – und der Frieden kann nur temporär, sozusagen ad hoc, aber nicht dauerhaft durch die Androhung von beziehungsweise Furcht vor gegenseitiger Vernichtung gesichert werden. Das nukleare Vernichtungspotential führt letztlich den Sinn von Abschreckung ad absurdum, da nukleare Drohung, zu Ende gedacht, mit dem Untergang der Menschheit spielt.
Nach der Thematisierung all der Widersprüche und Gefahren der internationalen Beziehungen im Nuklearzeitalter möchte ich zum Schluss noch auf einen positiven Aspekt einer multipolaren Weltordnung verweisen. Die Multipolarität der Machtkonstellation kann auch bedeuten, dass sich Allianzen zwischen den einzelnen Akteuren bilden, «coalitions of the willing», modern ausgedrückt, zum guten, nicht-militärischen Zweck – Zusammenschlüsse, die in einem alles überformenden unipolaren Rahmen niemals möglich wären. Die einzelnen Akteure – und das sind immerhin die Staaten im Auftrag ihrer Völker – haben so einen grösseren Handlungsspielraum, als wenn sie einem einzelnen Hegemon ausgeliefert wären, und auch einen relativ grösseren Handlungsspielraum als in einem bipolaren System, wie wir in den Zeiten des Kalten Krieges gesehen haben, wo Aktionsfreiheit eines Staates bedeutete, dass er Supermacht Nr. 1 gegen Supermacht Nr. 2 ausspielen konnte.
Was dieser grössere Spielraum für eine effektive Friedenssicherung bedeutet – wenn wir für einen Augenblick die Verzerrung durch das nukleare Machtpotential ausser Acht lassen –, kann man wohl erst dann voll ermessen, wenn das System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen, so wie ich es hier zu skizzieren versucht habe, an die Entwicklung zu einer Welt mit mehreren Zentren der Macht angepasst wird, das heisst also, wenn die einzelnen globalen Regionen – und nicht nur, wie bisher, die Staaten der industrialisierten Welt – im Sicherheitsrat gleichberechtigt repräsentiert sind.
Hier schliesst sich der Kreis unserer Überlegungen zur Friedensordnung in einer multipolaren Welt. Das Ideal des Friedens kann sinnvoll nur unter Berücksichtigung der Realität des menschlichen Handelns im Kollektiv bedacht und propagiert werden. Kollektive Sicherheit bedarf – solange nicht das Gute dauerhaft obsiegt, was der Zustand des Paradieses wäre – glaubwürdiger Abschreckung noch diesseits der nuklearen Schwelle. Genau dies ist der Sinn der Zwangsbeschlüsse des Sicherheitsrates, die in einer genuinen (nicht nur auf dem Papier bestehenden) multipolaren Machtkonstellation nicht nur glaubwürdiger, sondern effektiver sind und so dem Ideal einer Partnerschaft zwischen den Staaten und Völkern näherkommen als der von einem oder zweien kraft ihrer Machtfülle erzwungene «Burgfrieden».    •
 


* Hans Köchler war von 1990 bis 2008 Vorstand des Institutes für Philosophie an der Universität Innsbruck. Heute ist er Vorsitzender der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik, Kopräsident der Internationalen Akademie für Philosophie und Präsident der International Progress Organization, die er 1972 mit gründete. Aus dem äusserst reichhaltigen Wirken von Hans Köchler können an dieser Stelle nur ein paar wenige Punkte hervorgehoben werden. Köchlers Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Rechtsphilosophie, die politische Philosophie und die philosophische Anthropologie, in der seine Forschungsergebnisse in vielen Punkten mit den Ansichten des polnischen Kardinals Karol Wojtyla, des späteren Papstes ­Johannes Paul II., korrespondieren. Hans Köchler hat sich seit den frühen siebziger Jahren mit zahlreichen Publikationen, Reisen, Vorträgen und durch sein Mitwirken in verschiedenen internationalen Organisationen für einen Dialog der Kulturen eingesetzt, insbesondere für einen Dialog zwischen westlicher und islamischer Welt. 1987 hat Professor Köchler gemeinsam mit dem Nobelpreisträger Seán MacBride den «Appell von Juristen gegen den Atomkrieg» auf den Weg gebracht und in dessen Folge mit einem Gutachten dazu beigetragen, dass der Internationale Gerichtshof die Völkerrechtswidrigkeit eines möglichen Atomwaffeneinsatzes festgestellt hat. Hans Köchler hat immer wieder zur Frage der Reform der Vereinten Nationen Stellung genommen und deren Demokratisierung gefordert. Insbesondere nahm er auch zur Frage Stellung, wie internationales Recht durchzusetzen sei, und wandte sich dabei gegen eine machtpolitische Instrumentalisierung der Normen des Völkerrechts. Als vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, entsandter Beobachter beim Lockerbie-Prozess verfasste er einen kritischen Bericht, der 2003 als Buch, «Global Justice or Global Revenge? International Justice at the Crossroads» veröffentlicht wurde. Sein Eindruck war, dass der Lockerbie-Prozess unter politischen Vorgaben gestanden hatte, und er forderte deshalb eine strenge Gewaltenteilung und eine vollkommene Unabhängigkeit der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Der Text gibt die überarbeitte Fassung eines Vortrages wieder, den Professor Köchler am 20. April 2017 im Rahmen einer Veranstaltung der Genossenschaft Zeit-Fragen in der Schweiz gehalten hat.

1    Zu den Details vgl. Childers, Erskine. Empowering ‹We the Peoples› in the United Nations, in: Köchler, Hans (Hrsg.). The United Nations and the New World Order. Wien 1992, S. 25ff
2    Unter dieser Bezeichnung wurde 1997 in Washington DC eine Denkfabrik gegründet, der u. a. der spätere Vizepräsident Dick Cheney und der zweimalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angehörten.
3    Konferenz an der National Defence University of Pakistan zum Thema «Islam and Modernity in an Age of Transition», Islamabad, 31.3.2017
4    Zu den Details siehe die Abhandlung des Autors: Das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Kap. V (b) (1991).
5    Für Details siehe die in Kürze bei Oxford University Press erscheinende Analyse des Autors: Normative Inconsistencies in the International System (The Global Community – Yearbook of International Law and Jurisprudence 2016)

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