Arbeitslos – hoffnungslos – gewaltbereit – das sollte nicht die Zukunft unserer jungen Menschen sein

Arbeitslos – hoffnungslos – gewaltbereit – das sollte nicht die Zukunft unserer jungen Menschen sein

von Prof. Dr. Heinrich Wohlmeyer

Was wir gegenwärtig erleben, ist der Aufbau einer weltweiten Arbeitslosigkeit mit dramatischen Folgen. Diese führt einerseits zu verständlicher Radikalisierung der «Jugend ohne Zukunft» sowohl in den Industriestaaten als auch in den «Entwicklungsländern» sowie zur Massenflucht der Verzweifelten aus diesen in jene wohlhabenden Staaten, die selbst mit steigender Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Hinzu kommt die Überforderung der Sozialsysteme und Staathaushalte in den Industrieländern.
Der 1991 verstorbene, weltweit anerkannte Nationalökonom, Soziologe und Theologe Oswald Nell-Breuning hat immer wieder betont, dass der Mensch sinnvolle Arbeit braucht, um ein erfülltes Leben zu haben. Deshalb hat er die weiterhin praktizierte «Arbeitsmarktpolitik» in den Industriestaaten heftig kritisiert. Diese bringt es einerseits nicht fertig, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen, andererseits zwingt sie die Menschen dazu, um des Überlebens willen «prekäre» Arbeitsverhältnisse, die sie nicht befriedigen, zu akzeptieren.
Im Gleichklang mit und in Weiterführung von Nell-Breuning hat ein Kollektiv von anerkannten Professoren in der Studie «Arbeit ohne Umweltzerstörung – Strategien einer neuen Wirtschaftspolitik»1 schon vor 33 Jahren (1983) festgestellt, dass eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik in eine gesamthafte Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik eingebettet sein muss. Die vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik hat jedoch diesen Weckruf nicht nur nicht beachtet, sondern ihre zum Grossteil kontraproduktiven Strategien und Massnahmen verschärft – mit dem Ergebnis, dass wir nun in Europa rund 20 Millionen erfasste arbeitslose Menschen haben und weltweit 200 Millionen (eine realistische Ziffer liegt wahrscheinlich bei einer Milliarde). Besonders drückend ist die Jugendarbeitslosigkeit, die in den europäischen Südstaaten bei 50 % und darüber liegt.
Der Blick auf die «Entwicklungsländer» erfordert eine zusätzliche Sichtweise, die ebenfalls kurz angeleuchtet werden muss.
Im folgenden soll versucht werden, die sich anbietenden Auswege in der gebotenen Kürze skizzenhaft aufzuzeigen.

Zu den «Entwicklungsländern»

Jede arbeitsteilige Wirtschaft mit einer Vielzahl von Arbeitsplätzen setzt voraus, dass das Grundbedürfnis auf Nahrung für alle Bewohner durch eine produktive, vielfältige Landwirtschaft gedeckt wird. Daher muss der bisher in der internationalen Entwicklungspolitik vernachlässigte lokale Agrarbereich Priorität erhalten. Der so entstehen könnende gewerblich-industrielle Bereich bedarf in der Aufbauphase eines handelspolitischen Schutzes. (Auch unsere Volkswirtschaften hatten einen solchen in der Vergangenheit.) Flankiert muss dies werden durch eine die örtlichen Primärenergiequellen nutzende Energiepolitik – insbesondere die reichlich einstrahlende Sonnenenergie. Hinzukommen muss vor allem eine befreiende Finanzpolitik, die die lokale Geldschöpfung ermöglicht und die international aufgedrückte Schuldsklaverei, die die ökonomische Manövrierfähigkeit einschränkt, beendet.2
Ein wesentlicher Faktor ist insbesondere die Bildung. Diese bewirkt nämlich nicht nur die Fähigkeit zu innovativer wirtschaftlicher und ausserwirtschaftlicher Aktivität, sondern auch eine deutliches Sinken der Geburtenrate.3 Letzteres ist deshalb von so grosser Bedeutung, weil in den Entwicklungsländern derzeit die Geburtenraten das Wirtschaftswachstum und die Möglichkeiten der Schaffung von genügend Arbeitsplätzen übersteigen.

Zu den Industrieländern und zu den Folgen der steigenden Arbeitslosigkeit

Derzeit wird allenthalben «Entwarnung» gegeben, weil die Arbeitslosenrate kurzfristig um einige Prozentpunkte zurückgegangen ist. Alle Langzeitstudien zeigen jedoch, dass bei Fortschreiben der gegenwärtigen Rahmenbedingungen binnen drei Jahrzehnten bis zu 60 % der traditionellen Arbeitsplätze wegfallen werden, weil die Automatisierung und Digitalisierung rasant weiter fortschreiten. Dies wird nicht nur zu Lasten der «weniger Lernfähigen», sondern auch zu Lasten der Facharbeiter gehen, weil in der programmierten Wegwerfgesellschaft insbesondere Reparatur, Instandhaltung und Wiederverwertung wegbrechen.4
Die bedeutet für die jungen Menschen, die sich in einen «globalen Gladiatorenkampf» eingespannt sehen,5 eine Zukunft des brutalen Existenzkampfes, der für die Schwächeren von vornherein verloren ist.
Die Reaktion der nicht Erfolgreichen kann in mehrere Extreme gehen: In die Kapitulation (Fürsorgefall), in die Rache an der Gesellschaft, von der man sich kalt behandelt, abgewiesen und verlassen fühlt,6 in das Andocken an Bedeutung und scheinbare Bergung gebende wirtschaftliche Parallelgesellschaften (z. B. Mafia) oder in ideologisch-religiös motivierte Parallelgesellschaften, die ebenfalls Bergung bieten und Gewalt legitimieren.
Die Dokumentarfilmerin Johanna Tschautscher, die es gewagt hat, einen Film über die Mafia zu drehen, kommt zur klaren Aussage: Arbeitslose Jugendliche aus armen Verhältnissen und ohne positive Zukunftsaussichten werden von der Mafia angeworben. Dort bekommen sie Bedeutung und Macht. Wenn sie allerdings im Netz eingebunden sind, kommen sie ohne Todesrisiko nicht mehr heraus. Die Trias «arbeitslos – hoffungslos – gewaltbereit» wird deutlich.
Wenn man Vollbeschäftigung als Ergebnis einer Wirtschaftspolitik versteht, die es allen Mitgliedern einer Volkswirtschaft ermöglicht, ihre Bedürfnisse nach Gütern und nach Arbeit in Übereinstimmung zu bringen, dann muss man sämtliche derzeitigen Politik­linien hinterfragen. Vor allem die Annahme, besser die Behauptung, dass Investitionen Arbeitsplätze schaffen, ist nicht haltbar. Bei den gegenwärtigen Rahmenbedingungen (insbesondere der Besteuerung der menschlichen Arbeit – Roboter zahlen keine Steuern) bewirken neue Ausrüstungsinvestitionen in der Regel die «Einsparung» von Arbeitskräften – also Arbeitslosigkeit. Die gegenwärtige ­Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank ist daher gesamthaft kontraproduktiv.
Um sinnvolle Vollbeschäftigung zu erreichen, bedarf es eines Bündels von Massnahmen:7

  • In der Finanzpolitik muss die gegenwärtige Dynamik der Verschiebung des Volkseinkommens in Richtung Kapitaleinkommen zulasten der Masseneinkommen durchbrochen werden, damit die Massennachfrage entsprechend steigt. Dies ist durch eine Reform der Geldschöpfung und durch einen geordneten internationalen Schuldennachlass möglich.8
  • In der Handelspolitik muss das Bestimmungslandprinzip Platz greifen: Wenn eine Ware oder sonstige Leistung nicht unter sozialen und ökologischen Bedingungen erstellt wurde, die denen des Bestimmungs(Import)landes gleichen, dann bekommt das Gut keinen Marktzutritt oder wird mit einer der Kostendifferenz entsprechenden Ausgleichsabgabe belastet. Wenn diese Massnahme nicht getroffen wird, wandern die Arbeitsplätze zu jenen Anbietern, die Mensch und Natur am «effizientesten» ausbeuten.
  • In der Steuer- und Sozialpolitik muss die handelspolitisch abgesicherte Umschichtung zu Kapitalumsatz-, Energie- und Rohstoffverbrauchs- sowie zur Besteuerung der Grossvermögen erfolgen. «Maschinensteuern» sind ebenfalls nur zielführend, wenn sie handelspolitisch abgesichert sind. Wohl aber ist eine Internetabgabe von einem Millionstel Cent je Bit machbar. Sie würde trotz Gewährung von Freimengen und der Befreiung der sozialen und wissenschaftlichen Dienste etwa 30 Milliarden Euro – also rund 40 % des österreichischen Bundesbudgets – erbringen.9 Es wäre also genug Spielraum für die Verbilligung der menschlichen Arbeit und für den sogenannten «informellen Sektor»10 vorhanden. Auch jene bisher nicht gewährten sozialen Vergütungen wie die Honorierung der Arbeit von Müttern und Vätern (Muttergehalt) wären leistbar.
  • Mit der eingangsseitigen Sanierung der Budgets wäre auch ein Grundeinkommen für alle Bürger und Bürgerinnen finanzierbar. Dieses würde nicht nur den demütigenden Makel der Arbeitslosigkeit beseitigen, sondern auch die freie Wahl einer angepassten (beglückenden) beruflichen Einkommenskombination ermöglichen (man muss nicht jeden «Job» annehmen, um zu überleben).
       Ein Grundeinkommen (gesellschaftliche Grundsicherung) muss jedoch von einer gemeinwohlorientierten Ethik getragen werden, wenn es nicht missbraucht werden soll. Diese Haltung muss vor allem im Bildungswesen vermittelt werden. Haltungen wie «Ich hole aus dem sozialen Netz heraus, was geht, ohne selbst etwas beizutragen» sollten unter gesellschaftliche Ächtung gestellt werden, und positives Engagement sollte «vor den Vorhang» geholt werden.
        Dass die Gewährung eines Grundeinkommens handels- und sozialpolitisch abgesichert werden muss, wenn das dieses gewährende Land nicht überrannt werden soll, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.

Wir sehen also, dass ein Bündel von Mass­nahmen zu Verfügung steht, das beharrlich angegangen werden muss, wenn wir nicht in unerträgliches menschliches Leid und in soziale Katastrophen hineinschlittern wollen.
Die gegenwärtigen internationalen (insbesondere billiges Geld) und nationalen (vor allem befristete Beschäftigungsprogramme) Massnahmen sind leider nur wirtschafts­politische Beruhigungspillen, die an der negativen Gesamtdynamik in Richtung steigender Arbeitslosigkeit nichts ändern.    •

1    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1983; H. Ch. Binswanger, H. Frisch, H. G. Nutzinger, B. Schefold, G. Scherhorn, U. E. Simonis, B. Strümpel
2    Hierzu gibt es eine «Motion» (Vorhalt und Empfehlung) an das im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen (ECOSOC) im Juli 2017 stattfindende «Hochrangige Politische Forum 2017» und das «Ministertreffen zur Beseitigung der Armut und zur Förderung des Wohlstandes in einer sich wandelnden Welt», dessen Text beim RSK abgerufen werden kann. Vgl. Artikel S.5).
3    Eine Studie des Wittgenstein Zentrums für Demographie und Globales Humankapital (Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital) in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Institut für Systemanalyse (IIASA) und dem Institut für Demographie der Österreichischen Akademie für Wissenschaften «Global Human Capital 2015» zeigt, dass bei erhöhten Bildungsanstrengungen – vor allen für Frauen – das erwartete Wachstum der Weltbevölkerung bis 2060 um rund eine Milliarde Menschen gesenkt werden könnte.
4    Siehe Die Presse, Economist, S. 15 vom 14.6.2017 «Vor allem Facharbeiter verlieren Jobs»
5    Dies ist die Formulierung eines Studenten im volkswirtschaftlichen Seminar. Sie trifft zu, weil zur Ruhigstellung der Arbeitslosen stereotyp das Mantra wiederholt wird: «Wenn du tüchtig bist und dich anstrengst, dann hast du einen Arbeitsplatz!» Suche also die Schuld gefälligst bei dir und nicht im System. Wenn aber insgesamt zu wenig Arbeitsplätze vorhanden sind, dann ist dieser «Rat» geradezu zynisch, und der Student hat recht: Als Gladiator musst du andere umbringen, damit du, in der internationalen Arena bewundert, überlebst.
6    Siehe die Analyse des Gerichtspsychiaters, G. Haller, nach dem grauenhaften Anschlag in Manchester vom 22. 5. 2017 in Die Presse vom 24./25.5.2017, S. 1, «Die Psychologie der Attentäter».
7    Ausführlicher sind diese in meiner Denkschrift «Handreichung – Manifest – Unverzichtbare Eckpunkte einer weltweit zukunftsfähigen Gesellschaftsgestaltung», die beim RSK aufliegt, dargelegt.
8    Da die den Schulden gegenüberstehenden Guthaben aus dem Nichts geschöpft wurden, können sie auch wieder ohne gesamtwirtschaftlichen Schaden dorthin zurückgeführt werden.
9    Analoges gilt für Deutschland und die Schweiz.
10    Der «informelle Sektor» ist jener Bereich beschäftigungsähnlicher Arbeitsverhältnisse, die im formellen Sektor nicht ausgeübt werden, weil dort die Kosten zu hoch sind. Beispiele sind die zivilen Hilfsdienste und die Arbeitsgenossenschaften im Trentino, die landschaftskulturelle und kulturelle Aktivitäten mit sonst arbeitslosen Menschen vollbringen.

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