Jemen: Cholera-Epidemie fordert immer mehr Opfer

Jemen: Cholera-Epidemie fordert immer mehr Opfer

SRF-Interview von Isabelle Jacobi mit Peter Maurer, Präsident IKRK

mw.Der Präsident des IKRK, Peter Maurer, führt uns eindringlich vor Augen, dass es im Jemen und in vielen anderen Ländern auf der Welt, wo die Bevölkerung unter Kriegen, Hunger und Epidemien unsäglich leidet, dringend unsere Hilfe braucht. Es ist Aufgabe des IKRK, den Menschen humanitäre Nothilfe zu leisten, sich um die Kriegsgefangenen zu kümmern und von den Kriegsparteien die Einhaltung des Humanitären Völkerrechts einzufordern. Und es ist die selbstauferlegte Verpflichtung der neutralen Schweiz, als Sitz des IKRK und als Depositarstaat der Genfer Konventionen, die Arbeit des IKRK auf jede Art und Weise zu unterstützen.
Wir Schweizerinnen und Schweizer sind aufgerufen, unseren persönlichen Beitrag dazu zu leisten, so wie es jedem möglich ist, sei es durch grössere oder kleinere finanzielle Gaben, sei es durch die Weitergabe der schweizerischen Neutralitäts-Tradition an unsere Kinder und Enkel. Die Teilnahme von Schweizer Soldaten an Nato-Manövern gehört definitiv nicht dazu – oder wollen wir uns für die Nato-Kriege moralisch mitverantwortlich machen? Es gibt für die Schweiz wahrhaftig genug Sinnvolleres und Menschlicheres zu tun auf dieser Welt.

SRF:Seit zweieinhalb Jahren herrscht im Jemen der Bürgerkrieg zwischen den Huthi-Rebellen und der Regierung in Sanaa, die eine Koalition rund um Saudi-Arabien militärisch unterstützt. Der Krieg kostete schätzungsweise 10 000 Menschen das Leben, Hunderttausende Leben sind bedroht wegen Hunger und Seuchen. Eine Cholera-Epidemie fordert zunehmend Menschenleben. Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hat diese Woche den Jemen bereist, um auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen und mit den Kriegsparteien zu verhandeln. Ich habe Peter Maurer heute in Sanaa erreicht und ihn gefragt: Was für eine Situation haben Sie in den Kriegsgebieten angetroffen?

Peter Maurer: In jenen Gebieten, in denen wirklich der Konflikt in den letzten Jahren gewütet hat, sind natürlich die Zerstörungen sichtbar. Ich habe meine Reise in Aden begonnen, bin dann weiter nach Taizz gegangen, eine Stadt, welche während langer Zeit belagert war und heute noch sehr schwierig erreichbar ist, und bin anschliessend nach Sanaa weitergefahren, und in eigentlich allen urbanen Zentren sehen Sie die Zeugen des Krieges ziemlich klar: Die Zerstörungen von zentralen Infrastrukturen – Elektrizitätsverteilungsanlagen, Wasserverteilungssysteme, die kaputtgeschossen wurden, Spitäler, welche mindestens teilweise nicht mehr funktionsfähig sind – und das sind alles Zeugen, die uns natürlich dann beschäftigen wegen der humanitären Auswirkungen auf dem Feld. Das heisst, wenn kein Wasser mehr verteilt wird, wenn keine Elektrizität mehr vorhanden ist, dann sind die Individuen, die einzelnen Personen, die Familien, die Zivilbevölkerung besonders betroffen, und das ist in seiner ganzen Krassheit heute im Jemen sichtbar.

Wie stark macht sich die Cholera-Epidemie bemerkbar? Wie ist das Ausmass?

Das Ausmass ist auch im Vergleich mit anderen Gebieten auf der Welt, in welchen Cholera herrscht, doch erschreckend. Wir haben gerade die neuesten Statistiken mit 400 000 Verdachtsfällen, mit über 1800 Todesfällen, welche wir jetzt registrieren. Und wir sehen die direkten und die indirekten Auswirkungen dieses Krieges: die Auswirkungen auf die Wasserversorgung, auf die Abfallverwertung, welche wiederum zu verschmutztem Wasser führt, dass diese Kreisläufe massiv gestört sind, und dies wiederum führt zur Ausbreitung der Cholera. Die Tatsache, dass immer mehr Leute intern vertrieben sind, durch den Krieg vertrieben sind, ist ein beschleunigender Faktor dafür, dass sich die Epidemie auch landesweit weiter ausbreitet. Es ist eine ausserordentlich schwierige Situation, weil die Bevölkerung natürlich eh schon geschwächt ist von den Auswirkungen des Krieges. Und das hat uns dazu geführt, unsere Aktivitäten erheblich auszubauen.  […]

Kriegführende haben sich an die Genfer Konventionen zu halten

Wir haben schon seit einiger Zeit – nicht nur spezifisch für den Jemen – darauf hingewiesen, dass wenn die Kriegführenden sich nicht an internationales Humanitäres Völkerrecht halten, wenn zivile Infrastrukturen, wenn Spitäler angegriffen werden, was absolut verboten ist durch die Genfer Konventionen, wenn die Zivilbevölkerung direkt angegriffen wird, dass dies Auswirkungen hat, welche zu Epidemien führen. Bei meiner Reise standen Themen wie eben die Einhaltung des Humanitären Völkerrechtes, eine fundamentale Änderung der Kriegsführung im Zentrum. Wir können nicht immer nur mehr humanitäre Hilfe leisten, wenn gleichzeitig die Kriegführenden nicht bereit sind, ihr Verhalten fundamental zu ändern und die Ursachen dieser humanitären Krise auch auf der Seite der Kriegsführung beseitigen zu helfen. Ich denke, das ist die Situation, in welcher wir heute im Jemen sind. Wir wissen nicht, wie sich die Epidemie weiterentwickelt. Epidemien haben die Charakteristik, dass sie sich in gewissen Gebieten unvorhersehbar weiterentwickeln, und es können auch neue Epidemien und neue Krankheitserreger auftreten. Heute beschäftigt uns die Cholera.

Konnten Sie mit Ihrem Besuch etwas erreichen? Hören die Kriegsparteien auf Sie?

[…] Die Bevölkerung verlangt von den politisch Verantwortlichen, dass sie ihr Verhalten ändern, und das führt insbesondere dazu, dass während meines Besuches zum Beispiel die Frage der Gefangenen, der Zugang des IKRK zu Gefangenen, die Vorbereitung möglicher Gefangenenaustausche zwischen den einzelnen Lagern ganz stark im Zentrum gestanden ist. […] Ich hoffe, dass wir alle Gefangenen im Jemen besuchen können, in absehbarer Zeit, was heute nicht der Fall ist, und ich hoffe, dass wir mindestens im Dialog mit den Kriegführenden eine gewisse Veränderung feststellen können in den nächsten Wochen und Monaten.

Durch die humanitäre Arbeit des IKRK können wir Menschen Hoffnung geben

Auch die Hilfsgelder haben nur zögerlich zu fliessen begonnen. Ist die Weltgemeinschaft Ihrer Meinung nach allgemein etwas kaltherziger geworden, was Katastrophenhilfe anbelangt?

[…] Ich sehe, dass in vielen Bevölkerungskreisen ein Überdruss besteht, jeden Tag mit neuen Krisen konfrontiert zu werden. Es besteht immer wieder auch ein bisschen eine Resignation, und ich denke, als humanitäre Akteure ist es auch unsere Aufgabe zu zeigen, dass wir etwas tun können. Heute ist der Jemen ein Land, in dem wir ein grosses Gesundheitsprogramm haben, das auf grosse Wertschätzung trifft bei der Zivilbevölkerung, dass wir Wassersysteme wieder instandstellen können. Und ich denke, dass wir den Leuten Hoffnung geben können durch unsere Arbeit. In diesem Sinne sind wir natürlich motiviert, unsere Aktivitäten weiter auszubauen und auch die Gebergemeinschaften in Europa und anderswo zu überzeugen, dass es Sinn macht, humanitäre Arbeit in einem Land wie den Jemen zu unterstützen. Ohne diese Arbeit wird es schwierig sein, die Bevölkerungen zu versöhnen und einen glaubhaften Friedensprozess in die Wege zu leiten.    •

Quelle: SRF vom 27.7.2017, Echo der Zeit

Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (vierte Genfer Konvention)

Abgeschlossen in Genf am 12. August 1949 In Kraft getreten für die Schweiz am 21. Oktober 1950 (Stand am 18. Juli 2014)

Art. 3 Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden:

  1. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache ausser Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde. […]
  2. Die Verwundeten und Kranken sollen geborgen und gepflegt werden.
    Eine unparteiische humanitäre Organisation, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, kann den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten.
    Die am Konflikt beteiligten Parteien werden sich anderseits bemühen, durch besondere Vereinbarungen auch die andern Bestimmungen des vorliegenden Abkommens ganz oder teilweise in Kraft zu setzen. […]

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