Die Karnickel der St. Petersinsel – ein Nachruf

Die Karnickel der St. Petersinsel – ein Nachruf

Martin Luther irrte, und Jean-Jacques Rousseau trickste

von Heini Hofmann

Einst gab es auf der St. Petersinsel im Bielersee, bei Genf und Basel, in der Ajoie, im Unterwallis und in der Magadinoebene grosse Wildkaninchen-Kolonien. Heute nicht mehr; denn diese Wildart hat sich klammheimlich aus der Schweiz beinahe gänzlich verabschiedet. Für die Petersinsel muss diese Karnickel-Story sogar neu geschrieben werden.

Ursprünglich waren die Wildkaninchen über weite Teile Europas verbreitet, bis sie die Eiszeit nach Spanien und Nordwestafrika drängte. Später verhalf ihnen der Mensch durch künstliche Ausbreitung, sprich Aussetzungen, die Welt zu erobern. Römische Kriegsheere, portugiesische Seefahrer, Normannen und später Kolonisatoren brachten die kleinen Hoppler nach und nach in die Länder der damals bekannten Welt.
Oft waren es domestizierte Kaninchen, die ausgesetzt wurden und dann – rascher als jedes andere Haustier dies könnte – wieder verwilderten; denn Wildheit dominiert stets die Zuchtschöpfungen. Doch uferlose Vermehrung, zum Beispiel auf Inseln ohne natürliche Feinde, kann zu irreparablen Schäden am Ökosystem führen. Musterbeispiel: In Australien wurden aus zwei Dutzend 1859 eingeschleppten Kaninchen über 750 Millionen, eine unbeherrschbare Landplage bis heute.

Hier irrte Luther!

Die Karnickel erregten aber nicht bloss durch ihre gigantomanische Vermehrung Aufsehen; sie sorgten auch für etymologischen Wirrwarr. Denn Martin Luther passierte beim Übersetzen der Bibel vom Hebräischen ins Deutsche ein zoologischer Lapsus. «Shãphãn» übersetzte er mit «Kaninchen». Im Hebräischen heisst dies jedoch «der Sichversteckende», und gemeint ist der Klippschliefer, jener murmeltierähnliche, karnickelfarbige, den Huftieren nahestehende und im speziellen den Elefanten und Seekühen verwandte Fels- und Baumbewohner.
Die Phönizier hatten nämlich – 1100 Jahre vor Christus – bei ihrer Landung auf der Pyrenäenhalbinsel Tiere entdeckt, die, von weitem betrachtet, den ihnen von zu Hause bekannten Klippschliefern ähnlich sahen. Daher nannten sie das Land «i-shãphãn-im», was später latinisiert zu «Hispaña» wurde. Also bedeutet «Spanien» eigentlich «Land der Klippschliefer». Und der Clou dieser Geschichte: Auch die Phönizier hatten sich getäuscht! Was sie fälschlich für Klippschliefer hielten, waren – ihnen noch nicht bekannte –Wildkaninchen. Somit hat Luther zwar falsch übersetzt, aber dadurch zoologisch richtig bezeichnet ...

Hasinchen gibt es nicht!

Wildkaninchen wie auch Hasen sind – trotz Nagezähnen – keine Nagetiere. Während die Kreuzung zwischen Feldhase und Schneehase im Überschneidungsgebiet möglich ist (Bastarde unfruchtbar), ist dies zwischen Hase und Kaninchen ausgeschlossen (genetisch zu weit entfernt). Es gibt also weder «Kanihasen» noch «Hasinchen» … Die Hauskaninchenrasse namens «Hasenkaninchen» heisst bloss so, weil sie ein sehr hasenähnliches Äusseres angezüchtet erhielt.
Während der Hase als Einzelgänger ungeschützt oberirdisch lebt und sich bei Gefahr, getarnt durch seine Fellfarbe, in seine Sasse (Mulde) drückt, leben Wildkaninchen gesellig in Kolonien und bewohnen selbstgegrabene Höhlen. Sprichwörtlich ist die Fruchtbarkeit der Karnickel: Pro Jahr bringt eine Zibbe in bis zu vier Würfen insgesamt bis zu einem Dutzend Junge in einer unterirdischen Wurfröhre zur Welt, hilflose Nesthocker, nackt, blind, zahnlos und taub. Aber sie entwickeln sich rasch.
Was Wildkaninchen so sympathisch macht, sind – neben den grossen dunklen Augen, dem rundlichen Kopf und dem lustigen Hoppeln – die Fähigkeit des Männchenmachens (beim Sichern in Fresspausen), die langen Löffel und das ganz spezielle Gesicht. Es wird geprägt durch die gespaltene Oberlippe (Hasenscharte) und das Näseln oder Nasenblinzeln, ein rhythmisches Zurückziehen der die Nüstern bedeckenden Fellfalte. Oder die drolligen, hastigen Kaubewegungen bei der Zerkleinerung der Nahrung, das Mümmeln. All diesen Charmefaktoren war offensichtlich auch Jean-Jacques Rousseau erlegen.

Die Rousseau-Legende

Der 1712 in Genf geborene Philosoph Rousseau eckte bei Politik und Kirche durch sein neues Denken an. Nach seiner Flucht 1762 aus Frankreich fand er – weil nun auch in seiner Geburtsstadt nicht mehr willkommen – in Môtiers im Val-de-Travers, das heisst im damaligen preussischen Fürstentum Neuenburg, Zuflucht. Doch bereits 1765 musste er auch von hier wieder fliehen.
Seine nächste Station war für kurze Zeit (vom 12. September bis am 24. Oktober 1765) die St. Petersinsel im Bielersee, wo er aber vom bernischen Senat erneut wieder ausgewiesen wurde, um dann via England nach Frankreich zurückzukehren, wo er 1778 starb. Überall steht geschrieben und wurde ständig kolportiert, Rousseau habe auf seiner geliebten St. Petersinsel Wildkaninchen ausgesetzt. Das ist unpräzis. Freigelassen hat er Hauskaninchen, die dann verwilderten.
Zu seiner Zeit, also lange bevor die Juragewässer-Korrektion aus der St. Petersinsel eine Halbinsel formte, bestand diese noch aus zwei richtigen Inseln, der grösseren (heutigen), wo er wohnte, und einer kleineren im Bereich des heutigen Heidenwegs, auf die er sich des öftern zurückzog. Auf dieser erfolgte die Aussetzung, weshalb ihr der Name Chüngeli-Insel geblieben ist, auch als diese Kolonie später längst erloschen war. Erst in den 1980er Jahren haben dann Bieler Jäger auf der jetzigen Halbinsel richtige Wildkaninchen ausgesetzt. Doch der Reihe nach!

Retour à la nature Trick

Auf der St. Petersinsel fand der durch die ständigen Verfolgungen desillusionierte Jean-Jacques Rousseau die innere Ruhe und beschloss, allein der Natur, dem Gefühl und der unmittelbaren Sinneswahrnehmung zu folgen. In seinem letzten Werk «Rêveries du promeneur solitaire» beschrieb der 64jährige sein Glücksgefühl und die wiedergefundene Gemütsruhe. Aus dieser Liebe zum verträumten Eiland entstand der Wunsch, dieses Mikroparadies mit sympathischen Hopplern zu beleben.
Mit Hilfe des Einnehmers der grossen Insel (als Besitzer von Geflügel und Tauben in der Kleintierszene bewandert) konnten innert kürzester Zeit Kaninchen aus Neuenburg beschafft werden, die dann in einer eigentlichen Zeremonie ausgewildert wurden. Natürlich ist Rousseaus gescheckte Hauskaninchenkolonie, weil Wildheit in Freiheit sofort über Zahmheit dominiert, innert weniger Generationen verwildert und hat dadurch auch wieder die braune Wildfärbung angenommen. Die solchermassen zu Pseudo-Wildkaninchen mutierten Hus-Chüngeli kamen dann später bei Festessen im Berner Burgerspitel natürlich als echtes Wildbret auf die Teller …
Rousseau produzierte mit seinem Experiment einen wohl ungewollten Trick im Sinn von «retour à la nature». Was er dabei mit inbrünstiger Freude vollzog, wäre durch die heutige Naturschutzbrille bei weitem nicht mehr umweltkompatibel. Aber wir wollen nicht in den Chor der retrospektiven Schwarzpeterverteiler einstimmen. Zudem war er nicht der einzige Freisetzer. Man nimmt an, dass etliche der heutigen mitteleuropäischen Wildkaninchenbesätze von entwichenen oder ausgesetzten Hauskaninchen abstammen.

Es waren Hauskaninchen!

Rousseau selber sprach nie von Wildkaninchen, die es in der Schweiz damals ja gar nicht gab. Die Tiere aus Neuenburg liessen sich im offenen Korb auf dem Schiff mitführen. Karnickel aber sind schreckhafte Fluchttiere und nur in Käfigen transportierbar. Zudem schreibt Rousseau, unter den Neuenburger Kaninchen habe es «männliche und weibliche» gehabt. Da Wildkaninchen keinen ausgesprochenen Geschlechtsdimorphismus zeigen, das heisst Zibbe und Rammler sich äusserlich kaum unterscheiden, hätten zur Bestimmung die äusseren Geschlechtsorgane beigezogen werden müssen. Sie liegen bauchwärts vom Weidloch und werden erst durch leichten Zug an der sie bedeckenden Hautpartie sichtbar, was bei Wildtieren zu einem kleinen Festhalte-Rodeo geführt hätte – und das passt nicht zu Rousseau.
Auch Bilder aus jener Zeit bestätigen die Hauskaninchen-Theorie: Auf «L’Embarquement» von Daniel Lafond hebt Rousseau ein weisses (!) Kaninchen (nicht ganz fachgerecht) am Chrips hoch, das sich lammfromm benimmt. Auf der Aquatinta von Sigismond Himely handelt es sich bei den zwei Kaninchen vorne links um eine sehr alte Hauskaninchenrasse mit Plattenscheckung, die Brabanter, die bereits im 16. Jahrhundert auf Bildern dargestellt wurden und aus denen die heutige Kaninchenrasse namens Holländer entstanden ist.
Auch auf dem Bild von Gabriel Ludwig Lory sind am rechten Bildrand die Karnickel bei helllichtem Tag wohl ebenfalls wenig scheue Hus-Chüngeli. Dasselbe gilt für ein weiteres Bild von Daniel Lafond; hier sieht man (ebenfalls beim Embarquement auf der Chüngeli-Insel), wie ein kleiner Bub mit ausgestreckten Armen auf ein weisses Kaninchen mit schwarzen Ohren zurennt, um es zu herzen. Das Tierchen, ihm zugewendet und kaum einen Meter von ihm entfernt, bleibt ruhig am Ort und klopft nicht in panischer Angst die Finken. Ergo: Ganz klar ein zahmes Hauskaninchen! Die Indizien sind also erdrückend, auch wenn auf alten Gemälden bezüglich Farbgebung von Nutztierrassen Vorsicht geboten ist – von wegen künstlerischer Freiheit.

Erst später Wildkaninchen

Zeitsprung: Mitte 19. Jahrhundert waren in der Fachliteratur wilde Kaninchen auf Schweizer Boden inexistent. Somit hatte Rousseaus Karnickelkolonie wohl nicht sehr lange überlebt. Darüber fand man bisher leider keine Dokumente. Ebensowenig über die in den 1880er Jahren durch «aufgeschlossene Bieler Jäger» erfolgte Aussetzung richtiger Wildkaninchen auf der St. Petersinsel. Dass diese Grünröcke echte Wild- und nicht Hauskaninchen freiliessen, versteht sich von selbst. Deren Nachkommen wurden in den 1970/80er Jahren wissenschaftlich bearbeitet durch den Wildbiologen Charles Huber vom Naturhistorischen Museum Bern (vgl. Kasten).
In den 1980er Jahren begann die Peters-insel-Kolonie dann zu serbeln, in den 1990er Jahren gar einzubrechen. Genaues weiss heute niemand mehr, weder der Forscher, der sich dann anderen Themen zuwandte, noch der damalige Wildhüter Fritz Maurer aus Müntschemier oder der Historiker und Peters­insel-Kenner Andres Moser aus Erlach. Wie so oft in der Natur war es wohl ein multifaktorielles Geschehen, das sich fast gleichzeitig auch bei den anderen Kolonien in der Schweiz und im benachbarten Ausland manifestierte. Deutschland hatte damals dramatische Einbrüche bei den «Lapuzen» bis in den Rote-Liste-Bereich.
Definitiv ausgestorben ist die Karnickelpopulation auf der St. Petersinsel – nachdem sie gut hundert Jahre überdauert hatte – wohl in den frühen 1990er Jahren, obschon noch Jahre später Touristen-Infotafeln auf der immer noch verträumten Halbinsel auf das angebliche Vorhandensein der kleinen Scharrgraber hinwiesen …

Trauriges Ende ohne Trauer

Heute sind die Wildkaninchen nicht nur auf der St. Petersinsel im Bielersee, sondern auch im Unterwallis (wo sie sich mit Hauskaninchen verbastardierten), in der Ajoie, in der Magadinoebene sowie bei Genf und Basel, wo sie sich früher bis in die Vorstadtgärten ausgebreitet hatten, ausgestorben. Lediglich in der Nähe von Genf, bei Bardonnex an der Landesgrenze, lebt noch eine Schrumpfkolonie, ebenso im Mittelwallis (Sion), welch letztere den dort lebenden Uhus als Nahrungsgrundlage dient.
Der Druck der Zivilisation, der Landwirtschaft und der Freizeitaktivitäten der Menschen auf die Wildkaninchenkolonien wurde immer grösser. Speziell Parasiten, RHD- und Myxomatose-Viren und andere Krankheiten, Inzucht infolge Isolierung einzelner Populationen, erhöhte Fuchs- und Raubvogeldichte sowie streunende Katzen und unbeaufsichtigte Hunde setzten den Hopplern zu.
Das Erstaunliche an dieser Exodus-Geschichte: Während das Aussterben anderer Tierarten zu grossen Schlagzeilen, politischen Vorstössen und letzten verzweifelten Forschungsprojekten führt, verabschiedeten sich die wilden Hoppler klammheimlich, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Menschelt es auch gegenüber den Tieren? Die Wildkaninchen – und das trifft auf alle einstigen Schweizer Kolonien zu – sind ja ursprünglich ausgesetzt worden, sind also Fremdlinge, «Faunaverfälschung». Bei deren Verschwinden scheint, anders als wenn es sich um eine bekannte und beliebte oder jagdlich interessante Tierart handeln täte, keine grosse Trauer angesagt. Kurz: Eine Wildtierart, die immerhin die Ahnform einer unserer Nutztierarten ist, verabschiedet sich still und leise …    • 

Eine Rousseau-Chüngeli-Replika

hh. Charles Hubers Wildkaninchen-Forschungsergebnisse im Rückspiegel: In ihrer besten Zeit Ende 1970er Jahre umfasste die (seit 1972 geschützte) Tierart auf der St. Petersinsel rund 600 Erdbaue und mehr als 1200 Tiere. Sie hinterliessen sichtbar ihre Gänge und Röhren, aber auch Nagespuren an Gebüsch und Bäumen sowie Frassschäden an landwirtschaftlichen Kulturen. Dank Reduktionsabschüssen (rund 200 Tiere) und Aussetzen von 14 Mardern konnte ein erträgliches Gleichgewicht hergestellt werden.
Man lernte auch, Verbissschäden zu minimieren, indem man Reben und Baumstämme mit Drahtgittern schützte oder beim Winterschnitt der Obstbäume die Äste liegenliess. Die Kaninchen taten sich dann an diesen gütlich, statt mit Mehraufwand lebende Bäume bis auf 30 Zentimeter Höhe zu entrinden. So einfach! Die erlegten Tiere lieferten dem Forscher zudem wertvolle Daten über Vermehrungsraten und Altersstrukturen. Einmal mehr zeigte sich, wie hart die Natur ist: Fast 70 Prozent der Jungtiere wurden nicht älter als ein Jahr. Dafür war die Reproduktion gross.
Interessantes Detail: Neben der eigentlichen Kolonie auf der (ehemaligen grossen) Insel gab es auch noch ein paar befahrene Baue auf dem Heidenweg (im Bereich der ehemaligen kleinen Insel), inmitten einiger Ferienhäuser. Wahrscheinlich sind hier einmal ein paar Hauskaninchen entwischt; denn in dieser Kolonie entdeckte Charles Huber plötzlich gescheckte Tiere, die jedoch schon nach wenigen Generationen (Dominanz Wildfarbe!) wieder verschwanden. Eine Rousseau-Replika!

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