Vor kurzem flatterte mir ein Artikel aus einer Elternzeitschrift auf den Schreibtisch. Die «Schule von morgen» war der Titel.1 Ausgehend vom Lehrplan 21 mit dem geplanten Unterricht zu den Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und Medien, entwirft der Schreiber den künftigen Schulalltag unserer Kinder. Ausgerüstet mit Tablet und begleitet durch Lerncoaches sollten sie sich mit digitalem Lernwegmanagement und digitalen Lernaufgaben in alters- und leistungsdurchmischten Gruppen ihre Kompetenzen erarbeiten, um die gewünschten standardisierten Tests zu bestehen, welche künftig anstelle der Lehrpersonen die promotionswirksame Beurteilung und Selektion übernehmen würden.
Der Schreiber verweist auf die grossen Unternehmen, die im Hintergrund warten würden, um Cloud-Lösungen, Social Media, interaktive Webseiten, alle Arten von Apps und Lernprogramme, Videotutorials, modulares Lernmaterial, Lernwegtracking und internationale Tests im Abonnement anzubieten; allenfalls inklusive spezialisierter Lehrpersonen, die das Angebot vor Ort oder im Ferncoaching abdecken würden. Korrekturen könnten weitgehend automatisiert erledigt werden. Schreiben würde unwichtiger, weil den Computern Texte diktiert werden können, und menschenähnliche Roboter könnten Fragen beantworten, emotionale Bedürfnisse abdecken, singen oder erzählen. So der Artikel auszugsweise zusammengefasst.
Gemeint ist also nicht eine Schule, in der digitale oder besser elektronische Geräte und Medien zeitweise als didaktische Mittel zum Üben von Fertigkeiten oder zur Veranschaulichung von Lerninhalten altersgemäss eingesetzt werden, abwechselnd mit anderen Lern- und Lehrmöglichkeiten. Es geht auch nicht um das Verstehen von Digitaltechnik und Rechnerstrukturen als Vorbereitung auf entsprechende Berufsfelder. Das zur Klärung eines vielgehörten Missverständnisses gutgläubiger Eltern und Lehrer! Dann könnten nämlich auch Geräte ohne Netzanschluss verwendet und ein lokaler Server benutzt werden. Nein, gemeint sind «Lernfabriken», in denen das «Werkstück Kind» von Lernstation zu Lernstation geführt wird, wo von Algorhythmen berechnete Lerneinheiten und Übungen die gewünschten Kompetenzen vermitteln und abprüfen sollen. Das ergäbe die Grundlage für individuelle Lernprofile und die nächsten Lernprogramme.2
Soll man lachen oder weinen ob solcher Szenarien? Zudem beschrieben von einem hohen Funktionär des LCH, der sich auf die Fahne schreibt, die Interessen der Lehrer und damit auch der Schülerinnen und Schüler zu vertreten! Und doch:
Auch wenn es uns heute kaum denkbar ist, dass solche Szenarien eines Tages Wirklichkeit werden könnten, verweist der Schreiber zu Recht auf andere Berufe und Wirtschaftszweige, in denen diese Entwicklung bereits im Gange sei. Medienhäuser, IT-Experten und selbsternannte Bildungsexperten haben bereits konkrete Vorstellungen, wie sie diese neue «Lernkultur» konkret umgesetzt haben möchten.3
Wollen wir solche Zukunftsperspektiven unseren Kindern nicht antun und ihnen echte Bildung möglich machen, so müssen wir genauer hinschauen, was sich da abspielt. Denn durch geschickt ausgearbeitete PR-Strategien wird versucht, die Meinung der Bevölkerung in eine bestimmte Richtung zu steuern: «Die digitale Welt ist unsere Zukunft.» «Schüler müssen mit technischen Geräten umgehen und die Möglichkeiten des Internets kompetent nutzen können.» «Digitale Kompetenzen müssen schon früh gelernt werden.» usw. Und als unumstössliche Tatsache wird in den Raum gestellt, dass den Gemeinden, angesichts des neuen Lehrplan 21 bzw. dessen kantonalen Varianten, nicht viel anderes übrigbleiben würde, als ihre Schulen zu digitalisieren, verbunden mit hohen Investitionen. Bildung als Handelsware? Ein Grund zum Jubeln für die Bildungskonzerne! Angesichts solcher Entwicklungen lohnt sich der Versuch einer Analyse der damit verbundenen Akteure und Strategien. Denn solche Entwicklungen passieren nicht von heute auf morgen!
Der oben beschriebene Verlauf nahm bereits vor mehr als zwanzig Jahren seinen Anfang. Ein wichtiger Schritt wurde im Rahmen der Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO getätigt, als am 1. Januar 1995 das Allgemeine Abkommen für den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS) in Kraft gesetzt wurde. Mit dem GATS sollte eine weltweite Öffnung der Dienstleistungsmärkte erreicht werden. Unterzeichnet worden war das Abkommen im Rahmen der WTO für die Schweiz von Luzius Wasescha, dem damaligen Delegierten des Bundesrates für Handelsverträge und Mitglied der Geschäftsleitung des Staatssekretariates für Wirtschaft (Seco). Eine Volksabstimmung hatte es nicht gegeben.
In der Folge gab es Kritik von verschiedenen Seiten. Ein Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, des Service public, wurde befürchtet. Zu Recht! Zwar sollten die «Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden, von der Liberalisierung ausgenommen sein».4 Eine Abgrenzung war jedoch schwierig, weil in vielen europäischen Ländern in den klassischen Bereichen der Daseinsvorsorge (Gesundheits-, Bildungswesen, Energie- und Wasserversorgung, Verkehr, Post, Telekommunikation) traditionsgemäss ohnehin private und öffentliche Anbieter nebeneinander existierten – auch in der Schweiz.5 Luzius Wasescha betonte hartnäckig, die öffentlichen Dienstleistungen seien davon in keiner Weise betroffen, bei den WTO-Verhandlungen gehe es lediglich um handelbare Dienstleistungen.6 Und der Verantwortliche für die Dienstleistungsverhandlungen, Henri Gétaz, antwortete damals auf die kritische Frage einer Journalistin: «Einen Zusammenhang zwischen den laufenden Dienstleistungsverhandlungen in der WTO und einem drohenden Abbau des Service public in der Schweiz sehe ich nicht – dies müssen Sie mir erklären.»7 Vielleicht waren diese Statements jedoch Ausdruck dessen, was Renato Ruggiero, der damalige Direktor der WTO, unverblümter verkündete hatte: «Wir haben einen Verkaufsjob zu machen. Wir müssen neue Wege finden, um die Vorteile der Globalisierung ’rüber zu bringen.»8
Die seitherige Entwicklung zeugt vom Gegenteil. Eingeleitet wurde sie durch die Trennung der PTT von der lukrativen Telekommunikation, die nun für den Markt geöffnet wurde. Dadurch war eine Quersubventionierung der Post mit den einträglicheren Geschäften der Telefonie nicht mehr möglich. Es dürfte niemandem entgangen sein, dass seither die Postdienstleistungen immer mehr eingeschränkt bzw. teurer wurden. Die Postbüros verkommen zunehmend zu Gemischtwarenläden, und selbst gut frequentierte Poststellen werden gegen den Willen der Bevölkerung geschlossen. Unverfroren wird behauptet, dass eine ausreichende Grundversorgung stets gewährleistet sein werde. Ähnliche Entwicklungen sind auch in der Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen zu beobachten. Die Einbindung in internationale Handelsverträge, die letztlich die vollständige Privatisierung des Dienstleistungssektors zum Ziel haben, wird nach wie vor verschwiegen. Weitere Verträge gleicher Art sind aber seither lanciert worden.
Wir müssen diesen politischen Hintergrund dabei haben, wenn wir heutige Entwicklungen im Bildungswesen und Zukunftsszenarien wie im eingangs erwähnten Artikel einordnen und beurteilen wollen. Sonst laufen wir – wie erwähnt – Gefahr, auf die Strategien der PR-Büros hereinzufallen, die uns diese Entwicklungen als unumgänglich und notwendig schmackhaft machen wollen. In der Tat sind keine pädagogischen Zielsetzungen damit verbunden, sondern Ziel ist die Privatisierung und Ökonomisierung des Bildungswesens in Hinblick auf einen neuen lukrativen Markt. Ein Blick auf die angelsächsische Welt zeigt, wohin sich unser Bildungswesen nach den Wunschträumen der Bildungskonzerne entwickeln soll. Dort gab der amerikanische Wirtschaftstheoretiker Milton Friedman (1912–2006) und Begründer der Chicagoer Schule die Vorgaben. Er plädierte für den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und rückte den Markt in den Mittelpunkt seiner Theorien. Der sich daraus entwickelnde Neoliberalismus wurde in der Folge zur dominierenden Wirtschaftstheorie. Sie stand für Deregulierung und Flexibilisierung, Privatisierung und Globalisierung.
Für Friedman war klar, dass auch das staatliche Bildungswesen für den Finanzmarkt geöffnet werden sollte. Wie üblich argumentierte er mit dem Wettbewerb, der zu besserer Qualität und tieferen Kosten führen würde.9 Auch stammt die Idee der Bildungsgutscheine von ihm. Friedman wurde Berater von Ronald Reagan und Margret Thatcher. Beide trieben die Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen voran und an den Abgrund, Thatcher prägte ihre Strategie mit dem Schlagwort «TINA – There is no alternative». – Dass die Privatisierung der Öffentlichen Dienstleistungen Widerstand hervorrufen könnte, war auch Friedman klar, und seine Devise war: «Der einzige Weg, um das Verhalten der Politiker zu ändern, ist, ihnen das Geld wegzunehmen.» Die hierzulande mittlerweile in allen Bereichen der öffentliche Dienstleistungen zu schnürenden Sparpakete sind Ausdruck dieser Strategie, denn die neoliberale Marktideologie stiess auch bei uns auf offene Ohren.10 Auch die CEOs der Bildungskonzerne wussten ihre Chancen zu nutzen.
Bill Gates reiste Ende der neunziger Jahre um den Erdball und bot vielen Regierungen an, seine Software gratis abzugeben. So geschehen 1998, als er der Schweiz einen Besuch abstattete und eine Unterredung mit Bundesrat Villiger hatte. Von den in der Schweiz üblichen direktdemokratischen Entscheidungsverfahren hielt er nicht viel, sondern er schätzte das in den USA übliche Entscheidungsverfahren einer kleinen Zahl von Abgeordneten als effizienter und sinnvoller ein.11 Aber er fand auch in der Schweiz seine Unterstützer. Führend war der damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor. Kaum in die Regierung gewählt, begann Ernst Buschor ab 1993 seine Ideen in die Tat umzusetzen, erst in der Gesundheits- und Fürsorgedirektion, danach in der Bildungsdirektion. Er nahm eine Einladung für den Besuch eines Symposiums in Boston an. Danach schrieb er das Grundkonzept für eine Reform, die seither unseren Schulen das Gesicht gibt. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel suchte er nicht durch einen demokratischen Prozess zu erwirken, sondern er erhielt sie durch einen neugegründeten Verein, der schliesslich 2,5 Millionen Franken für das Reformprojekt Schule 21 aufbrachte.12 Mit diesem Geld wurden vor allem die wissenschaftliche Evaluation des Projekts und die Ausbildung der Lehrer finanziert. Dass Computerhersteller gern bereit waren, die Schulzimmer zu Sonderkonditionen mit ihren Produkten zu versorgen, verstand sich von selber.13 Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder dazu kaufen.14
Seither hat eine regelrechte Reformflut unsere Volksschule überzogen, in der das Kind und seine Beziehung zu seinen Lehrpersonen zur Quantité négligeable wurde. Der Lehrplan 21 ist Teil davon. Es fehlt der Mensch – und das im Lande Pestalozzis! Was der Schreiber des eingangs erwähnten Artikels beschreibt, ist zwar noch nicht Wirklichkeit, aber die Weichen sind gestellt. Dazu gehört auch die dominierende Rolle der Pädagogischen Hochschulen bei der Ausbildung «lehrplan-kompatibler» Lehrer, die auf ihre neue Rolle als Lerncoaches und Lernbegleiter getrimmt werden.15 Trotz aktueller entwicklungs- und lernpsychologischer Erkenntnisse und unabhängiger Studien, die auf die verfehlten Grundlagen der gegenwärtigen Reformprojekte hinweisen, wird die Umgestaltung der Schulen vorangetrieben. Kommt nach dem Sinkflug der öffentlichen Schule deren Grounding? Wir haben es in der Hand, eine Wende einzuleiten! Es ist an der Zeit, und wir sind es der nachfolgenden Generation schuldig. •
1 Brühlmann, Jürg. Die Schule von morgen. In: Fritz + Fränzi, Oktober 2017
2 vgl. dazu das sehr lesenswerte Buch von: Lankau, Ralf. Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim Basel 2017. ISBN 978-3-407-25761-1
3 vgl. Lankau, Ralf. Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim Basel 2017, S. 28ff.
4 GATS, Art. 1, Abs. 3 (c)
5 vgl. dazu die ausführliche Analyse der Erklärung von Bern (EVB): Jäggi, Monika und Hochuli, Marianne. Das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS und die Schweiz. Analyse der GATS-Verpflichtungslisten der Schweiz in den Dienstleistungsbereichen des Service public. Zürich 2003
6 vgl. Hochuli, Marianne. Online büffeln und fern heilen. In: Wochenzeitung vom 11.1.2001
7 vgl. Hochuli, Marianne. Online büffeln und fern heilen. In: Wochenzeitung vom 11.1.2001
8 Alden, Edward. Trade Protectors hit home. In: Financial Times vom 19. November 2000
9 «The State’s objective would be better served by a competitive educational market than by a goverment monopoly […] As in other industries such a competitive free market would lead to improvments in quality and reduction of cost.» Friedman, Milton. The Promise of Vouchers. In: Wall Street Journal vom 5. Dezember 2005
10 Diese Taktik wurde für die Schweiz beschrieben in: Pelizzari, Alessandro. Die Ökonomisierung des Politischen. New Public Management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste. Konstanz 2001
11 vgl. Gates, Bill. In: Felber, Ursula/Gautschi, Eliane. Die Trojanische Maus. Computer in den Schulen – Lernen für die Zukunft. Zürich 2002,
S. 75.
12 In diesem Verein waren u.a. Anton E. Schrafl, Vizepräsident des Holderbank-Verwaltungsrates und der Unternehmer Klaus Jacobs, der spontan 1 Million zur Verfügung stellte. vgl. Ernst Buschor – Ein Mann macht Schule. In: Bilanz, 31.12.1999
13 vgl. Ernst Buschor – Ein Mann macht Schule. In: Bilanz, 31.12.1999
14 So äusserte sich BD Ernst Buschor an einer öffentlichen Veranstaltung vor der Abstimmung zum neuen Zürcher Volksschulgesetz in Affoltern a. A.
15 Selbstverständlich hat es auch heute noch Dozenten an den Pädagogischen Hochschulen, die ihre Studenten anders ausbilden (möchten), sie sind aber nur noch in Nischenbereichen zu finden.
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