Es ist nicht zu übersehen: Das Leben auf unserem Planeten wird von Arbeit geprägt. Die meisten Lebewesen verbringen die meiste Zeit ihres Lebens mit der Suche nach Nahrung, dem Schutz des eigenen Lebens und der Aufzucht ihrer Jungen. Auch der Mensch kann sich diesen Forderungen des Lebens nicht entziehen. Aber er hat sich nicht damit zufrieden gegeben, Beeren zu sammeln und zu jagen und seine Kinder in Höhlen aufzuziehen, sondern hat begonnen, das Land, auf dem er sesshaft geworden war, zu kultivieren und sich die Schätze der Erde dienstbar zu machen.
Seit jener frühen Zeit hat die Menschheit einen weiten Weg zurückgelegt: Der Mensch hat «die Berge bestiegen», nachdem er seine Furcht vor bösen Geistern hinter den Naturgewalten überwunden hatte; er hat den Boden urbar gemacht, Strassen angelegt, die Meere befahren, Handel getrieben, gebaut, erfunden und gedacht; er hat der Natur ihre Geheimnisse abgerungen, den Dampf gebändigt und eine reiche Kultur geschaffen. Mit Hilfe der Naturwissenschaften und seiner überragenden Technik hat er sogar den Weltraum betreten, und nun schickt er sich an, mit der digitalen Revolution die Arbeitswelt noch einmal neu zu erfinden.
«Der Prozess der Natur- oder Weltbemächtigung,» schreibt der Theologe und Wirtschaftsethiker Arthur Rich*, «begann von dem Zeitpunkt an, da früheste Vorfahren, etwa im Neolithikum [vor etwa 12 000 Jahren] von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise übergingen, also aus Sammlern, Jägern und nomadisierenden Hirten zu sesshaften Bauern wurden. Er leitete die eigentliche Kulturentwicklung der Menschheit ein. […] Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft hat der Mensch tatsächlich angefangen, die natürliche Welt zu ‹kultivieren›, mithin aktiv zu nutzen und sie zu seinen eigenen Zwecken umzugestalten. Eines ihrer legitimen Kinder ist die neuzeitliche Technik, die im Verlaufe einer langen Geschichte über verschiedene Zwischenstufen erst in allerjüngster Zeit zu einer atemberaubenden, aber auch bedrohlichen Höhe aufgestiegen ist. Durch sie sind heute von der Rohstoffwirtschaft bis zur Humanmedizin fast alle Lebensbereiche tiefgreifend umgestaltet und nicht nur das Antlitz der Erde, sondern auch die herkömmlichen Lebensbedingungen in einer Weise verändert worden, dass sich zu deren prägnanter Kennzeichnung der Begriff ‹Revolution› aufdrängt.»1 (Band I, S. 47)
Die Industrielle Revolution, die erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von England ausging, hat die Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensbedingungen in den industrialisierten Ländern in den letzten dreihundert Jahren tatsächlich mehr verändert, als alles andere in der vieltausendjährigen Geschichte zuvor. Ihre genialen Erfindungen haben die Produktivität der Arbeit in einem Mass gesteigert, dass es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich wäre, Wohlstand für alle zu schaffen. Doch wenn man die Augen vor den Tatsachen nicht verschliesst, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass die technischen Errungenschaften nur einem Teil der Menschen einen hohen Konsumwohlstand verschafft haben, während andere nicht einmal über das Notwendigste für ein menschenwürdiges Leben verfügen. Laut Welthunger-Index 2017 hungern weltweit mehr als 800 Millionen Menschen, und das trotz steigender Lebensmittelproduktion. Selbst in den westlichen Überflussgesellschaften gibt es immer noch und neuerdings wieder zunehmend Armut, die nicht auf Selbstverschulden der Betroffenen zurückzuführen ist.
Dass Wirtschaft und Handel auch mit Macht und Politik verknüpft sind, ist nicht neu. Neu aber ist das Ausmass an Macht, welches gewisse Industriegiganten etwa in Bereichen der Rohstoff-, Chemie-, Waffen-, Elektronik- und nicht zuletzt der Finanzindustrie im Gefolge der Industrialisierung erreichen konnten.
Mit fortschreitender Automatisierung der Produktion spielte das Kapital in der Wirtschaft eine immer grössere Rolle. Zunehmend konnten nur noch finanzstarke Einzelpersonen oder Konzerne die notwendigen Investitionen für die hochentwickelten durchrationalisierten Produktionsanlagen aufbringen, und das führte zu einer Schwergewichtsverlagerung vom «Produktionsfaktor Arbeit auf den Produktionsfaktor Kapital». Der «Managerunternehmer», der zwar über das Unternehmenskapital verfügt, aber oft nicht mehr als nur symbolisch am Unternehmen beteiligt ist, begann zu dominieren. Und so entwickelte sich neben der relativ stationären lokalen und nationalen Wirtschaft, in der vielerorts das Handwerk und das Gewerbe heute immer noch blühen, eine globale Wirtschaft, welche die Wettbewerbsstruktur der Marktwirtschaft völlig verändert hat.
Multinationale Konzerne, die seit dem Zweiten Weltkrieg das Bild der Weltwirtschaft prägen, streben nach Marktbeherrschung und sind daran interessiert, ihren Markt zu erweitern und den Wettbewerb einzuschränken. «Innerhalb des Marktsystems», schreibt Arthur Rich, «ist die allgegenwärtige Tendenz zu beachten, Machtpositionen aufzubauen und damit wettbewerbliche Prozesse abzubauen. […] Schliesslich geht dies so weit, dass die Produktion anfängt, ein Nebeneffekt des Strebens nach Gewinn zu werden, indem das Kapital ohne Einsatz von Arbeit und Produktionsmitteln, das heisst durch Spekulationsgeschäfte, Profit erzielt. Grossunternehmen halten eigene Finanzinstitute, die auf solchem Wege und nicht durch die Produktion und den Verkauf von Investitions-, Konsum- oder Dienstleistungsgütern, massiv verdienen.»2 (Band II, S. 262)
Unter solchen Bedingungen entartet das durchaus berechtigte Streben nach Gewinn zu einem aggressiven Verdrängungskampf, bei dem oft nicht mehr «die Wettbewerbstüchtigkeit eines Unternehmens über seine Marktanteile entscheidet», sondern die wirtschaftliche Machtposition. Die Marktwirtschaft entartet so zu einer Art «wirtschaftsdarwinistischem Tummelplatz», wo der Stärkere den Schwächeren verdrängt. Es werden «Sachzwänge» zu immer noch mehr Wachstum geschaffen, denen sich der einzelne Unternehmer unter Umständen nicht entziehen kann, wenn er überleben will. So machen die einen Konkurs und die anderen, die noch im Markt sind, geraten unter immer härteren Leistungsdruck. Firmen werden aufgekauft und geschlossen, um die Konkurrenz auszuschalten. Es herrscht eine Art Wirtschaftskrieg, ein Krieg, der, wie die Geschichte zeigt, nicht immer auf die Wirtschaft beschränkt bleibt.
Global ausgerichtete Industriegiganten sind bestrebt, nationale Grenzen aufzubrechen und ihre wirtschaftliche Macht auch in politische Macht umzusetzen, wobei ihnen ihre Multinationalität eine aussergewöhnliche Position verleiht. Sie erlaubt ihnen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen ihrer Herkunftsländer zu umgehen, indem sie die Standorte für ihre Investitionen frei wählen können. Darüber hinaus verleiht ihnen ihre wirtschaftliche Macht die Möglichkeit, die Standortgegebenheiten ihres Gastlandes zu ihren Gunsten zu verändern, indem sie Steuererleichterungen, Absatzgarantien, freien Geldtransfer und andere Vergünstigungen verlangen und durchsetzen.
Der Wirtschaftsethiker misst Wirtschaft an ihrer «Lebensdienlichkeit»; sie hat dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt der Mensch der Wirtschaft. Es genügt nicht, wenn sie allein die Güter und Dienste produziert, die für eine menschenwürdige Existenz notwendig sind – obwohl das vor allem bei Mangel natürlich den Vorrang hat –, sondern sie soll das auch in einer Weise tun, die «jedem Willigen» ermöglicht, in der Arbeitswelt den Status einer «mitbeteiligten, mitbestimmenden und insofern auch mitverantwortlichen Person» einzunehmen.
Arbeit ist nicht nur «Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts», sondern in hohem Masse auch Sinn und Gemeinschaft stiftend. Sie gibt dem Leben Struktur und Bedeutung. Tätig sein gehört zum Menschen. Schon kleine Kinder wollen arbeiten, wenn sie den Beruf des Vaters oder der Mutter spielen. Und für Menschen, die ihre Arbeit verlieren, wiegt der Verlust an Bedeutung und sozialem Kontakt oft schwerer als die finanzielle Einbusse.
Das «Lebensdienliche» oder «Menschengerechte», wie Rich es auch nennt, schliesst notwendig das «Umweltgerechte» und die «Verteilungsgerechtigkeit» ein. Eine Wirtschaft, welche die natürliche Lebensgrundlage zerstört, ist ebenso wenig lebensdienlich wie eine, die derart soziale Ungleichheit erzeugt, dass auf der einen Seite «unnötiger Überfluss» und auf der anderen «Mangel am Notwendigsten» besteht.
Nun ist für Rich entscheidend, dass die Wirtschaft, wie sie sich heute präsentiert, kein «Naturprodukt», sondern eine von Menschen geschaffene «Institution», also ein «geschichtliches Kulturerzeugnis» und deshalb auch veränderbar ist. Dabei folgt er weder der Vorstellung, dass die strukturelle Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Person des Menschen automatisch verändern werde, noch der Erwartung, dass die innere Wandlung der menschlichen Person von selbst zu einer Beseitigung des strukturellen Unrechts in der Gesellschaft führen. Es braucht Anstrengungen auf beiden Ebenen. Für ihn haben sich die Ordnungsstrukturen der Wirtschaft nicht nach Theorien wie Liberalismus oder Sozialismus zu richten, sondern «sach- und menschengerecht» zu sein.
Eine menschliche Ordnung braucht Grundvertrauen. Schon die alltäglichen Schritte, Handlungen und Entscheidungen setzen Vertrauen voraus. Ohne «Treu und Glauben», schreibt Rich, würden auch die besten Gesetze und die hilfreichsten Strukturen um ihre Wirksamkeit gebracht. Wo Treu und Glauben verfallen, verfalle auch das Menschliche im Leben.
Die Weltwirtschaft bildet mit ihren entgrenzten Märkten ein komplexes globales Geflecht, das eine internationale Zusammenarbeit der einzelnen Volkswirtschaften unerlässlich macht. Wie die Erfahrung zeigt, gleichen sich die ökonomischen Ungleichheiten nicht automatisch aus; sie werden im Gegenteil noch verschärft. Eines der brisantesten «Verteilungsprobleme» sieht Rich im krassen Missverhältnis in der Einkommensverteilung zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern. Ohne die Mitschuld der Entwicklungsländer zu verkennen, macht er dafür die «konfrontativen Strukturen der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen» zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern verantwortlich. Um den «untragbaren Benachteiligungen der Entwicklungsländer in den marktlichen Austauschbeziehungen» zu begegnen, bedürfe es «einer Neuordnung der wirtschaftlichen Kooperation» zwischen «Nord und Süd» im Sinne einer «partizipativen Strukturierung». Also die Schaffung von Rahmenbedingungen, die es den Entwicklungsländern möglich machen, wenigstens langfristig mit den Industriestaaten wettbewerblich einigermassen gleichzuziehen. (Band II, S. 366) Eine entscheidende Voraussetzung hierfür ist die Begrenzung wirtschaftlicher Macht mit dem Ziel ihrer Kontrollier- und Beherrschbarkeit. Gelingt das nicht, und verschärfen sich die Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft weiterhin wie bisher, befürchtet Rich für die Zukunft «desaströse Konflikte» zwischen «Nord und Süd».
Für den Theologen Rich sind «letzte, definitive Lösungen» im Sinne einer absolut gerechten Wirtschaft nur im Reich Gottes auf Erden möglich. Der Wirtschaftsethiker zieht daraus den Schluss, dass Wirtschaftsethik ihren Ort im «Vorletzten und mithin im Relativen» haben muss. Es darf nicht ihre Sache sein, Visionen einer absolut gerechten Wirtschaftsordnung zu kultivieren und dabei alle real wirklichen oder real möglichen Ordnungsformen in Frage zu stellen, weil sie dem Ideal nicht genügen können.
Wirtschaftliche Reflexionen haben sich «auf dem Boden der Realität» zu bewegen, und wenn vollkommene Lösungen nicht möglich sind, sich darauf zu konzentrieren, die «sachlichen und normativen Bedingungen» zu studieren, die im Vergleich zum Bestehenden zu weniger Ungerechtigkeit führen.
Zur Realitätsbezogenheit der Wirtschaft, wie sie Rich versteht, gehören unabdingbar zwei Prämissen: «Einmal gehört dazu die volle Respektierung der ökonomischen Sachnotwendigkeiten. Es gilt eindeutig daran festzuhalten, dass nicht wirklich menschengerecht sein kann, was nicht auch sachgemäss ist.
Dazu gehört aber nicht minder, dass die Wirtschaftsethik genau und scharf zwischen ökonomischen ‹Zwängen› zu unterscheiden hat, die auf Sachnotwendigkeiten beruhen, und solchen, die in Ordnungsstrukturen wurzeln, die schliesslich vom Menschen gesetzt und darum auch von ihm auf das Menschengerechte hin veränderbar oder zumindest beeinflussbar sind. Hinsichtlich derartiger Zwänge hat die Wirtschaftsethik, wieder unzweideutig, geltend zu machen, dass nicht wirklich sachgemäss sein kann, was dem Menschgerechten widerspricht.» (Band II, S. 374)
Richs Überlegungen haben heute nichts an Aktualität verloren. Wegleitend für eine Veränderung des wirtschaftlichen Geschehens könnte für uns die Frage sein, welche ordnungspolitischen Strukturen eine Wandlung zu einer sach- und menschengerechteren Wirtschaft ermöglichen. •
1 Rich, Arthur. Wirtschaftsethik, Band I, Grundlagen aus theologischer Perspektive. Gütersloh 1984. 2. Auflage 1985
2 Rich, Arthur. Wirtschaftsethik, Band II, Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht. Gütersloh 1990. Zweite Auflage 1992
* Artur Rich geboren am 21. Januar 1910 in Neuhausen a. Rheinfall/SH. 1925–1930 Lehrling und Arbeiter in einer Maschinenfabrik, 1932 Matura auf dem zweiten Bildungsweg, 1932–1937 Studium der Theologie in Zürich und Paris. 1938 Heirat mit Elisabeth Schneider. Von 1938–1947 Gemeindepfarrer, danach bis 1954 Direktor des Lehrerseminars des Kantons Schaffhausen. 1954–1976 Ordinarius für Systematische und Praktische Theologie an der Universität Zürich mit Schwerpunkt Sozialethik. 1964 Gründung des Instituts für Sozialethik an der Universität Zürich, dem er bis 1977 vorstand. Nach seiner Emeritierung 1976 Lehrauftrag für Sozialethik an der ETH Zürich. 1985 wurde ihm der Ehrendoktor der Hochschule St. Gallen verliehen. Er starb am 25. Juli 1992 in Zürich.
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