Gemalte Ehrfurcht vor der Schöpfung

Gemalte Ehrfurcht vor der Schöpfung

100 Jahre Mili-Weber-Haus – eine Kunstoase im Wald ob St. Moritz 

von Heini Hofmann

Man fühlt sich in eine verträumte Gegenwelt zum mondänen Engadiner Jetset-Kurort versetzt. Im Wald oberhalb des St. Moritzersees, umgeben von Arven und Lärchen, steht das Mili-Weber-Haus, Hort einer Kunst der leisen Töne, märchenhaft aussen wie innen, ein eigentliches Gesamtkunstwerk.
Unzählige Kunstliebhaber, aber auch Berühmtheiten unter den St. Moritzer Jetset-Gästen haben im Lauf der Jahre das Mili-Weber-Haus mit ihrem Besuch beehrt, von Farah Diba über den Scheich von Kuwait bis zu Charlie Chaplin. Jetzt wird sein hundertjähriges Bestehen zelebriert.

Ältere Schwester als Mentorin

In der zweisprachigen Metropole des Berner Seelandes wurde Berta Emilie, genannt Mili, am 1. März 1891 als Nesthäkchen in eine wohlbehütete Kindheit hineingeboren, von der sie später selber schwärmte: «Auf der ganzen Welt hat niemand – nein, gar niemand – solch liebe Eltern, solch’ gute Schwestern und liebe Brüder.» Obschon die Familie nicht auf Rosen gebettet war, bemühte sie sich, die Begabungen der Kinder zu fördern, so dass sich schliesslich vier von sechs der Malerei, Bildhauerei und Architektur verschrieben.
Die eigentliche Mentorin von Mili jedoch wurde ihre Halbschwester Anna Haller (1872–1924), von der sie später sagte: «Sie war mein ein und alles. Ich verehrte und bewunderte sie – sie war so weise und so gut.» Die um neunzehn Jahre ältere Anna, die als erste Frau die 1887 neu geschaffene kunstgewerbliche Abteilung des Technikums Biel absolviert hatte, war bereits eine erfolgreiche Kunsthandwerkerin und -malerin und zugleich erste Lehrerin an der Kunstgewerbeabteilung des Technikums Biel.
Obschon Mili nur den einen Wunsch hatte, es ihrer Schwester gleichzutun, liess sie sich von dieser überzeugen, zuerst einen «richtigen» Beruf zu erlernen. Also wurde Mili vorerst Kindergärtnerin, und dies an der Neuen Mädchenschule in Bern, deren Präsident Rudolf von Tavel war, dessen Bücher ihr so viel bedeuteten und von dessen «so lieben, schönen Geschichten» sie gerne Szenen malte.

Biel – München – St. Moritz

Es dauerte denn auch nicht lange, da kehrte Mili definitiv zur Malerei zurück. Anna schenkte ihr einen Kasten mit Ölfarben und führte sie bei einem befreundeten Kunstmaler ein, der ihr vorausahnend prophezeite, entweder bleibe sie beim Porträt und der Figurenmalerei, oder sie gehe «ins Märchen». Damit sie ihr technisches Können noch vervollkommnen könne, nahm sie Schwester Anna 1912 mit nach München, wo sie selbst von einem Verlag einen grossen Auftrag erhalten hatte.
Milis Ausbildung in München wurde aus dem Nachlass des in den Bergen verunglückten Bruders Otto berappt, der ihr von den Eltern und Geschwistern hochherzig überlassen wurde. Milis Mallehrer in München war ein Österreicher, herzlich und anspornend: «Sie sind a Mensch, und i bi a Mensch. Sie hab’n Ihre Auffassung, I hob die meine, i zeig Ihnen nur die Fehler.» Doch plötzlich – der Sommer 1914 nahte – sprach man von Krieg. Kaum waren die beiden Schwestern nach Biel zurückgekehrt, brach der Erste Weltkrieg aus. Alles Liebliche blieb Erinnerung.
Doch die Malerei ging weiter, intensiver denn je. Neben Aufträgen für Kinderporträts fing Mili jetzt an, kleine Märchenaquarelle zu malen – Elfen und Pilze mit Kindergesichtern –, ähnlich den Blumenmärchen des Thurgauer Malers und Kinderbuchillustrators Ernst Kreidolf, wenn auch nicht von diesem beeinflusst.
Der jüngste Bruder Emil war zu dieser Zeit als Architekt beim Bauunternehmer Nicolaus Hartmann in St. Moritz, Erbauer des Segantini und Engadiner Museums sowie des Direktionsgebäudes der Rhätischen Bahn in Chur (für welches der verunglückte Bruder Otto, der Bildhauer war, monumentale Skulpturen geschaffen hatte, deren nachgelassene Honorare Milis Studienaufenthalt in München ermöglicht haben). Dieser Bezug und der Umstand, dass Anna Haller an Atemproblemen litt, veranlasste die Familie, ihren Wohnsitz vor hundert Jahren, 1917, nach St. Moritz zu verlegen; doch die Mutter sollte diesen Umzug nicht mehr erleben.

Frohe Märlein ohne Gewalt

Die Verlage, für die Anna arbeitete, wurden zunehmend auch auf Mili aufmerksam, so dass auch sie Aufträge erhielt. Sie schuf neben Porträts und Aquarellen auch Malbüchlein zu den Grimmschen Märchen, Wandbilder und Postkartenserien. Das von ihrem jüngsten Bruder erbaute Haus an der Via Dimlej wurde für Mili zum idealen Arbeitsort voller Ruhe und Inspiration. Zunehmend widmete sie sich nun der Märchenthematik und malte diese in leisen Tönen, auf ihre Weise interpretiert: frohe Märlein ohne Gewalt und Grausamkeit.
Doch immer wieder gab es Zäsuren im Leben der Mili Weber, so als 1924 ihre geliebte Schwester und Mentorin Anna starb, «mit der ich ein Herz und eine Seele war». Solche Schicksalsschläge wie später auch die stillen Jahre im Engadin während des Zweiten Weltkrieges, der Tod ihres Vaters und jener des letzten Bruders, der sie tatkräftig unterstützt hatte, liessen ihr Schaffen noch intensiver werden.
Davon zeugen die bewegenden Aquarelle, die tiefsinnigen Bildgeschichten, die fantasievollen Miniaturen dieser Jahre, aber auch die Malereien, mit denen Mili Wände, Decken, Balken und Möbel, ja sogar Hausorgel und Badezimmer ihres Hauses in eine einzigartige Fabelwelt verwandelte. Dieses Gesamtkunstwerk, eben neu betreut von Sibylla Degiacomi, nimmt auch heutige Besucher gefangen und lässt sie wie kleine Kinder staunen ob so viel stiller Grösse.

Stiller Abschied

Ein Augenleiden verunmöglichte ihr im hohen Alter zunehmend das Malen, da ein Grauschleier die Farben trübte. Doch ihr freundlich-sonniges Lächeln behielt sie, und auf die Frage, ob es sie nicht bedrücke, die eigenen Bilder nicht mehr sehen zu können, meinte sie gelassen, dass sie diese in ihrem Herzen trage.
Dank der von ihr noch zu Lebzeiten gegründeten Stiftung bleibt dieses «Kunsthaus im Wald» der Nachwelt erhalten. Still und leise, wie sie gelebt hatte, starb Mili Weber 87jährig am 11. Juli 1978 in ihrem Märchenhaus. Ihr Gesamtkunstwerk ist und bleibt gemalte Ehrfurcht vor der Schöpfung und Liebe zur Kreatur.    •

Das Mili-Weber-Haus an der Via Dimlej 35 in 7500 St. Moritz kann nur geführt und nach Voranmeldung besichtigt werden (max. acht Personen auf einmal): Telefon 079 53 99 777

Ihre Freunde, die Tiere des Waldes

HH. Die Kraft für ihr Schaffen tankte Mili Weber in der Natur, mit der sie eng verbunden war. Das belegt auch ihr Zugang zu den Tieren des Waldes. Das von ihr grossgezogene Rehlein Fin, dem sie eine Erzählung in Buchform widmete, kam später sogar mit seinem Nachwuchs wieder zu Besuch. Auch andere Rehe und sogar Hirsche, aber auch Eichhörnchen und Vögel scharten sich ums Haus und holten ihre Leckerbissen. Einige, darunter sogar ein kapitaler Hirsch mit ausladendem Geweih, folgten ihr zum Teil bis in Hausflur und Küche. So schrieb sie denn in einem ihrer letzten Briefe: «So lebe ich hier allein, und die Tiere des Waldes sind meine Freunde und Gefährten.»

Traumwelten beseelter Natur

HH. Die Märchenwelt des Engadiner Hochtals, die schon andere berühmte Maler inspiriert hat, mag auch Mili Weber beflügelt haben. Zudem war sie die Herzlichkeit selber, sowohl den Mitmenschen als auch der Natur und ihren Geschöpfen gegenüber, was sich in ihrem Werk unverkennbar widerspiegelt. Menschlichen Wunschfantasien folgend beseelt sie in ihren Bildern die Natur mit Kinderfiguren, anfänglich in Form personifizierter Blumen.
Später mutieren die kleinen Gestalten mit den runden Köpfchen und den grossen, staunenden Augen zu eigentlichen «Seelchen», wie etwa die «Kirschenkinder» oder «Das Nixlein Sonnenscheinchen» – Mixturen von exaktester Naturbeobachtung und nativ-naiver Fantasie, unschuldige Traumwelten, die den Betrachter in kindliches Staunen zurückholen.
Symbole der Lebensweisheit sowie Gestalten aus Geschichte und Sagen treten in allen Werkperioden Mili Webers in Erscheinung, so etwa das «Marienkind» oder «Jeanne d’Arc». Neben Einzelbildern schuf sie auch Bildergruppen (wie «Schneewittchen und die sieben Zwerge») oder Bildergeschichten (wie «Das Märlein vom gefangenen Königssohn», in dem selbst Felszinnen beseelt sind).
Ob Zeichnungen, Aquarelle oder Ölbilder, ob Plastiken und Miniaturen (für ihre raumfüllende, schlossartige Puppenstube), ob Bilder- und Buchtexte oder Musikkompositionen für die Hausorgel – alles, was diese eigen- und einzigartige Künstlerin erschaffen hat, ist durchströmt von ihrer ureigenen, naturverbundenen Weltanschauung, die in den Polaritäten des Lebens immer vom Bösen zum Guten und vom Schatten ins Licht führt. Eine Botschaft, die vielleicht gerade heute wieder vermehrt wahrgenommen werden sollte!

Ein Buch, das bewegt!

zf. Dass ein Sachbuch regionaler Thematik überarbeitet und aktualisiert in 3. Auflage erscheint, ist nicht alltäglich. «Gesundheitsmythos St. Moritz» von Publizist Heini Hofmann hat dies geschafft, weil in Wort und Bild die Vergangenheit objektiv analysiert und zugleich visionär in die Zukunft geschaut wird. Der ehemalige Kurdirektor von St. Moritz, Hans Peter Danuser von Platen, bezeichnet es denn auch als «Das beste Buch, das je über St. Moritz geschrieben wurde».

Hoffmann, Heini. Gesundheitsmythos St. Moritz. Sauerwasser, Gebirgssonne, Höhenklima. 456 Seiten, über 440 meist farbige Bilder, Format 23x28 cm, Gewebeeinband, Schutzumschlag.  Gammerter Druck und Verlag AG, St. Moritz

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