Lehrplan 21 – Sind die Würfel gefallen? Neue Lerntechnik oder Paradigmawechsel?

Lehrplan 21 – Sind die Würfel gefallen? Neue Lerntechnik oder Paradigmawechsel?

mw. «Lehrplan 21 – Sind die Würfel gefallen? Neue Lerntechnik oder Paradigmawechsel?» unter diesem Spannung verheissenden Titel veranstaltete der Verein Ostschweizer Kinderärzte am 22.11.2017 eine Podiumsdiskussion mit Michael Furger, Ressortleiter NZZ am Sonntag, als fähigem Diskussionsleiter. Im bis auf den letzten Platz besetzten grossen Plenarsaal der Fachhochschule St. Gallen hielten der Pädagoge Dr. phil. Matthias Burchardt (Köln) und der Bieler Oberstufenlehrer Alain Pichard zwei hochkarätige Impulsreferate. In der anschliessenden lebhaften Diskussion brachten sich auch Alexander Kummer (Leiter Amt für Volksschule St. Gallen) und Prof. Thomas Burri (Pädagogische Hochschule St. Gallen) ein.
Da eine allzu geraffte Zusammenfassung den vielen Facetten der Veranstaltung nicht gerecht werden könnte, soll hier zunächst das Referat von Dr. Matthias Burchardt vorgestellt werden.
Matthias Burchardt brachte seine Erfahrungen mit aktuellen Schulreformen in Deutschland ein und hielt gleich zu Beginn fest, dass es sich dabei um einen eindeutigen Paradigmawechsel handle. Denn das pädagogische Paradigma von Comenius aus dem 17. Jahrhundert, wonach der Lehrer dem Schüler die Welt, die Realität zeigt, ist bis heute gültig. Die pädagogische Konstellation macht Bildung erst möglich. In heutigen Schulreformen (digitalisiertes, selbstorganisiertes Lernen) gehe diese unverzichtbare personale Dimension der Bildung verloren. Selbstverständlich muss das Kind immer die Realität selbst erfassen, aber der Konstruktivismus lässt die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler draussen. Den OECD- und EU-Lobbyisten sei es gelungen, die humanistische Bildungstradition umzustürzen und mittels Einführung «neuer Ideen» und Standard setting (als Herrschaftsinstrument) ein ökonomistisches Modell zu etablieren, mit dem sich nebenbei auch gut verdienen lässt. Allfälliger Widerstand von Lehrern wird durch Steuerungsmethoden wie Change Management sowie durch ständige Beschäftigung mit Beobachtungsbögen, «Weiterbildung» und kaum führbaren Inklusionsklassen gebrochen.
Das «selbstorganisierte Lernen SOL» nach OECD und Bertelsmann auferlegt dem «Lerner» – einem beziehungslosen, alterslosen («lebenslanges Lernen») und roboterähnlichen Wesen – die alleinige Verantwortung für sein Lernen. Mit SOL lernen Schüler sehr wenig: kurze Lernphasen, fehlende Korrekturen, kein Schutz vor Störungen im Grossraum«büro», während die Lehrer im Dauerstress sind und keine Zeit zur Anleitung der Kinder haben. Die Digitalisierung ist die Fortsetzung davon: Abkoppelung vom Lehrer und Ankoppelung an die Maschine. Dabei werden, zum Beispiel mit Hilfe der Knewton-Software, Tausende von Daten über jeden Schüler und jeden Lehrer erfasst und der künftige Stand jedes Schülers vorausberechnet – der Zweiklassengesellschaft wird so der Weg gebahnt.
In Deutschland sind diese Schulreformen auf Grund ihrer Untauglichkeit gescheitert, wie viele Lehrer von Anfang an gewarnt hatten (sogenannter «Widerstand»): Enorme Abiturientenzahlen verbergen die Studierunfähigkeit eines grossen Teils der akademischen Jugend, die Inklusion hat ihr Ziel grösserer sozialer Gerechtigkeit nicht erreicht, sondern im Gegenteil das Auseinanderklaffen der Schere vergrössert. So wird allenfalls ein wenig gebildeter Bevölkerungsteil für einfache Tätigkeiten der digitalisierten Industrie 4.0 bereitgestellt. Abgesehen von diesem fragwürdigen Ergebnis ist jedoch selbst der ökonomische Erfolg der «Ökonomisierung der Bildung» ausgeblieben. Denn auch auf die digitalisierte Welt werden die Schüler durch analoges Lernen besser vorbereitet als durch computerbasierte Aktionen von klein auf.
Der Referent empfiehlt den anwesenden Schweizern, die Konsequenzen aus den deutschen Erfahrungen zu ziehen und die geschilderten Schulreformen nicht mitzumachen. Wir hätten ja die demokratischen Möglichkeiten, stellte Matthias Burchardt richtig fest. Nutzen wir sie!    •

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