Wo bleibt der mündige Bürger?

Wo bleibt der mündige Bürger?

Gedanken zur Bücher- und Kulturzerstörung durch die «digitale Revolution»

von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, Fruthwilen

Mit Befremden beobachtet man das zunehmende Entsorgen von Büchern. Abfallmulden voller «ausgemusterter Bücher» aus den Schulbibliotheken stehen vor Schulhäusern. Die Bücher sind mehrheitlich in gutem Zustand, teilweise fast neu und aus allen Wissenschaftsbereichen. «Es sei die normale, periodische Ausmusterung, aus Platzgründen», wird zur Begründung angegeben. Gleich drei angesehene Antiquariate haben in der Zürcher Altstadt schliessen müssen. Traditionelle Buchläden kämpfen ums Überleben, obwohl die Büchermessen alljährlich immer mehr Besucher verzeichnen. Brockenhäuser nehmen nicht mehr alle Bücher.
Gute Bücher sind ein Kulturgut. Sie wurden von Autoren mit Herzblut und grossem Aufwand verfasst, von Grafikern gestaltet, von Druckern in der Tradition von Johannes Gutenberg sorgfältig gedruckt, gebunden und von Verlagen verlegt. Diese kulturellen Errungenschaften wurden von unseren Vorfahren finanziert, gehegt und gepflegt.
Nun soll ohne jede Diskussion mit den Bürgern, die auch heute die Bibliotheken finanzieren und klar gegen diese Kulturzerstörung sind, das Buch immer mehr verschwinden.
Natürlich sind Computer und Formen der Digitalisierung sinnvolle Arbeitserleichterungen. Die «Vierte Industrielle Revolution» mit ihrer Digitalisierung, Roboterisierung und totalen Überwachung bahnt sich aber recht rücksichtslos ihren Weg und greift tief in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. «Man müsse sich der Zeit anpassen», ist jeweils die billige Standardantwort, und in der Politik hört man: «Wir müssen markt- und konkurrenzfähig bleiben». Die bewährte Schultradition mit echter Bildung und guten Schulbüchern wird von Reformstrategen schleichend transformiert und digitalisiert, ohne vorher eine offene und ehrliche Diskussion zu führen.
Das wird noch mehr dazu führen, dass auch Studenten die wichtigen Bücher der humanistischen Tradition kaum mehr lesen können. Ganze Schulen werden für die Digitalisierung umgebaut, Bücher sollen zur Nebensache werden. «Modern sein» bedeutet auch im Alltagsdesign und in der Gegenwartsarchitektur kahle Wände, weder Büchergestelle noch Bilder, ganz einfach digital. Wo sind wir eigentlich, was spielt sich da ab, was hinterlassen wir da der kommenden Generation, und was führen wir den armen Ländern vor?

Stört der mündige und analoge Leser die totale Überwachung?

Kürzlich waren in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 30. November 2016 zwei ausführliche Artikel zu lesen, die aufhorchen lassen. Titel: «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch». Untertitel: «Die Deutsche Nationalbibliothek nimmt Abschied vom gedruckten Buch und sperrt weg, lügt sich aber mit der Digitalisierung in die Tasche. Der mündige analoge Leser, der nicht überwacht werden kann, stört in der ‹Wissensgesellschaft› nur noch.» Autor des ausgezeichneten Artikels: Thomas Thiel.
Der Titel des zweiten Artikels, verfasst von Andreas Rossmann, lautet: «Im Sog des Change Managements». Untertitel: «Service statt Forschung: Die Universitätsbibliothek verordnet sich eine Schrumpfkur». Die traditionsreiche Universität Düsseldorf trägt nicht nur den Namen Heinrich Heine, sondern besitzt eine grosse und angesehene Sammlung wertvoller Bücher, Nachlässe, wertvoller Handschriften und Drucke. Dieser Universitäts- und Landesbibliothek Nord­rhein-Westfalens ULB wird nun ein Transformations- und ein «Veränderungsprozess» verordnet, der sie zur «Service- und Dienstleistungseinrichtung» zurechtstutzen soll. Dabei wird, so der Autor, mit «infamen Mitteln» gearbeitet. Das Ganze sollte durchgeführt werden, ohne an die Öffentlichkeit zu kommen. Die «erarbeiteten Ergebnisse» sollten «nicht an Personen ausserhalb der Arbeitsgruppe» bekanntgegeben werden, so das Protokoll der Arbeitsgruppe. Der Verfasser des Artikels schildert, wie die Universitäts- und Landesbibliothek, die unter der «Top-Gruppe» der Universitätsbibliotheken figuriert, durch die Arbeitsgruppe «Struktur AG», unter der Leitung des «Prorektors für Studienqualität und Personalmanagement», umstrukturiert werden soll. Die Gruppe hatte die Aufgabe, sich mit Strukturen, Prozessen, Aufgaben und Einsparungen zu befassen. Das Resultat ist alarmierend: «Ihre Empfehlungen sehen nicht nur vor, dass die Öffnungszeit statt bis 24 nur bis 22 Uhr gilt und der Lehrbuchbestand reduziert wird, sondern gehen an die Substanz: So sollen die Verbundbibliotheken Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, 850 000 Einheiten insgesamt, durch eine ‹offensive Aussonderung› aufgelöst und etwa die Hälfte davon, weil sie derzeit angeblich nicht gebraucht wird, makuliert werden – ein Vorschlag, der von der fragwürdigen Annahme ausgeht, dass Wissensbedarf und Forschungsentwicklung vorhersehbar sind.» Dazu kommt, dass auch klare historische Verpflichtungen übergangen werden sollen. «Weder die Stadt noch das Land, die ihre Altbestände in die ULB eingebracht haben, damit diese sie nicht nur verwaltet, sondern auf ihnen aufbaut und sie fortschreibt, nimmt das wahr oder gar Anstoss daran.» Solche Vorgehensweisen und Pläne dürfen keine Signalwirkung haben. «Was in Düsseldorf ansteht, schwächt nicht ‹nur› die Universität: Die Grundlagen einer breiten Bereithaltung von Literatur für den gesellschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Diskurs wird zurückgefahren zugunsten von Spezialwissenschaftsbereichen, die kleiner, überschaubarer und billiger sind.» Das soll offenbar «moderne Hochschulpolitik» nicht nur in Deutschland werden!

Bibliothek als designter «Non-Book-Sektor»?

Auch im Artikel von Thomas Thiel werden ähnlich bedenkliche Vorgänge in der Deutschen Nationalbibliothek geschildert. «Der Beschluss der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), den Zugang zu gedruckten Büchern, die auch elektronisch vorliegen, zu sperren, beruft sich auf ein leicht verständliches Argument: Die Bücher werden vom Leser benutzt, und es ist teuer, sie immer wieder instand zu setzen. Die DNB verabschiedet sich damit von der Kernaufgabe einer Bibliothek: Einen Raum zu bieten, in dem man Bücher leihen und lesen kann.» Die DNB will eine moderne Bibliothek werden. «Sie ist dabei, sich neu zu erfinden: als Contentprovider mit Gespür für den disruptiven Moment. Bibliotheken werden nach dieser gegenwärtig sehr einflussreichen Vorstellung gründlich entkernt, die Bücher entstaubt und weggeräumt, um einem Non-Book-Sektor Platz zu machen, in dem man nach Lust und Laune auf Loungehocker wippen und chatten kann. Die Rede vom Ende des Buchs wird zur Karriereleiter für Bibliothekare, die keine Bibliothekare mehr sein wollen.» Die Design­kultur verdrängt den Tisch und den Stuhl, um Bücher zu studieren. «Das Lesen ist weiterhin erlaubt», schreibt der Autor des Artikels, «wird aber, sind die Regale einmal weg, zur schönsten Nebensache. Der Leser versinkt im Rausch eines ästhetisierten Ambientes, in dem das Buch einen Ehrenplatz als Vitrinenobjekt erhält». Dazu kann ergänzt werden, dass ähnliche Entwicklungen auch in der modernen Museumsgestaltung vorherrschen. Dazu sind natürlich die Methoden des Change Managements nötig!
Diese alarmierenden Vorgänge machen deutlich, dass über sämtliche humanwissenschaftlichen Erkenntnisse hinweggegangen werden soll. Tatsache ist, dass das persönliche Lesen eines realen Buches, das persönliche Werkerlebnis, niemals mit den digitalen Dienstleistungen, die auch zum grossen Geschäft werden sollen, zu vergleichen sind. Die grossen Schäden in der emotionalen, geistigen und sozialen Entwicklung sind absehbar. In diesem Zusammenhang wurden kürzlich in Zeit-Fragen zwei ausgezeichnete Artikel «Sprache ist mehr als nur kommunizieren» von Dr. Eliane Perret und «Vom Wert des Lesens» von Renate Dünki in Zeit-Fragen 29/30 (20.12.2016) veröffentlicht. Sie zeigen auf, wie das Lesen und Vorlesen in der Familie, später in der Schule sowie das Gespräch darüber einen entscheidenden Beitrag zur Gefühls- und Persönlichkeitsbildung und zur kulturellen Verwurzelung leisten. Erfreulich ist, dass dazu ein pädagogisch wertvolles Schul- und Familienbuch neu herausgegeben wurde.
Besonders alarmierend ist, dass mit der digitalen Revolution und Transformation auch eine totale Überwachung einhergeht. Was passiert mit den Nutzerdaten? Wer entscheidet, welche Bücher gefördert und welche «veraltet» sind und entsorgt werden sollen, wer überprüft den Inhalt und genauen Wortlaut der neuen digitalen Produkte? Dass mündige Bürger dies nicht zulassen, zeigt der grosse Widerstand gegen die Pläne der Nationalbibliothek. «Die Deutsche Nationalbibliothek lockert den Digital-Zwang», meldete die «Neue Zürcher Zeitung» am 25. Januar: «Mahnwachen vor der Tür und andere Reaktionen des Unwillens haben die Nationalbibliothek in den vergangenen Monaten belehrt, dass die Mehrheit der Nutzer immer noch lieber Gedrucktes liest. Ausserdem wollen die meisten gern selbst entscheiden, wie sie lesen. Die Proteste gegen den Digital-Zwang gingen quer durch die Generationen, stellte die DNB in Frankfurt fest. Die Überlegungen im Hause, wie die Benutzerordnung in den derzeitigen Umbruchphase zu gestalten sei, sei noch ‹im Fluss›».
Die hier dargestellte Thematik soll als Denkanstoss dienen. Der mündige Bürger, das Gemeinwohl, die Kultur, die Politik und die Demokratie stehen hier in der Verantwortung. Schützen wir unsere Buchkultur und Bibliotheken vor dem Zugriff antihumaner Kräfte.     •

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