Die in der Bundesverfassung vorgeschriebene dreijährige Frist für die Umsetzung einer eigenständigen Steuerung der Zuwanderung ist am 9. Februar 2017 abgelaufen. Weder Bundesrat noch Parlament haben den Verfassungsauftrag erfüllt.
Zur Erinnerung: Der Bundesrat hat fast drei Jahre lang keine Verhandlungen mit Brüssel über die vom Schweizer Souverän beschlossene Anpassung des Freizügigkeitsabkommens zustande gebracht; National- und Ständerat stimmten in der Wintersession 2016 einem «Inländervorrang light» zu, der zwar in Brüssel wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, dem Volkswillen aber in keiner Weise Nachachtung verschaffte. Als nächster Akt steht nun die Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse!» (Rasa-Initiative) an, welche den Zuwanderungsartikel wieder aus der Verfassung herausstreichen will.1 Damit wollen die Initianten ihren unabhängigkeitswilligen Mitbürgern beibringen, in welche Richtung ihrer Meinung nach das Äpfelchen rollen soll: Brüssel einfach!
Um das zu erwartende klare Nein des Schweizervolkes zu Rasa, beziehungsweise zum Verfassungsbruch von Regierung und Parlament, etwas zu kaschieren, hat sich der Bundesrat in Aktivismus gestürzt und einen direkten Gegenentwurf in zwei Varianten produziert. Dieser wurde am 2. Februar in Vernehmlassung geschickt. Eine der beiden Varianten soll zusammen mit der Rasa-Initiative zur Abstimmung kommen. Ausser sie werden von den Vernehmlassungsadressaten klar zurückgewiesen, was zu hoffen ist.
Mit einer Vernehmlassung holt der Bundesrat die Stellungnahmen der Kantonsregierungen, politischen Parteien, Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, Dachverbände der Wirtschaft und weiterer interessierter Kreise ein, bevor er die Botschaft an den National- und den Ständerat zu einer Vorlage verfasst. Üblicherweise dauert ein Vernehmlassungsverfahren drei bis sechs Monate, damit die Adressaten genügend Zeit haben, um sich eine Meinung zu bilden und diese auszuformulieren.
Vernehmlassungsfrist vom 2. Februar bis zum 1. März 2017 – etwas knapp, nicht?
Im vorliegenden Fall beginnt die Vernehmlassung laut Bundesrat am 1. Februar 2017, allerdings ist der Brief an die Vernehmlassungsadressaten vom 2. Februar datiert. Damit beträgt die Zeitspanne vom Erhalt der Unterlagen2 bis zur spätestens möglichen Einreichung der Stellungnahme nicht einmal vier Wochen. Wie der Bundesrat in seinem Beibrief diese kurze Frist rechtfertigt, ersparen wir dem Leser – Tatsache ist, dass den Adressaten kaum Zeit bleibt für eine fundierte Antwort.
Wie der Bundesrat in seinem «Erläuternden Bericht» richtig feststellt, ergaben sich aus den vom Volk angenommenen Verfassungsartikeln «zwei Aufträge: erstens die Anpassung des Ausländergesetzes […] und zweitens Verhandlungen zur Anpassung von völkerrechtlichen Verträgen, die diesen Bestimmungen nicht entsprechen.»3 Der Bundesrat gibt offen zu, dass beide Aufträge des Souveräns nicht erfüllt sind.
Zum ersten Auftrag: Das Parlament hat im wesentlichen lediglich einen «Inländervorrang light» ins Ausländergesetz eingefügt, der zwar mit dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU (FZA) vereinbar ist. Diese Regelung «verzichtet aber bei Angehörigen von EU- und EFTA-Mitgliedsstaaten generell auf Höchstzahlen und Kontingente und setzt damit den Artikel 121a BV nicht vollständig um.»4 Was für eine Schönfärberei! In Wirklichkeit wird Artikel 121a überhaupt nicht umgesetzt.
Zum zweiten Auftrag: Wie schwächlich und unterwürfig der Bundesrat gegenüber den EU-Gewaltigen aufgetreten ist, wurde in Zeit-Fragen bereits ausführlich dargelegt.5 Der Bundesrat bestätigt auch im «Erläuternden Bericht» die häufigen, aber erfolglosen «Konsultationsrunden» mit Herrn Juncker sowie im Gemischten Ausschuss und schliesst mit der pessimistischen Bemerkung: «Nach der Abstimmung in Grossbritannien über den Austritt aus der EU (Brexit) hat sich herausgestellt, dass eine erfolgreiche Verhandlung mit der EU über eine Anpassung des FZA auf absehbare Zeit kaum möglich ist.»6 Kein Wunder, bringen unsere Unterhändler nichts anderes zustande!
In bezug auf die Rasa-Initiative – die eigentlich nichts anderes darstellt als das «Täubele» eines schlechten Verlierers – macht der Bundesrat keinen Hehl daraus, dass er deren Annahme, das heisst die Streichung der vom Souverän beschlossenen «Steuerung der Zuwanderung», begrüssen würde: «Mit einer Aufhebung der Artikel 121a und 197 Ziffer 11 BV durch Volk und Stände wäre die Differenz zwischen der Bundesverfassung und dem FZA beseitigt. Gleichzeitig würde der von Volk und Ständen erteilte Auftrag zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung wegfallen.» Das würde unseren «Dienern des Volkes» so passen! Immerhin erinnert sich der Bundesrat noch an die «demokratiepolitischen Gründe», die dagegen sprechen, einen Volksentscheid nach so kurzer Zeit wieder aufheben zu wollen.7 Aber leichter käme die Classe politique in Bern schon zur gewünschten engeren Umarmung mit der Brüsseler Elite, wenn sie sich nicht dauernd mit dem Stimmvolk und dessen Drang, selbst bestimmen zu wollen, herumschlagen müsste … Zu diesem Zweck hat der Bundesrat einen Gegenentwurf mit zwei Varianten fabriziert, die ihm beide das ungestörte «Regieren» wesentlich erleichtern würden.
Artikel 121a bliebe vordergründig weitgehend stehen (Absatz 1–3: Eigenständige Steuerung der Zuwanderung, Begrenzung durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente, Inländervorrang). Nur Absatz 4 und 5 sollen geändert werden, ausserdem würde die Übergangsbestimmung in Art. 197 Ziff. 11 BV gestrichen.
Wortlaut Variante 18:
Art. 121a, 4 Bei der Steuerung der Zuwanderung werden völkerrechtliche Verträge berücksichtigt, die von grosser Tragweite für die Stellung der Schweiz in Europa sind.
5 Aufgehoben
Art. 197 Ziff. 11 BV Übergangsbestimmung zu Art. 121a (Steuerung der Zuwanderung)
Aufgehoben
Im Klartext: Der Bundesrat will hintenherum eine materielle (inhaltliche) Einschränkung des Volksinitiativrechts und gleichzeitig die Relativierung der bestehenden Verfassungsbestimmung BV 121a einführen. Die souveräne Regelung der Zuwanderung durch die Schweiz soll nur so weit zugelassen werden, als nicht «völkerrechtliche Verträge […] von grosser Tragweite für die Stellung der Schweiz in Europa» entgegenstehen. Unter diesen Gummibegriff ordnet der Bundesrat in seinen Erläuterungen explizit das Freizügigkeitsabkommen mit der EU ein, das er unzulässigerweise in eine Reihe stellt mit der EMRK, den Uno-Konventionen und der Genfer Flüchtlingskonvention.9 Vielleicht, damit es weniger auffällt? Ein solch bunter Mix von freiwillig abgeschlossenen, kündbaren Verträgen (Personenfreizügigkeitsabkommen [PFZ] zwischen der Schweiz und der EU) mit zwingendem Völkerrecht (Genfer Flüchtlingskonvention) ist aus staatsrechtlicher Sicht verboten. Wir Bürger wiederum werden uns hüten, einer derartigen Wundertüte zuzustimmen, in die unsere «Volksvertreter» in Bern je nach Lust und Laune hineinpacken können, was ihnen gerade opportun erscheint, um Volksinitiativen für ungültig erklären und Verfassungsrecht deklassieren zu können.
Art. 121a (Absatz 1–3: Eigenständige Steuerung der Zuwanderung, Begrenzung durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente, Inländervorrang)
4 Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen.
5 Das Gesetz regelt die Einzelheiten.
Art. 197 Ziff. 11 BV Übergangsbestimmung zu Art. 121a (Steuerung der Zuwanderung)
1 Völkerrechtliche Verträge, die Artikel 121a widersprechen, sind innerhalb von drei Jahren nach dessen Annahme durch Volk und Stände neu zu verhandeln und anzupassen.
2 […]
Die Stimmbürger wollten 2014 die kaum mehr zu bewältigende Zahl von Migranten, die seit dem Abschluss der Bilateralen I aus den EU-Staaten in unser Land strömen, mit Kontingenten und Höchstzahlen, zum Beispiel in besonders betroffenen Branchen oder Regionen, regulieren können. Zu diesem Zweck müsste eben gerade das PFZ-Abkommen neu ausgehandelt werden, das der Bundesrat mit Variante 1 seines Gegenentwurfs über die heutige Regelung in Artikel 121a stellen will. Denn die Zuwanderung aus den Nicht-EU- und EFTA-Staaten kann die Schweiz ohnehin selbst steuern, dazu brauchen wir keine neue Verfassungsbestimmung.
Zu den Bestimmungen, die der Bundesrat aus der Verfassung streichen will: Absatz 5 des Artikels 121a hält er offenbar mit Variante 1 nicht mehr für nötig. Das heisst, es braucht keine Umsetzung in einem Gesetz, oder anders gesagt: Der Bundesrat würde unbehelligt vom Parlament und ohne ein Referendum befürchten zu müssen, selbst bestimmen, welche Verträge mit ausländischen Staaten seiner Meinung nach «von grosser Tragweite für die Stellung der Schweiz in Europa» sind. Deshalb wäre auch die Übergangsbestimmung in Art. 197 nicht mehr vonnöten: Es muss nichts neu ausgehandelt werden, weil die PFZ und andere Verträge ja sakrosankt sind, und es gibt auch keine Frist von drei Jahren mehr, welche der Bundesrat einhalten muss.
Nun wird es konkret, was der Gegenentwurf anstrebt: eine weitere Festigung der EU-kompatiblen Herrschaft der Exekutive, verbunden mit einer Schwächung der direkten Demokratie. Wie wir schon früher festgestellt haben: Diese beiden Staatsmodelle sind wie Feuer und Wasser.
Diese Variante ist rasch erklärt. Artikel 121a BV soll unverändert stehenbleiben, aber die Übergangsbestimmung mit der dreijährigen Frist für die gesetzliche und vertragliche Regelung würde gestrichen. Das heisst, Bundesrat und Parlament hätten bis am Sankt-Nimmerleins-Tag Zeit, die Zuwanderung zu regeln oder eben nicht zu regeln: «Der Auftrag bleibt jedoch bestehen, weitere Schritte zur Umsetzung von Artikel 121a BV vorzunehmen, wenn sich die Ausgangslage in der EU bezüglich des FZA zukünftig ändern sollte.»10 Wie gesagt: Falls und wann immer die Herrschaften in Bern dies wünschen. Leidtragende ist auch hier die direkte Demokratie, sind wir Bürger, die aussen vor gelassen werden sollen.
Eine mögliche Variante, die in einer Volksabstimmung eine Chance haben könnte, wäre eine Verlängerung der Umsetzungsfrist um eine bestimmte Zeit, so dass die Schweiz sich zum Beispiel einklinken könnte, wenn Grossbritannien mit der EU eine Regelung der Zuwanderung gefunden hat. Aber wir können nicht warten, bis die EU-Institutionen Hand bieten zu einer Änderung des PFZ-Abkommens; deshalb muss die Schweiz in der Zwischenzeit eine einseitige Schutzklausel einführen, so wie dies bereits in Diskussion war und sogar von EU-Politikern empfohlen wurde.
Mögliche (noch auszufeilende) Formulierung:
BV Art. 121a, 1–4 unverändert
5 Solange die Anpassung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU nicht ausgehandelt ist, führt die Schweiz eine einseitige Schutzklausel mit Höchstzahlen, Kontingenten und Inländervorrang ein. Die Schutzklausel kann auf einzelne Regionen oder Branchen beschränkt werden.
6 Das Gesetz regelt die Einzelheiten.
BV Art. 197 Ziff. 11 Übergangsbestimmung
1 Völkerrechtliche Verträge, die Artikel 121a widersprechen, sind innerhalb von drei/fünf Jahren nach der Annahme des Gegenvorschlags Variante 3 durch Volk und Stände neu zu verhandeln und anzupassen.
2 aufgehoben
Mancher EU-Mitgliedsstaat wird sich Grossbritannien und der Schweiz anschliessen und seine Zuwanderung – und vielleicht weitere Bereiche – künftig selbst regeln wollen. Warum denn nicht? Ein Verbund von Völkern, den man nur mit Zwang und Druck zusammenhalten kann, ist nicht reissfest. Nur mit freiwillig Verbündeten kann man Berge versetzen. •
1 vgl. «Schweizer Rechtsstaat und Demokratie nicht dem EU-Integrationswahn opfern.» In: Zeit-Fragen Nr. 1 vom 3. Januar 2017
2 Laufende Vernehmlassungen. EJPD. Direkter Gegenentwurf zur Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse! Verzicht auf die Wiedereinführung von Zuwanderungskontingenten». www.admin.ch/ch/d/gg/pc/pendent.html
3 Erläuternder Bericht zum direkten Gegenentwurf des Bundesrates zur Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse! Verzicht auf die Wiedereinführung von Zuwanderungskontingenten» vom 1. Februar 2017 [im folgenden zitiert als: Erläuternder Bericht], S.9
4 Erläuternder Bericht, S.10
5 vgl. «Schweizer Rechtsstaat und Demokratie nicht dem EU-Integrationswahn opfern.» In: Zeit-Fragen Nr. 1 vom 3. Januar 2017
6 Erläuternder Bericht, S. 11
7 Erläuternder Bericht, S. 13
8 Erläuternder Bericht, S. 14/15
9 Erläuternder Bericht, S. 15
10 Erläuternder Bericht, S. 16
Ein Argument der Rasa-Initianten lautet, bei einer vollständigen Umsetzung der Zuwanderungssteuerung werde die Schweiz aus Horizon 2020 und aus Erasmus+ ausgeschlossen.1 Wie in Zeit-Fragen bereits erläutert wurde, hatte der vorübergehende Ausschluss eine für die Schweiz willkommene Nebenwirkung. Denn es stellte sich heraus, dass wir mit der autonomen Beteiligung an diesen Programmen besser fahren.2
Nun wurde über die Tagespresse bekannt, dass der Bundesrat am 7.9.2016 beschlossen hat, die «Übergangslösung», das heisst die autonome Organisation durch das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) für die Teilnahme von Schweizer Studenten an EU-Mobilitäts- und Kooperationsprojekten zunächst bis Ende 2017 zu verlängern.3
Inzwischen wurde in Bern heimlich und leise entschieden, dass das SBFI die aktuelle Regelung als «Schweizer Umsetzung von Erasmus+» bis Ende 2020 weiterführen wird. Denn offenbar wollte die EU-Kommission von der Schweiz mehr Geld, als diese zu bezahlen bereit war.4 Wenn die Schweiz jedoch selbst die Kasse in der Hand behält, bleibt laut besagter Medienmitteilung des Bundesrates genügend Geld übrig, um nicht nur «Outgoing-Mobilitäten», sondern auch «Incoming-Mobilitäten» bezahlen zu können. Was hier so verschlüsselt in reinstem Neudeutsch herüberkommt, meint: Die Schweiz berappt – übrigens als einziges europäisches Land – nicht nur Studienaufenthalte für Schweizer Studenten in EU-Ländern, sondern auch ebensolche für ausländische Studenten in der Schweiz.
Und trotzdem bleiben die Ausgaben geringer als wenn sie über die Geldtöpfe der EU-Kommission fliessen… Dies als kleiner Denkanstoss für all diejenigen Schweizer, die glauben, mit mehr Anbindung an die EU könnten wir in irgendeiner Beziehung besser fahren als in eigener Regie als souveräner Staat.
1 Erläuternder Bericht, S. 8
2 «Schweizer Forschungs- und Bildungsplatz und EU-Bürokratie». In: Zeit-Fragen Nr. 27 vom 22.11.2016
3 Medienmitteilung vom 7.9.2016. Bundesrat verlängert Übergangslösung für Erasmus+ bis Ende 2017
4 vgl. «Wiler Zeitung» vom 4.2.2017
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