Grundlagen einer personalen Gemeinwohl- und Friedensethik

Grundlagen einer personalen Gemeinwohl- und Friedensethik

Zu Rudolf Weilers Standardwerk «Internationale Ethik»

von Joachim Hoefele, Urs Knoblauch, Elisabeth Nussbaumer*

Die gegenwärtigen weltpolitischen Spannungen machen deutlich, dass universale ethische Grundlagen für ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden notwendig sind. Ethik kann nicht beliebig sein und darf nicht missbraucht werden. Die hier dargestellte naturrechtliche Ethik gründet auf der personal-sozialen Wesensnatur des Menschen. Damit ist die universale Geltung der Freiheit und Würde jedes Menschen sowie der Ehrfurcht vor dem Leben verbunden. Moral und Ethik müssen wieder zentrale Orientierung und Geltung im Zusammenleben der Weltgemeinschaft zukommen. Das entscheidende Kernanliegen der naturrechtlichen Ethik, der universalen Menschenrechte und der Uno-Charta ist die Sicherung von Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen.

Im wertvollen Standardwerk «Internationale Ethik» (IE) von Professor Rudolf Weiler, erschienen 1986/1989 (Duncker & Humblot, Berlin), steht die naturrechtlich begründete Gemeinwohl- und Friedensethik im Zentrum. Dazu sollen einige Grundgedanken dargelegt werden. Der bedeutende katholische Sozial­ethiker wurde auf Wunsch von Johannes Messner als Nachfolger auf den Lehrstuhl für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien berufen. Dort angesiedelt war auch ein von ihm gegründetes interdisziplinäres Friedensinstitut, denn nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit sah er die Möglichkeit, tragbare Lösungen für Fragen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu entwickeln.
Nach dem Tod seines Lehrers war er Mitbegründer der Johannes-Messner-Gesellschaft und auch für den Nachlass von Mess­ners Werk verantwortlich. Das Projekt einer «Internationalen Ethik» war gerade in den 1960er Jahren notwendig, weil in diesen Jahren die ideologischen Auseinandersetzungen und ein zunehmender gesellschaftlicher Pluralismus und Relativismus stark gefördert wurden. Bis heute hat das Thema einer «Internationalen Ethik» nichts an Gültigkeit eingebüsst. Besonders wertvoll ist dabei, dass der Autor eine naturrechtliche Position der Ethik vertritt.

Überblick über die ethischen Grundprobleme der internationalen Beziehungen

Rudolf Weiler geht in seinem umfassenden Überblick über die ethischen Grundprobleme der internationalen Beziehungen von dem personalen Menschenbild und der sozialen Wesensnatur des Menschen aus und führt grundlegend in eine wissenschaftlich fundierte internationale Ethik ein. Er baut dabei auf wissenschaftlich-anthropologischen und psychologischen Grundlagen über die Natur des Menschen auf. Damit ist die Grundlage geschaffen, die in Zeiten zunehmender Willkür, ethischen Relativismus’ und Nihilismus’ sichere Orientierung geben kann.
Weiler betont, dass eine ausschliessliche Hervorhebung der empirischen (quantitativen) Sozialwissenschaften für die Grundlegung einer internationalen Ethik zu einer «szientistischen Verengung» (IE, S. 21) führt, wenn sie nicht auf dem personalen Menschenbild aufbaut, auf der Orientierung an der Natur des Menschen, auf den sittlich-ethischen Grundlagen und auf einer realistischen Analyse der politischen Lage.
Internationale Ethik ist nach Weiler als «die Wissenschaft von der sittlichen Ordnung der die Staaten übergreifenden zwischenmenschlichen Beziehungen» zu verstehen, «insbesondere aber der Völkergemeinschaft. […] Sie ist ein spezieller Bereich der Sozialethik in Bezug auf die internationale Dimension sozialen Verhaltens des Menschen vom Einzelwesen über die soziale Gruppe bis zur Menschheit und bezieht sich auf die wirtschaftlichen ebenso wie die politischen sittlichen Ordnungen.» (IE, S. 20)

Von der Antike bis zu den Menschenrechtserklärungen der Neuzeit

In diesem Zusammenhang weist Rudolf Weiler, wie Johannes Messner, auf die Entwicklung der internationalen Ethik von der griechischen Antike über die christliche Philosophie des Thomas von Aquin, die Völkerrechtsschule von Salamanca in Spanien bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des (allgemeinen) Völkerrechts hin. Der Jesuit Francisco Suàrez (1548–1617) war einer der zahlreichen Mitbegründer der spanischen Völkerrechtslehre der Spätscholastik. «Nach der spanischen Völkerrechtslehre ist die Staatengemeinschaft eine im Naturrecht wurzelnde universelle Gemeinschaft, in die die einzelnen Staaten eingegliedert sind. Wie der einzelne Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, so haben auch die Staaten eine soziale Natur und bedürfen ebenso wie die Menschen einer Rechtsordnung, die ihre gegenseitigen Beziehungen regelt. Diese ergibt sich wesentlich bereits aus dem Naturrecht und wird auf Zweckmässigkeit hin und entsprechend der Entwicklung des zwischenmenschlichen Lebens durch internationale Zustimmung und Vertragsrecht ausgestaltet.» (IE, S. 6)
Die Vertreter der spanischen Völkerrechtslehre waren darum bemüht, «zur Streitschlichtung zwischen Staaten Schiedsgerichte zu entwickeln und Kriege zu verhindern. Der Krieg zur Ausbreitung der Religion wurde ausdrücklich verworfen» (IE, S. 7). In diesem Sinne spricht Suarez «dann erstmals ausdrücklich vom Bonum commune generis humani» (IE, S. 84). Frieden zu sichern als «Bonum commune» der Menschheit wird als Aufgabe verstanden, an der jeder einzelne Mensch in seiner ethischen Grundorientierung mitwirken soll.

Herrschaft des Rechts für alle Staaten

Mit dieser Entwicklung zur «Herrschaft des Rechts im Sinne oberster Rechtssätze für alle Staaten, ob der Christen oder der Heiden» (IE, S. 35) entstand auch «geschriebenes Recht und begründet in diesem Sinne ‹una res publica› der Menschheit» (IE, S. 35).
«Die universale Gemeinschaft des Menschengeschlechts konstituiert über die Verbundenheit der in den Staaten organisierten Völker eine einzige politische Wesenheit, die wiederum nicht einfach ein Produkt menschlichen Willkürwillens ist, sondern ‹in einer Realität begründet ist gemäss der Natur des Menschen›.» (IE, S. 35f) Damit wurde der Weg zum Völkerrecht, zu den Menschenrechten und einer naturrechtlichen Ethik für die ganze Menschen- und Staatenfamilie geebnet. Hugo Grotius (1583–1645), Samuel Pufendorf (1632–1694) und andere Pioniere sowie zahlreiche päpstliche Lehrschreiben (Enzykliken) trugen Wesentliches zu dieser Entwicklung bei.
Mit der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen, der Uno-Charta von 1945, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und weiteren wertvollen internationalen Dokumenten und Verträgen wurde auf der Grundlage des Naturrechts, des personalen Menschenbildes und der Sozialnatur des Menschen sowie der sie verbindenden humanwissenschaftlichen Erkenntnisse der Weg zu einer universalen Ethik im Sinne des Bonum commune geschaffen. In der Präambel der Menschenrechtskonvention wird festgehalten: «Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, […] verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal […]». Durch die Erklärung der Menschenrechte konnten, so Weiler, «kriegerische Konflikte beendet» und «andere rechtzeitig entschärft» werden  (IE, S. 223).

Der Mensch als Individual- und Sozial­wesen im Zentrum der Friedensethik

Der Mensch steht als «Leib-Geist-Einheit wie als Individual- und Sozialwesen» (IE, S. 67) in der Ethik und in der Friedensfrage im Zentrum. «Die soziale Bestimmung des Menschen ist daher Einsicht in die gleiche Natur aller Menschen und zugleich Aufgabe, diese Einsicht in einem mitmenschlichen Beziehungssystem effektiv zu machen, dass kein Mensch tatsächlich von der Menschenwürde ausgenommen werde.» (IE, S. 68f) Damit verbunden ist die Verwirklichung des Gemeinwohls der Menschheit.
Die Menschheit hat in ihrer Entwicklung zunehmend die allen Menschen zukommende Würde und gleichen Rechte erkannt. In «der Entwicklung der Erkenntnis der allgemeinen Menschenwürde und der damit verbundenen Menschenrechte» ist «eine brisante Dynamik des Rechtsbewusstseins der Menschheit» entstanden, «die jede reine Willkürordnung ­politischer Natur vor das Tribunal eben dieser Menschheit stellt. Zumindest hat der Mensch ein Bewusstsein entwickelt für die Beurteilung politischer Macht, wenn sie zur totalitären Zwangsgewalt wird» (IE, S. 28).

Friedenssehnsucht gehört zur sozialen Wesensnatur des Menschen

«Friede ist ein Begriff, der der menschlichen Sozialgestaltung vorbehalten ist […].» (IE, S. 67) Deshalb hat auch «die Bedrohtheit des Friedens ihre Wurzeln in der Fehlbarkeit des Menschen» (IE, S. 7). Dennoch gehört die Friedenssehnsucht (als menschliche Grunddisposition) zur sozialen Wesensnatur des Menschen. «Im Grunde ist die Friedenserwartung Zeugnis für die sittlich-schöpferische Hoffnung des Menschen, den Frieden (entgegen bestehenden Zuständen) möglich zu machen.» (IE, S. 67) Die Friedenssehnsucht des Menschen findet ihren Ausdruck in der internationalen Ordnung und ist zugleich Ziel menschlichen Strebens. «Die Frage nach dem Frieden und was zum Frieden führt, ist damit mit dem Menschen untrennbar verbunden. Ist der Friede aber als allgemein-menschlicher Wert anerkannt, dann ist er auch integraler Teil und ein Wesensmerkmal des vollmenschlichen Bildungsideals.» (IE, S. 67)

Erziehung und Bildung im Geist der Mitmenschlichkeit

Erziehung und Bildung müssen daher den Geist der Mitmenschlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens fördern; kein Gemeinwesen sollte im Bereich der Bildung preisgeben, was sich die Menschheit über Jahrhunderte erworben hat, denn der Mangel an Bildung, insbesondere der Mangel an Ethik, Gewissen und staatsbürgerlichem Bewusstsein, hat schwerwiegende Folgen. Die Rechtsgleichheit der Bürger, welche durch die Verfassung eines freiheitlichen Staatswesens garantiert sein sollte, muss durch Bildung im täglichen Leben jedes Menschen zur in der zwischenmenschlichen Beziehung gelebten Gleichheit beziehungsweise Gleichwertigkeit werden, damit er seine Aufgaben als Bürger wahrnehmen kann.
Wesentliche Aufgaben der Volksschule sind daher, um nur einige zu nennen: die Entwicklung und Förderung von elementaren Fähigkeiten oder Tugenden wie

  • sinnentnehmendes Lesen, Schreiben, Rechnen, Erfassen von Zusammenhängen und vielschichtigen Problemlagen, Sachlichkeit, wissenschaftliches und historisches Denken,
  • Leistungsbereitschaft, Ausdauer, mutige und ehrliche Lebensführung, Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, gewaltfrei demokratische Lösungen zu entwickeln und zu leben, sowie
  • Gewissen, Gerechtigkeitssinn, Empathie, innerliche Verbundenheit mit den Menschen, der Heimat, Kultur, Nation und der eigenen Geschichte.

Staat und Staatengemeinschaft im Rahmen des Naturrechts

«Ausgangspunkt und Grundwert der internationalen Ethik ist die gleiche wesenhafte Natur des Menschen und aller Menschen. Der Mensch als soziales Wesen bildet auch den Staat als obersten gesellschaftlichen Grundverband, der wiederum in einer universalen Staatengemeinschaft eingegliedert ist.» (IE, S. 94)
Die Ethik des Naturrechts bildet die verbindende Grundlage: «Es wird daher das Ethos dieser unserer Menschheit heute nicht nur beschrieben, sondern auch untersucht und begründet, gilt es doch, die sittlichen Kräfte des Menschen weltweit für den Frieden zu wecken und zu fördern. Nach unserem Verständnis ist das Gewissen des Menschen als Gabe der Vernunft im Grunde allein auf das Gute und damit auf das Gut des Friedens ausgerichtet.» (IE, S. Xf)
Dabei gelten die Personwürde, das gleichwertige zwischenmenschliche Zusammenwirken und das Recht als Basis des nationalstaatlichen und internationalen Lebens. «Wie den einzelnen Menschen kraft ihrer wesensgleichen Natur trotz individueller Ungleichheiten in der Gemeinschaftsbildung ein Minimum an gleichen Rechten zuerkannt ist, so ist auch eine Gemeinschaft von Staaten nur möglich, wenn allen Staaten ein gleiches Mindestmass von Rechten zukommt, trotz ihrer Ungleichheit an Territorium, Bevölkerungszahl, Naturreichtümern, politischer und wirtschaftlicher Organisationsformen und Sozialsystemen» (IE, S. 94).
Rechtsordnung,

Völkerrecht und Bonum commune

Die «sittliche Ordnung friedlichen Zusammenlebens der Völker» verlangt «auch nach einer wirksamen internationalen Rechtsordnung im gesetzten Völkerrecht, dem zur Wahrung des Weltfriedens und des Weltgemeinwohls nach den Prinzipien der internationalen Ethik die konkrete Hauptaufgabe der Verrechtlichung zukommt» (IE, S. X).
Weiler betont die entscheidende Bedeutung des Bonum commune, «eines solcher Art aus dem Naturrecht gefolgerten Weltgemeinwohls und […] jede weitere völkerrechtliche Entwicklung im Sinne des Naturrechts einbeschlossen, auch die moderne Entwicklung internationaler Organisationen und weltweiter Zusammenschlüsse […]» (IE, S. 36), sind den Grundlagen der internationalen Ethik und des internationalen Rechts verpflichtet. Die naturgemässe soziale Verbundenheit sowie «die Gleichwertigkeit aller Glieder der Menschheitsfamilie», die «niemand ausschliesst durch Klassen- oder Kastengeist, durch Rassismus oder Nationalismus», ist Weg und Ziel der internationalen Ethik (IE, S. 61).
Dazu gehört heute besonders das Gerechtigkeitsdenken im Sinne der Menschenrechte für alle Erdenbewohner. Gemeinsam mit «den Traditionen des Denkens in nationaler Ebene sind Verhaltensweisen des Anteilnehmens und des Teilens mit anderen Kulturen und Völkern wichtig» (IE, S. 60). Die internationale Ethik ist demnach wesentlich «die Suche nach sozialer Verbindung statt Zerstörung» (IE, S. 60).

Militärischer Schutz der Bevölkerung und Nationen

Militärischer Schutz der Bevölkerung und Nationen ist angesichts der Weltlage jedoch notwendig. Dazu der Autor: «Erst eine Wehr­erziehung, die die normative Rechtfertigung des militärischen Einsatzes bedenkt, wird als Teil der Friedenserziehung gelten können. Auch sie ist auf die Friedensethik zurückzuverweisen.» (IE, S. 72) Weiler betont: «Friedenserziehung» wird «aus sich heraus nicht den absoluten Pazifismus vertreten können, sie wird aber den Weg zur Gewissensentscheidung bei der Wahl zwischen den Friedensdiensten mit oder ohne Waffen freihalten. Sie wird auch der friedlichen Konfliktlösung jeder militärischen den Vorrang geben» (IE, S. 72). Damit begründet Weiler das grundsätzliche Recht der Staaten auf Notwehr, wenn sie angegriffen werden. Dabei müsse das Prinzip der Verhältnismässigkeit gewahrt werden.

Friedensethik soll den Frieden fördern

«Die Friedensethik als Kernpunkt internationaler Ethik kann helfen, Entwicklungen zu erkennen, auf den Frieden hin zu fördern, die sittlichen Geisteskräfte zu stärken. Sie kann Entwicklungen rückbinden an sittliche Grundeinsichten und zugleich kritisch die Konzeptionen für eine solidarische Menschheit in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit begleiten.» Unsere Zeit «stellt auch in internationalen Fragen eine besondere Herausforderung für die Ethik dar» (IE, S. 225).    •

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