Wie das Projekt Nord Stream 2 zum Machtpoker geriet

Wie das Projekt Nord Stream 2 zum Machtpoker geriet

von Bruno Bandulet*

Es kommt selten vor, dass sich die deutsche Regierung Vorgaben widersetzt, die ihr aus Washington gemacht werden. Als US-Aussenminister Rex Tillerson im Januar Warschau besuchte, nahm er Stellung zu einem 9,5-Milliarden-Euro-Projekt, an dessen Finanzierung die USA nicht beteiligt sind und das ausserhalb ihrer Zuständigkeiten liegt. Es ging um die geplante zweite Gas-Pipeline von Russ­land nach Deutschland. Tillerson bezeichnete sie als Gefahr für die Energiesicherheit Europas. «Wie Polen sind die Vereinigten Staaten gegen die Nord-Stream-2-Pipeline», verkündete der Aussenminister und fügte hinzu: «Unser Widerstand wird von unseren gemeinsamen strategischen Interessen getragen.» Während die Polen hocherfreut waren über die amerikanische Schützenhilfe, reagierte das Wirtschaftsministerium in Berlin mit dem lapidaren Hinweis, es handele sich um eine unternehmerische Entscheidung.

Eine Pipeline, die den Amerikanern nicht passt

Damit spitzt sich ein Machtkampf zu, in dem Deutschland und Russland auf der einen Seite stehen, die USA, Polen und die Ukraine auf der anderen – und der dadurch kompliziert wird, dass sich die EU-Kommission für zuständig hält, was wiederum von Berlin bestritten wird. Die Russen haben bereits damit begonnen, 90 000 der insgesamt 200 000 Rohre mit Beton zu ummanteln. Ende Januar hat das Bergamt Stralsund den ersten, 55 Kilometer langen Abschnitt der Pipeline im deutschen Küstenmeer genehmigt. Sie wird parallel zur bereits bestehenden Leitung Nord Stream 1 verlaufen. Mit der Verlegung der Röhren auf der 1224 Kilometer langen Trasse vom russischen Wyborg nach Lubmin bei Greifswald soll noch in diesem Frühjahr begonnen werden.
Die Chancen, dass das Projekt realisiert wird, sind gestiegen, seitdem in Berlin die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition geplatzt sind. Nicht nur die transatlantisch gepolten Grünen liegen ganz auf der amerikanischen Linie, auch Unionspolitiker wie Norbert Röttgen und Manfred Weber, aber auch FDP-Parlamentarier wie Michael Link und Nadja Hirsch opponieren gegen Nord Stream 2. Unterdessen üben die USA Druck auf Dänemark aus. Weil die Trasse bei der Insel Bornholm durch dänische Territorialgewässer führt, ist eine dänische Genehmigung erforderlich. Die steht noch aus. Notfalls muss die Pipeline anderswo verlegt werden.
Während sich Angela Merkel mit öffentlichen Äusserungen zurückhält, ist offenkundig, wo die Sympathien der SPD liegen. Schon als Wirtschaftsminister hatte sich Sigmar Gabriel für Nord Stream 2 stark gemacht. Im vergangenen Juni reiste er als Aussenminister nach St. Petersburg, wo er an einem bis lange nach Mitternacht dauernden Abendessen mit Präsident Putin, Vertretern der deutschen Ostwirtschaft und Gerhard Schröder, dem Verwaltungsratspräsidenten von Nord Stream 2, zusammensass. Katrin Göring-Eckardt [Bündnis 90/Die Grünen] war empört. Sie sprach von einem «ungeheuren Affront gegenüber der EU».
Als im September 2011 das erste russische Gas via Ostsee Deutschland erreichte, fiel die Kritik noch moderat aus. Die damals in Betrieb genommenen zwei Röhren haben eine Kapazität von 55 Milliarden Kubikmetern Erdgas. Sie waren 2017 praktisch ganz ausgelastet. Nord Stream 2 kann durch ebenfalls zwei Röhren dieselbe Menge transportieren – mit einer Erweiterungsmöglichkeit um zehn Milliarden Kubikmeter. Damit wird sich die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Gasimporten, die gegenwärtig 40 Prozent des deutschen Verbrauchs ausmachen, erhöhen.
Aber was heisst abhängig? In einem langen Beitrag (Österreichische Militärische Zeitschrift, 4/2017) fährt der international vernetzte Energieexperte Frank Umbach schweres Geschütz gegen die neue Pipeline auf, bis ihm dann das Eingeständnis herausrutscht: «Dabei ist Russland inzwischen vom europäischen Gasmarkt abhängiger als die EU von russischen Gasimporten, da sie anders als 2009 inzwischen eine Vielfalt von Gasimportalternativen hat.»
Ebenfalls zutreffend ist Umbachs Feststellung: «Während Deutschland und die Tschechische Republik von Nord Stream 2 wirtschaftlich profitieren, gehören bisherige Transitländer wie die Slowakei und Polen eher zu den Verlierern.» Er räumt dann aber ein: «Das Nord-Stream-2-Projekt dürfte die Liquidität des deutschen Gashubs sowie den Gashandel stärken und könnte sogar die Integration der nationalen Gasmärkte in Zentraleuropa forcieren, von der auch Polen und andere mittelosteuropäische Staaten profitieren könnten.»
Richtig ist aber auch, dass Nord Stream 2 die Machtverhältnisse verschieben wird: Solange Gas durch Polen und die Ukraine fliesst, ist Gazprom auf deren Kooperation angewiesen. Mit Nord Stream 2 befreien sich die Russen aus der Abhängigkeit. Der andere Profiteur heisst Deutschland. Es wird zum Knotenpunkt und zur Drehscheibe («Gashub») für den Gashandel in Mitteleuropa, wenn auch nicht unbedingt zum «Energiezentrum Europas», wie die Deutschen Wirtschafts Nachrichten mutmassen.

Wir brauchen das Gas, die Russen das Geld

Die auch von Frank Umbach verbreitete Unterstellung, Russland könne künftig seine europäischen Kunden erpressen, ist aus der Luft gegriffen. Deutschland verfügt ebenso wie Österreich über grosse Gasspeicher, die im Notfall für Monate ausreichen. Sie werden normalerweise im Sommer aufgefüllt. Ausserdem wird Deutschland weiterhin norwegisches Erdgas beziehen. Polen, das bisher einen Teil seines Bedarfs direkt aus Russ­land importiert, wurde nie erpresst, obwohl die Beziehungen kaum schlechter sein könnten. Sobald Nord Stream 2 in Betrieb ist, kann Polen jederzeit – über den Verteiler Deutschland – beliefert werden. Sofern das nicht erwünscht ist, bieten sich norwegisches Gas und das teurere Flüssiggas aus den USA als Alternativen an. In Polen wird bereits über eine Pipeline nach Norwegen nachgedacht.
Man kann es auch so sehen: Die Deutschen und die Europäer brauchen das Gas, die Russen das Geld. Wo liegt das Problem? Moskau hat schon zu Sowjetzeiten (und selbst gegenüber Hitler-Deutschland bis 1941) bestehende Lieferverträge korrekt eingehalten. An den russisch-ukrainischen Gaskonflikten von 2006, 2009 und 2014 war auch nach Meinung neutraler Beobachter Kiew mitschuldig. Sobald vier statt zwei Röhren durch die Ostsee verlaufen, wird der Transit durch die Ukraine wahrscheinlich überflüssig. Der Vertrag endet ohnehin 2019. Dann verliert die Ukraine Transitgebühren, dann lässt sich der Transport – weil durch die Ostsee – garantiert konfliktfrei abwickeln. Dass die Ukraine ungern Geld und energiepolitische Bedeutung verliert, ist nachvollziehbar.
Deutschland wird mehr Gas als bisher brauchen. Die Produktion in der norddeutschen Tiefebene, die früher 20 Prozent des Eigenbedarfs bestritten hat, geht zurück. Ebenso die Ausbeute des niederländischen Groningen-Feldes.
Unabhängig davon, ob man an die Theorie vom steuerbaren und durch Kohlendioxid verursachten Klimawandel glaubt oder nicht, muss sich die Bundesregierung an ihren eigenen Klimazielen messen lassen. Die CO2-Emissionen in Deutschland sind seit 2009 trotz Energiewende nicht etwa rückläufig, sondern praktisch unverändert, weil nach dem Unfall im japanischen Fukushima Kernkraft durch Kohleverstromung ersetzt wurde.
Derzeit werden rund 40 Prozent des Stroms in Deutschland durch Kohle erzeugt und nur 13 Prozent durch Erdgas. Bei der Verbrennung von Braunkohle entsteht dreimal so viel Kohlendioxid wie beim Einsatz von Erdgas. Sobald die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet sind, muss die Lücke durch Erdgas geschlossen werden. Beispiel Baden-Württemberg: Dort decken zwei Atommeiler, die bis auf die üblichen Wartungsarbeiten im Dauerbetrieb laufen, ein Drittel des Strombedarfs. Der eine muss, weil es die Regierung Merkel so beschlossen hat, schon 2019 vom Netz gehen, der andere 2022.
Nach der Atomkraft auch die Kohle zu eliminieren und dann auch noch auf den Ersatz durch Erdgas zu verzichten, mutet an wie eine interessante Variante des Morgen­thau-Plans von 1944. Aber die Industrie­feinde, die das für machbar halten, glauben schliess­lich auch daran, dass Energie «erneuerbar» ist. Bei der grünen Partei in Deutschland und beim Europäischen Parlament, das schon im Mai 2016 Nord Stream 2 abgelehnt hat, mischen sich Amerikahörigkeit mit Russ­landfeindschaft und energiepolitischer Illusionismus mit einem Europäismus, der sich darin erschöpft, ständig neue Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die EU-Kommission verlagern zu wollen.
Das geostrategische Interesse der USA wiederum besteht darin, jegliche deutsch-russische Kooperation zu sabotieren und das Feindbild Russland zu zementieren. Der Krach mit Berlin ist programmiert.    •

* Der Journalist und Buchautor Dr. Bruno Bandulet war unter anderem Chef vom Dienst bei der «Welt» und Mitglied der Chefredaktion der Quick. 1979 gründete er den Informationsdienst Gold & Money Intelligence (G&M), der bis 2013 erschien. Von 1995 bis Ende 2008 war er Herausgeber des Hintergrunddienstes DeutschlandBrief, der seit Anfang 2009 als Kolumne in eigentümlich frei weitergeführt wird.

Quelle: Deutschlandbrief in: eigentümlich frei Nr. 181 vom April 2018

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