Im Vorfeld des wichtigen Treffens des EU-Rates vom 28. und 29. Juni erläuterte die Historikerin und «Sekretärin auf Lebenszeit» der «Académie française» Hélène Carrère d’Encausse, dass Russland nun versucht ist, sich vor allem als asiatische Macht zu verstehen. Dieses Szenario wäre für Europa eine Katastrophe, meint sie, und die 29 Staaten müssten dem Hausherrn des Kremls die Hand reichen, um dies zu vermeiden.
Es ist «dringend geboten, nach Wegen für einen echten Dialog zu suchen, der letztendlich zur Aussöhnung führt […]. Versöhnung bedeutet nicht, sich leichtfertig auf alles einzulassen, sondern bedeutet, dass wir uns nicht länger hartnäckig weigern, weiterführende Überlegungen anzustellen, und vor allem, dass wir die neu entstehende Welt und die wohlverstandenen Interessen Europas in dieser Welt miteinbeziehen».
Der Gipfel von Singapur, bei dem sich Donald Trump und Kim Jong Un am 12. Juni gegenüberstanden, war an sich schon ein bedeutendes Ereignis, da er den mächtigsten Staat der Welt mit einem von allen diskreditierten und gefürchteten Paria-Staat versöhnte. Aber seine Bedeutung geht weit über diesen politischen Moment hinaus. An diesem Tag löste sich die 1945 entstandene internationale Ordnung auf und wich einer neuen Welt.
Seit 1945 konzentrierte sich das internationale Leben auf den sogenannten Westen, die USA und Europa, wobei die USA Alliierte und Beschützer Europas waren. Solange der Kommunismus währte, war die Welt bipolar, wobei sich der Westen als wahrer Vertreter der Freiheit ausgab, im Gegensatz zu dem, was Präsident Reagan als das Reich des Bösen bezeichnete. Mit dem Verschwinden der UdSSR und des von ihr beherrschten Europas entstand 1991 eine unipolare Welt. Der Westen stellte sich als unübertreffliches Modell und Anziehungspunkt für jedes Land dar, das den Weg in die Freiheit gehen wollte. Die westlichen Werte galten als Kriterien für den politischen und moralischen Fortschritt der Gesellschaften.
Es stimmt zwar, dass die unipolare Welt seit einiger Zeit Anzeichen von Schwäche zeigt. Die Wahl von Präsident Trump im November 2016, der das amerikanische Nationalinteresse, das Motto «America first», ganz oben auf sein Wahlprogramm gesetzt hatte, beunruhigte Europa, das sich über die gleiche Frage des nationalen Interesses zu spalten begann. Diese Veränderungen fielen auch mit dem spektakulären Aufstieg der chinesischen und anderen asiatischen Mächte zusammen. Eine multilaterale Welt nahm Gestalt an. Der Gipfel von Singapur hat dies bestätigt, genauso wie er auch bestätigt, dass die amerikanische Politik den grossen geopolitischen Wandel durchaus zur Kenntnis nimmt, der Asien von nun an in den Mittelpunkt des internationalen Lebens stellt. Das desorientierte Europa muss, nach sieben Jahrzehnten des Zusammenlebens mit den USA – mit dem Schutz, den sie ihm mit der Nato gewährt haben – zur Kenntnis nehmen, dass es nun allein oder fast allein einen Weg finden muss, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Europa muss auch verstehen, dass in einer multipolaren Welt, in der Asien so grosses Gewicht hat, Europa – als Kontinent und als Institution – nicht mehr im Zentrum der Weltordnung steht, sondern Gefahr läuft, an den Rand gedrängt zu werden. Wie soll man in dieser veränderten Welt ein wichtiger Akteur bleiben?
Auch Russland stellt sich diese Frage, und es musste nicht auf die Erschütterung von Singapur warten, um sich dessen bewusst zu werden. Auch wenn 1991, beim Fall des Kommunismus, die russischen Verantwortlichen noch dachten, dass ihr Land vom triumphierenden Westen willkommen geheissen würde wie der verlorene Sohn in der Heiligen Schrift, der ins Haus des Vaters zurückkehrte, so brauchten sie nicht lange, um zu erkennen, dass sie sich getäuscht hatten.
In den frühen 2000er Jahren, als die Ära des Jelzinschen Chaos’ vorbei war, versuchte Wladimir Putin die Vorstellung von 1991 in die Tat umzusetzen und musste bald feststellen, dass sie eine Illusion war. Zuerst bekräftigte er leidenschaftlich die europäische Identität seines Landes, argumentierte mit seiner Geschichte und Kultur und versuchte, es in das europäische Projekt einzubinden. Im Jahr 2003 verband er Russland mit Europa in vier gemeinsamen Zusammenarbeitsbereichen. Ebenso wollte er eine Zusammenarbeit mit der Nato ermöglichen, ein scheinbar logisches Projekt, da es nun keinen Kalten Krieg mehr gab. Doch ab 2004 wurden seine Hoffnungen enttäuscht. Die Nato, der Polen und die baltischen Staaten beigetreten waren, wurde für ihre neuen Mitglieder zu einer Schutzorganisation gegen Russland, um die mögliche Wiedergeburt seiner imperialen Ambitionen eindämmen zu können. Russland erkannte diese neue Sicht der Nato und sah in der Entscheidung des Bündnisses, einen Raketenabwehrschild aufzubauen, eine Rückkehr zum Geist des Kalten Krieges.
Dazu kamen 2004 die farbigen Revolutionen, die in Georgien und der Ukraine ausbrachen und als Modell für eine echte postkommunistische Transformation präsentiert wurden. Russland sollte ihr mit Vorteil folgen, um von der demokratischen Welt angenommen zu werden. Für die Russen, die freiwillig das Ende ihres Reiches und des Kommunismus verkündet hatten, wurde dieser Ruf nach einer neuen Revolution – die niemand in Russland wollte – als schreckliche Kränkung und Verneinung des von Gorbatschow begonnenen politischen Kurses empfunden. Von da an hat sich die Kluft zwischen Europa/USA und Russland ständig vergrössert. Von diesem Zeitpunkt an hat Wladimir Putin – und für eine Weile sein Nachfolger Medwedew – versucht, Russland mit neuen Machtelementen auszustatten, um es gegen die Euro-Amerikaner zu stärken.
Russlands Geographie bot ihm diese Gegengewichte an. Der riesige russische Staat liegt auch in Asien, er ist geographisch und in geringerem Masse von seinen Bewohnern her ebenso eurasisch wie europäisch. Nach wenigen Jahren wandte sich Russland – das 1991 und 2000 glaubte, sich in Europa verwurzeln zu können und von ihm als wichtiger europäischer Staat anerkannt zu werden – wieder Asien zu, entwickelte dort neue Abkommen, schlichtete Streitigkeiten, trat den meisten bestehenden multilateralen Gremien bei und wurde sogar mit China zusammen zum Co-Sponsor der Shanghai-Gruppe – ein mächtiges Allianzsystem, dessen Rolle und Bedeutung bei uns noch immer nicht richtig eingeschätzt wird. Auch an seinen Grenzen entwickelte Russland mit der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion ein asiatisches Projekt, das – in Zukunft vielleicht – zu einem politischen Projekt namens Greater Asia werden könnte. Diese asiatische Option war zu Beginn vor allem eine Möglichkeit für Moskau, den USA und Europa zu zeigen, dass Russland nicht von ihrer Anerkennung abhängt, sondern dass es eine alternative geopolitische Option hat, dass es in dem schnellwachsenden Teil der Welt durchaus seinen Platz finden und gedeihen kann. Heute jedoch, da die grosse internationale Verschiebung in Richtung Asien Realität geworden ist, könnte es sich für Russland nicht mehr nur um eine banale Demonstration seiner Stärke oder gar Erpressung handeln, sondern um eine echte Wahl.
Am Vorabend des Gipfels von Singapur schlug Präsident Trump in Kanada seinen Kollegen vor, Russland wieder in die G 8, die G 7 geworden war, aufzunehmen. Das Schweigen, mit dem dieser Vorschlag entgegengenommen wurde, ist ziemlich überraschend. Es zeugt von der Gleichgültigkeit der mächtigsten Staatsoberhäupter der Welt, sorglos gegenüber dem Erdrutsch, der zwei Tage später in Singapur stattfinden sollte. Denn Russland auf diese Weise zu ignorieren – Kann man sich nicht vorstellen, dass Wladimir Putin diese Episode besonders aufmerksam verfolgt hat und daraus einige Schlüsse gezogen hat? – bedeutet, den russischen Präsidenten bewusst immer weiter Richtung Asien zu drängen und vielleicht schliesslich zu entscheiden, dass das nationale Interesse Russlands in Eurasien liegt. In Russland werden fordernde Stimmen laut, diesen Weg zu gehen. Und diese Stimmen kommen nicht nur von überzeugten «Nationalisten», sondern auch von liberalen und ausgewogenen politischen Persönlichkeiten. Wie kann man beispielsweise die Worte von Fjodor Lukjanow, dem Präsidenten des russischen Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik, ignorieren, der bereits die Idee der Zusammenarbeit zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Europäischen Union fördert oder gar die Schaffung einer grossen eurasischen Freihandelszone, an der China beteiligt wäre?
Diese verschiedenen Kombinationen (ein eurasisches Russland, ein eurasisch-chinesischer Raum) haben nicht nur zur Folge, Europa links liegen zu lassen, sondern noch mehr eine Zukunft zu zeichnen, in der der europäische Kontinent zum Teil ein Vorposten Asiens wäre, und mehr noch eines Chinas mit wachsender Macht, dessen neue Seidenstrassen – eine sich in der Verwirklichung befindende grandiose Idee – die chinesische Präsenz in der Aussenwelt, insbesondere in Europa, voraussehen lässt.
Ist es klug, Russland zu ermutigen, diesen Weg zu gehen? Wäre es nicht am Vorabend eines Treffens des EU-Rats, der auch über die Aufhebung oder Weiterführung der Sanktionen gegen Russland nach 2014 entscheiden muss, dringend geboten, nach Wegen für einen echten Dialog zu suchen, der letztendlich zur Aussöhnung führt? Versöhnung bedeutet nicht, sich leichtfertig auf alles einzulassen, sondern bedeutet, dass wir uns nicht länger hartnäckig weigern, weiterführende Überlegungen anzustellen, und vor allem, dass wir die neu entstehende Welt und die wohlverstandenen Interessen Europas in dieser Welt miteinbeziehen. Ist das nicht die Lektion, die uns der amerikanische Präsident erteilt? Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass Wladimir Putin, der vor kurzem wiedergewählte Chef seines Landes, mit echter Legitimität und mit der Unterstützung der Russen für eine Politik, die für sie die Würde Russlands wiederherstellt, nicht offen ist für jede Geste, für jedes Projekt, das den europäischen Charakter Russlands retten würde? Kann Wladimir Putin, der seinem Land, dessen Erscheinungsbild, dessen Identität und auch der russischen Geschichte leidenschaftlich verbunden ist, als Präsident in die Geschichte eingehen, der den europäischen Charakter Russlands verleugnet hat, um es zu einem asiatischen Land zu machen? Russland wurde drei Jahrhunderte lang durch die mongolische Invasion Europa entrissen, ein dreiviertel Jahrhundert lang durch den Kommunismus; nach jedem dieser Brüche hat es seinen Weg zurück nach Europa gefunden. Es ist an der Zeit, dass es die Hilfe Europas erfährt, um definitiv dort Fuss zu fassen. •
Quelle: © «Le Figaro» vom 22.6.2018
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Hélène Carrère d’Encausse, geboren am 6. Juli 1929, ist französische Historikerin, spezialisiert auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Sie wurde 1990 zum Mitglied in die «Académie française» ernannt und steht seit 1999 als «Secrétaire perpétuel» an deren Spitze. In der Geschichte dieser 1634 gegründeten prestigeträchtigen Institution ist Hélène Carrère d’Encausse die erste Frau in dieser leitenden Funktion. Von 1994 bis 1999 war sie Mitglied des EU-Parlaments und Vize-Präsidentin der Kommission für Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. 2011 erhielt sie neben vielen anderen Ehrungen das Grosskreuz der Ehrenlegion. Im Verlauf der letzten 40 Jahre hat sie eine grosse Anzahl Studien und Biographien zur russischen Geschichte verfasst. Ihre neueste Publikation trägt den Titel «Le Général de Gaulle et la Russie» (Fayard, 2017).
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