Rahmenabkommen mit Brüssel oder Selbstbestimmung der Schweizerbürger?

Rahmenabkommen mit Brüssel oder Selbstbestimmung der Schweizerbürger?

Direktdemokratische Entscheidungsfreiheit als rote Linie

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Erstaunliche Entwicklungen finden zurzeit in der Schweizer EU-Politik statt. Seit Jahren haben Politiker und Unternehmer aus den verschiedensten politischen Lagern nach einem institutionellen Rahmenabkommen mit Brüssel gerufen, um vermeintlich mehr Rechtssicherheit zu haben bei ihren geschäftlichen Beziehungen und bei Projekten des kulturellen Austausches. So laut waren ihre Stimmen, dass manche EU-Gremien glaubten, «die Schweiz» wolle unbedingt ein solches Abkommen und könne deshalb auf mancherlei Art unter Druck gesetzt werden. Ebenfalls seit Jahren machten kritische Zeitgenossen auf die Unverträglichkeit eines solchen Abkommens mit den direktdemokratischen Rechten der Bürger aufmerksam, ohne bisher vom Mainstream zur Kenntnis genommen zu werden.
Da ist es eine Freude, dass einige Gewerkschafter und Sozialdemokraten zur Erkenntnis kommen, dass die Verpflichtung zur Übernahme von EU-Recht und von Entscheiden des Europäischen Gerichtshofes keine abstrakten Ideen sind, mit denen wir dann schon irgendwie zurechtkämen, sondern dass damit die Sozialpartnerschaft und das gesamte Staatsgefüge ganz schön durchgerüttelt würden.

Nachdem der Bundesrat über Jahre nicht verraten hatte, worüber er eigentlich in Brüssel verhandelte, versuchte EDA-Chef1 Ignazio Cassis in jüngster Zeit, dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung zu begegnen, indem er gegenüber der EU verschiedene «rote Linien» ziehen wollte; allerdings reagierte diese ohne jedes Entgegenkommen.2
Nun ist endlich Bewegung in die Sache gekommen. Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und SP-Ständerat, hat einen Pflock eingeschlagen, indem er die geltenden Flankierenden Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen FZA zu einer echten, das heisst unabänderlichen roten Linie erklärte. Kurz darauf zogen die Präsidenten der grossen Parteien SP, FDP und CVP nach (die SVP ist ohnehin gegen ein Rahmenabkommen) und verlangten ganz plötzlich unisono einen vorläufigen Verhandlungsstopp mit der EU. Aber nun der Reihe nach.

Umstrittene rote Linie: Flankierende Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen FZA

Zur Erinnerung: Die Bilateralen I von 1999 wurden von den Sozialdemokraten und dem Gewerkschaftsbund nur unter der Bedingung unterstützt, dass zum Schutz der inländischen Arbeitskräfte die Zuwanderung von Arbeitswilligen aus den EU-Staaten mit flankierenden Massnahmen begleitet werde. Denn bekanntlich hat die Schweiz weit herum die tiefste Arbeitslosenquote und die höchsten Löhne. Die Zuwanderung war dann auch viel grösser als vom Bundesrat im voraus behauptet, eine grosse Belastung besonders für die Grenzkantone, die vor allem auch für Grenzgänger (zurzeit über 300 000) attraktiv sind. Deshalb sind die Flankierenden in der heutigen Ausgestaltung für die inländischen Arbeitnehmer unverzichtbar.
Sie gelten seit dem 1. Juni 2004 und «ermöglichen die Kontrolle der Einhaltung der minimalen oder üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen am Arbeitsort». Diese Kontrollen finden vor allem auf Baustellen und im Gastgewerbe statt und funktionieren mehr oder weniger. Dazu kommen weitere Massnahmen und Sanktionen.3 Was nicht vorauszusehen war: Seit den ersten Tagen nach Inkrafttreten der Bilateralen I strömte eine Flut von sogenannt selbständig Erwerbenden in die Grenzkantone. Um den Missbrauch einzudämmen, hielt der Bund im Entsende­gesetz4 fest, dass Dienstleistungserbringer auf Verlangen ihre Selbständigkeit nachzuweisen haben (Artikel 1a) und eine Meldefrist von 8 Tagen einhalten müssen (Artikel 6 Absatz 3).

EU gibt den Tarif durch, Bundesrat kuscht …

Die Schweizer Flankierenden Massnahmen (FlaM) sind der EU schon länger ein Dorn im Auge, denn sie sind in verschiedener Hinsicht strenger als die EU-Regelung. So ist zum Beispiel die 8-Tage-Regel laut EU diskriminierend für ausländische Firmen. Weiter stellt die EU die merkwürdige Forderung, dass die Schweiz maximal 3 Prozent von Firmen und Selbständigen aus der EU kontrollieren dürfe – eine offene Einladung zur Rechtsverletzung auf gut Glück? Laut Tagespresse überprüfen die Schweizer Inspektoren heute rund ein Drittel der Firmen und beanstanden bei einem Sechstel davon die Löhne, bei 7 Prozent der Selbständigen vermuten sie Scheinselbständigkeit. Sollen wir künftig die Förderung von Betrug und Korruption betreiben? Schliess­lich stört es die EU, dass die Rechtmässigkeit der FlaM durch Schweizer Verwaltungsbehörden und Gerichte überprüft wird und nicht durch ihre eigenen.5
Kurz zusammengefasst: Die EU will der Schweiz beim Arbeitnehmerschutz wie in zahlreichen anderen Bereichen ihre eigenen Regelungen und ihre Gerichtsbarkeit aufzwingen. Das ist ja der Sinn des Rahmenabkommens! Jedenfalls hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Chef des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF, die Botschaft aus Brüssel verstanden: Er will die FlaM in «einer von der EU akzeptierten Form» ausgestalten, die vor «einer allfälligen Einschätzung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) Bestand haben» müsse.6 Alles klar?

… und SGB-Präsident Rechsteiner hält dagegen

Dazu SGB-Chef Paul Rechsteiner: «Es wäre naiv anzunehmen, dass es der EU-Kommission nur um die Voranmeldefrist von acht Tagen geht. Die Kommission will vielmehr einen Hebel in die Hand bekommen, um auf den schweizerischen Lohnschutz als Ganzes Einfluss zu nehmen, um ihn zu schwächen.»
Auf die Entgegnung, die EU habe ihre Entsenderichtlinie substantiell verschärft: «Das Schutzniveau der EU und jenes der Schweiz sind nicht vergleichbar. Unser Land braucht den eigenständigen und starken Lohnschutz, weil wir die mit Abstand höchsten Löhne haben. Die europäischen Gewerkschaften warnen uns davor, Konzessionen zu machen. Fragen Sie mal in Österreich nach, wie froh man dort über unsere Möglichkeiten beim Lohnschutz wäre.»
Zur Warnung vor weiteren Repressalien der EU: «Die EU hat ebenso ein Interesse an guten Beziehungen mit der Schweiz wie umgekehrt. Ich bleibe da gelassen.»
Und ganz grundsätzlich: «Wenn Brüssel das Rahmenabkommen von Konzessionen beim Lohnschutz abhängig macht, dann lassen wir es bleiben. Bei Verhandlungen ist es sowieso sinnvoll, die Nerven zu behalten. Anders können unsere Interessen nicht wirksam verteidigt werden.»7
Beachtenswerte Tipps für Schweizer Bundesräte und Unterhändler in Brüssel!

Radikale Kursänderung der Parteipräsidenten

Vor einem halben Jahr tönte es noch so: «Vorwärtsmachen mit dem institutionellen Rahmenabkommen!» SP-Parteipräsident Christian Levrat und CVP-Aussenpolitikerin Elisabeth Schneider-Schneiter geben den von ihren Parteispitzen gewünschten Zeitplan bekannt: Die Volksabstimmung zu einem Paket Bilaterale III samt Rahmenabkommen soll noch vor den eidgenössischen Wahlen (im Oktober 2019) stattfinden. («Neue Zürcher Zeitung» vom 6.1.2018)
Und heute: FDP-Präsidentin Petra Gössi: «Meines Erachtens muss der Bundesrat die Verhandlungen mit den Arbeitgebern und den Kantonen jetzt abbrechen.» Ohne Gewerkschaften sei «eine sozialpartnerschaftliche Lösung aussichtslos». So lasse «sich im Parlament keine Mehrheit für ein Rahmenabkommen finden.» Gössis Fazit: «Wenn der Bundesrat mit Brüssel inhaltlich keine Einigung erzielt, sollten die Verhandlungen mit der EU vorerst sistiert werden.»
Auch SP-Präsident Christian Levrat und CVP-Präsident Gerhard Pfister fordern die Sistierung der Verhandlungen und die Aushandlung eines «Stillhalteabkommens» mit der EU, um weitere Repressalien von seiten Brüssels zu vermeiden.8

Die rote Linie für uns Bürger

Reine Wahltaktik, um nicht zu viele Wähler an die SVP – die seit jeher gegen ein Rahmenabkommen war – zu verlieren? Und nach den Parlamentswahlen im Oktober 2019 wird dann die Sistierung umgehend aufgehoben und die Einbahnstrasse nach Brüssel von neuem unter die Räder genommen? Wenn sich die Herrschaften da nur nicht verrechnen!
Denn die Konsequenz für die grosse Mehrheit der Schweizerbürgerinnen und -bürger ist klar: Wir ziehen die rote Linie da, wo unsere direktdemokratische Entscheidungsfreiheit beschnitten würde.     •

1    Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
2    siehe «Institutioneller Rahmenvertrag Schweiz–EU – Strategie oder Konfusion?», in: Zeit-Fragen Nr. 14 vom 19.6.2018
3    Schweizerische Eidgenossenschaft, Personenfreizügigkeit, Flankierende Massnahmen (https://www.personenfreizuegigkeit.admin.ch/fza/de/home/aufenthalt_und_arbeitsmarkt/flankierende_massnahmen.html)
4    Bundesgesetz über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsendegesetz, EntsG) vom 8. Oktober 1999 (Stand am 1. April 2017)
5    «Es geht um mehr als um die 8-Tage-Regel», in: Tages-Anzeiger vom 10.8.2018
6    «Kampf um Lohnschutz. Von ‹Verrat› und ‹Vertrauensbruch›», in: St. Galler Tagblatt vom 9.8.2018
7    «Wir werden die Demontage der Löhne stoppen», Interview mit Paul Rechsteiner (Stefan Schmid), in: St. Galler Tagblatt vom 9.8.2018
8    «Drei Bundesratsparteien blasen zum Rückzug.», in: SonntagsZeitung vom 12.8.2018

Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ändert ihren Kompass

mw. Die frühere SP-Bundesrätin hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie für den EU-Beitritt der Schweiz eintrat. Heute tönt es ganz anders: «Kommt der bilaterale Weg an sein Ende, wäre ein Beitritt zur EU möglich. Aber die EU hat derzeit keine geeinte Aussenpolitik, Schwierigkeiten in der Finanz- und Wirtschafts­politik, keine Migrationspolitik. Ich bin also zurückhaltender als früher, was diese Alternative angeht.»
Und weiter: «Die EU fordert: Wir sollen ihre Regelung übernehmen. Wollen wir, dass der Schutz unserer Löhne europäischem Recht untersteht? Dass die Flankierenden Massnahmen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterstehen? Der EuGH hat bis jetzt die Wettbewerbsfreiheit über den Schutz der Arbeitnehmer gestellt. Wenn der Bundesrat nun genau dies erwägt, verstehe ich den Widerstand der Gewerkschaften.»1
Gilt dieser Einspruch gegen die EU-Rechtsübernahme von Micheline Calmy-Rey auch dann, wenn es um andere Anliegen geht? Hoffen wir’s!

Alt Botschafter Paul Widmer: Grosser Souveränitätsverlust

Im Echo der Zeit vom 14.8.20182 nahm Paul Widmer, alt Botschafter und Lehrbeauftragter für Internationale Beziehungen an der Hochschule St. Gallen, in grundsätzlichen Worten Stellung zum Souveränitätsverlust der Schweiz durch ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU:
«Paul Widmer: Eine Nation verteidigt in erster Linie immer ihre eigenen Interessen. Und natürlich muss man versuchen, möglichst nahe zu kommen, aber man muss auch wissen, wo die eigenen Grenzen sind.
SRF: Wo würden Sie sagen, sind diese eigenen Grenzen?
Paul Widmer: Die eigenen Grenzen sind meines Erachtens in einem sehr grossen Souveränitätsverlust, der darin besteht, dass die Schweiz automatisch in gewissen Bereichen das Recht der EU übernehmen müss­te, und wir hätten nichts mehr dazu zu sagen. Das ist das wirkliche Kernproblem und nicht die Flankierenden Massnahmen.» Und weiter: «[…] der Souveränitätsverlust betrifft unsere ganze Nation. Wir können nicht als Schweiz weiter existieren, wenn wir uns die demokratischen Rechte zu sehr einschränken lassen.»
1    «Ich verstehe den Widerstand der Gewerkschaften», in: SonntagsBlick vom 12.8.2018, Interview: Florian Wicki und Simon Marti
2    «Wie weiter mit dem EU-Rahmenabkommen?» Radio SRF, Echo der Zeit vom 14.8.2018

«Schweizer Recht statt fremde Richter»

Eidgenössische Volksabstimmung vom 25. November 2018

(Selbstbestimmungsinitiative)

mw. Die Selbstbestimmungsinitiative setzt genau bei der hier aufgeworfenen Frage an: Wie kann die Souveränität der Schweiz gegenüber der EU und anderen Mächten zu einem möglichst grossen Teil bewahrt werden? Die Initiative verlangt in keiner Weise, dass die Schweiz «vertragsbrüchig» werden oder die Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK – die übrigens auch in der Bundesverfassung stehen – nicht mehr beachten soll. (Totschlagkeule der Gegner!) Vielmehr geht es darum, die Bestimmungen der Bundesverfassung, also die Entscheide von Volk und Ständen, durch die Gesetzgebung umzusetzen und durch Verwaltung und Justiz anzuwenden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit im demokratischen Rechtsstaat. Seit sich jedoch die Mehrheit in Bundesrat, Parlament und Bundesgericht zunehmend auf die EU und andere ausländische Mächte fokussiert, übergeht und verletzt sie die Verfassung überall dort, wo sie dem «Völkerrecht» in die Quere kommt. Zum Völkerrecht zählen zum Beispiel auch die bilateralen Verträge mit der EU.
Hier nur soviel dazu: Das Dilemma zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz und der Souveränität von Volk und Ständen muss ohnehin diskutiert und gelöst werden, wie Bundesverwaltungsrichter Simon Thurnheer in einem bemerkenswerten und klärenden Gastkommentar der «Neuen Zürcher Zeitung» darlegt.1 Eine genauere Auseinandersetzung mit der Selbstbestimmungsinitiative wird in einer der nächsten Ausgaben von Zeit-Fragen folgen.

1    «Landesrecht und Völkerrecht. Die EMRK und die Selbstbestimmungsinitiative». Gastkommentar von Simon Thurnheer. Neue Zürcher Zeitung vom 18.7.2018



Initiativtext

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 5 Abs. 1 und 4

1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Art. 56a Völkerrechtliche Verpflichtungen

1 Bund und Kantone gehen keine völkerrechtlichen Verpflichtungen ein, die der Bundesverfassung widersprechen.
2 Im Fall eines Widerspruchs sorgen sie für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen an die Vorgaben der Bundesverfassung, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge.
3 Vorbehalten bleiben die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Art. 190 Massgebendes Recht

Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.

Art. 197 Ziff. 124

12 Übergangsbestimmung zu Art. 5 Abs. 1 und 4 (Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns), Art. 56a (Völkerrechtliche Verpflichtungen) und Art. 190 (Massgebendes Recht)
Mit ihrer Annahme durch Volk und Stände werden die Artikel 5 Absätze 1 und 4, 56a und 190 auf alle bestehenden und künftigen Bestimmungen der Bundesverfassung und auf alle bestehenden und künftigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des Bundes und der Kantone anwendbar.

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