gl. Vera Lengsfeld, Bürgerrechtlerin in der DDR und Mitglied des Deutschen Bundestags von 1990 bis 2005, äusserte sich im sächsischen Bautzen kritisch zum gegenwärtigen Zustand der Demokratie in Deutschland.
Auf Einladung des Forums «Von Bürgern für Bürger» sprach sie vor rund 250 Teilnehmern zur politischen Situation in Deutschland und stellte Parallelen zwischen den späten achtziger Jahren der DDR und der heutigen Situation im vereinigten Deutschland fest. Sachsen sei bereits 1989 Zentrum der friedlichen Revolution gewesen. Am 9. Oktober 1989 seien 20 000 Menschen in Dresden auf der Strasse gewesen, um sich für Demokratie einzusetzen. Viele, die die damalige Situation erlebt hätten, fühlten sich heute wie in einem Alptraum: «Kann das wirklich sein, dass sich das Land so verändert hat?» Im Unterschied zu der rasanten Entwicklung im Herbst 1989 werde die notwendige Veränderung in Zukunft aber ein Marathonlauf werden.
Haben wir in Deutschland noch eine Demokratie? Diese Frage beantwortete Vera Lengsfeld mit einem klaren Nein. Die Essenz der Demokratie sei die Gewaltenteilung mit einer gegenseitigen Kontrolle der Gewalten, und diese fehle heute. Das Parlament übe seine Kontrollfunktion über die Regierung nicht mehr aus; Gesetzesvorlagen kämen heute meist aus dem Kanzleramt. Die Parlamentarier hätten vergessen, dass sie im Auftrag der Wähler im Parlament seien. Statt dessen verstünden sie sich als «Erzieher» des Volkes und wollten ihm vorschreiben, wie es sich zu benehmen und zu denken habe. Es gebe regelrechte Hetzjagden gegen die Bevölkerung, um nicht hören zu müssen, was die Menschen denken. Die Medienberichterstattung über Chemnitz bezeichnet Vera Lengsfeld als den grössten Medienskandal dieses Jahrhunderts; es sei gelogen worden wie sonst nur im Krieg. Ganz Chemnitz sei stigmatisiert worden vor der Welt, ohne jegliche Entschuldigung oder öffentlichkeitswirksame Korrektur.
Vieles erinnert sie heute an die DDR: Lobhudeleien an die Regierung, selbst in Haushaltsdebatten. Kontroverse Debatten im Bundestag fänden nicht mehr statt; alle Bundestagsparteien seien «nur noch damit beschäftigt, sich an der AfD abzuarbeiten». Der «Kampf gegen rechts» habe mittlerweile «wahnhafte Züge angenommen».
Einen wesentlichen Faktor der unguten politischen Entwicklung sieht Vera Lengsfeld bei der westdeutschen Linken. Diese habe die DDR immer für das bessere Deutschland gehalten und die Wiedervereinigung nicht gewollt. Vera Lengsfeld, die zunächst für die Grünen im Bundestag war und sich 1992 der CDU anschloss, als erkennbar war, dass die Grünen weitgehend von den westdeutschen K-Gruppen übernommen waren, macht die westdeutsche Linke auch als Quelle des Hasses auf Sachsen verantwortlich. «Eigentlich müssten alle Ossis auf die Couch», bis sie Begriffe wie Weltoffenheit verstanden hätten, sei die Meinung der Linken.
Was tun? Die ständige Hetzjagd auf die Ostler darf nicht irritieren, meint Vera Lengsfeld. Die Bürger dürften sich nicht mehr auf die Politik verlassen, sondern müssten nun selbst aktiv werden. Die von ihr selbst initiierte «Gemeinsame Erklärung 2018», die als Petition, zunächst von 165 000 und danach nochmals von 65 000 Bürgern unterschrieben, im Deutschen Bundestag am 8. Oktober vorgestellt wurde (die Petenten bekamen dafür nur fünf Minuten Zeit!), ist ein mögliches Beispiel. Da bundesweite Abstimmungen im deutschen Grundgesetz zwar vorgesehen sind, bisher aber kein entsprechendes Gesetz dafür geschaffen wurde, sind die bundesweiten Mitsprachemöglichkeiten in Deutschland zurzeit noch sehr beschränkt.
In der lebhaften, aber sehr sachlichen Diskussion erhielt Vera Lengsfeld viel Zustimmung. Einen Lacher erzeugte der Versprecher eines Teilnehmers, der von den «veralteten Bundesländern» sprach. Eine kritische Zahl von Bürgern müsse mit Leserbriefen, Aufrufen, Veranstaltungen usw. aktiv werden, damit sich etwas ändert. Im Westen könne es noch etwas länger dauern, bis man merke, dass etwas schiefläuft. •
gl. Vera Lengsfeld ist eine der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen der DDR-Zeit. 1952 in Thüringen geboren, studierte sie Geschichte und Philosophie in Leipzig und Berlin. Seit den siebziger Jahren war sie aktiv in der Opposition gegen das SED-Regime. 1983 wurde sie aus der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) ausgeschlossen und erhielt Berufs- und Reiseverbot. 1988 wurde sie verhaftet und nach einem Monat Haft wegen «versuchter Zusammenrottung» verurteilt. Nach ihrer Abschiebung in den Westen hielt sie sich in England auf, bis sie am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, in die DDR zurückkehrte. 1990 wurde sie in die erste und letzte frei gewählte Volkskammer der DDR gewählt. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestags, zunächst für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 dann für die CDU. Im Jahr 2008 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Vera Lengsfeld arbeitet heute als freischaffende Autorin und führt den Blog <link https: vera-lengsfeld.de external-link website:>vera-lengsfeld.de.
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