Streiflichter aus Sachsen

Streiflichter aus Sachsen

von Rita Brügger

Angeregt durch diverse Artikel in Zeit-Fragen aus den zurückliegenden Jahren, in denen vom Osten Deutschlands berichtet wurde, reisten wir kürzlich selbst nach Ostdeutschland, mit dem Schwerpunkt auf dem Bundesland Sachsen. Bis auf die Informationen aus den erwähnten Artikeln hatten wir bisher wenig bis keine Ahnung, was uns erwartet. Selbst geschichtlich fehlte uns viel Wissen über eine Gegend, die nicht allzu weit weg von der Schweiz liegt.

Es lag uns am Herzen, einen möglichst breiten Eindruck vom Land und der Bevölkerung zu bekommen. Aus diesem Grund nahmen wir uns genügend Zeit, um mit dem Auto und den mitgebrachten Fahrrädern flexibel reisen zu können. Auch wollten wir neben geschichtsträchtigen Orten, in denen viel Kultur geboten wird, Regionen ohne grosses Tourismusaufkommen kennenlernen. Ganz begeistert und noch voller Eindrücke sind wir nach knapp 4 Wochen heimgekehrt. Hier sollen ein paar Streiflichter unsere Eindrücke wiedergeben.
Überall stiessen wir auf auffallend freundliche Menschen. Sehr leicht kam man mit vielen in Kontakt, sei es im Restaurant, in einer kleinen Pension, bei einer Führung oder an der Kasse eines Museums. Bei kleinen Unsicherheiten im Bus wurde uns Hilfe angeboten oder bei einem Hustenanfall ein Glas Wasser. Wohlverstanden handelte es sich um Passanten oder Ladenbesitzer, die gerade in der Nähe waren.
Vielerorts konnten wir feststellen, dass die Menschen ihre Stadt, ihre Museen, ihre Kulturstätten lieben und mit einem grossen Selbstbewusstsein als Stadt- oder Museumsführer wirken. Auch junge Leute, die diese Aufgaben mit Hingabe erfüllen, brauchten keine Notizzettel, konnten aber ausführlich und genau berichten und auf allfällige Fragen Antwort geben. Und stets war ein ganz eigener Humor dabei, dem wir immer wieder begegnet sind.
Auch alte Traditionen werden mit Liebe gepflegt. Eine Lehrerin, die uns das Klöppeln zeigte (eine sehr differenzierte Handarbeit, die viel Geschick erfordert), berichtete denn auch, dass im Vogtland dieses Handwerk heute noch von 22 000 Frauen gepflegt wird. Kinder und Jugendliche melden sich regelmässig für Freifachkurse, und wenn sie einmal begonnen haben, entstehe daraus geradezu eine Sucht.
Im Erzgebirge gibt es heute noch ein aus der Not heraus entwickeltes Handwerk, das Drechseln und Schnitzen von Holzspielzeug. Schon früh nutzten die im Bergbau tätigen Männer die Wintertage und Abende, um Spielzeug herzustellen. Heute sind die bekannten Reifentiere, die Nussknacker und Weihnachtspyramiden aus Seiffen nicht mehr wegzudenken. Aus der früheren Freizeitbeschäftigung ist eine Industrie mit viel eindrücklicher Handarbeit geworden. Wir möchten in der Adventszeit jedoch lieber nicht dem touristischen Ansturm dort ausgesetzt sein.
Ausserhalb Dresdens logierten wir in Pesterwitz, zugehörig zur Kreisstadt Freital. Pesterwitz feiert dieses Jahr das 950-Jahr-Jubiläum, und der Festumzug fiel gerade in die Zeit unseres Aufenthalts dort. Was die Gemeinde mit etwas mehr als 3000 Einwohnern auf die Beine gestellt hatte, war ein gross­artiges Gemeinschaftswerk. Schon bei unserer Ankunft im Ort fielen in den Gärten die lebensgrossen Stoffpuppen auf, die im Bezug zu den Bewohnern standen. So setzte etwa das Dorfrestaurant auf einer Hecke zwei «Gäste» hin, die sich zuprosteten. Der Umzug mit 90 Sujets aus der Ortsgeschichte verschaffte einen wunderbaren Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart des Ortes, in dem wir zu Gast waren: Slawensiedlung, Markgraf zu Meissen, Jakobspilger, Dreissigjähriger Krieg, Pestzeit, Weltkriege, DDR-Zeit waren die einen Bilder. Dann wurden auch das Gewerbe des Dorfes und die Vereine, das Schulwesen, Kirche und Behörde auf Pferdewagen, Autos oder zu Fuss in bunten Gruppenbildern dargestellt. Wohl jeder Bewohner des Ortes war am guten Gelingen mitbeteiligt. Und viele Zuschauer säumten am sonnigen Sonntag die Strassen des Umzugs. Selbst aus der Stadt Dresden kamen Scharen von Familien mit dem Bus.
Das wohl eindrücklichste und beglückendste Bild bot sich uns beim Beobachten der Kinder und Jugendlichen auf unserer Reise. Kaum einmal begegneten wir quengelnden Kindern. Aber oft sahen wir Szenen, die bei uns selten geworden sind, die aber Anlass zur Freude geben. Schulklassen gingen mit ihren Lehrern gesittet durch die Strasse, plauderten angeregt miteinander, ohne den Weg aus dem Auge zu lassen. Ein junger Mann machte einem 60jährigen in der Strassenbahn Platz. Eine Jugendliche hob an der Bus­haltestelle ein Papier auf und warf es in den Abfalleimer. Ein etwa 10jähriger Junge unterbrach sein Spiel am Handy, um einer älteren Frau auf der nahen Parkbank die Zeitung wiederzubringen. Der Wind hatte sie ihr weggeblasen.
Solche und ähnliche Szenen haben unseres Erachtens einen Zusammenhang mit starken Familienbanden, von denen wir gelesen hatten und die unsere eigenen Beobachtungen bestätigen. Eltern, so sahen wir, leiten ihre Kinder noch vermehrt an. Ein im Restaurant herumeilendes Kind wurde an den Tisch gerufen und darauf aufmerksam gemacht, dass noch andere Leute im Raum sind: «Jetzt bleibst du hier bei uns», wurde der Knabe angehalten. Und der Kleine hörte auf die Eltern und beteiligte sich anschliessend freudig am Tischgespräch.
Ein Ehepaar, das während 20 Jahren in der Schweiz gelebt und gearbeitet hatte, war wegen der betagten Eltern zurück nach Brandenburg nahe der Grenze zu Sachsen gezogen. «Wir konnten doch die Eltern nicht all das aufbauen lassen, und nun müssen sie zusehen, wie alles verkommt», meinten die beiden. Heute sind sie Frührentner, leben bescheidener als die Jahre zuvor. Aber sie freuen sich, den Eltern auf die alten Tage etwas zurückgeben zu können. Soweit haben wir die Qualitäten von Ostdeutschland erlebt.
Natürlich haben wir auch etwas von den Sorgen der Menschen mitbekommen, wenn auch die kurzen Gespräche und eine Ferienreise nur einen Bruchteil davon wiedergeben können. Fehlende Arbeitsplätze beschäftigen die Leute. Junge wandern in Gebiete ab, wo man höhere Löhne bekommt. Das Geld wird nicht immer so verteilt, dass es der Mehrheit zugute kommt. Wird der Tourismus einseitig gefördert, hilft das nur einer Branche, anderes bleibt stecken. Handwerker sind äusserst gesucht und müssen weite Strecken fahren und häufig auswärts übernachten. Die gute Schulbildung lässt nach, viele der Buchverlage, die es früher gab, sind verschwunden. In der Stadt Leipzig hörten wir zwei älteren Damen in der Strassenbahn zu, die sich infolge des zunehmenden Ausländeranteils in der Stadt unwohl und bedroht fühlten.
Alles in allem würden wir jedem raten, sich selbst ein Bild vom Osten Deutschlands und seinen freundlichen Bewohnern zu machen.    •

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