Selbstbestimmung – ein Menschenrecht

Selbstbestimmung – ein Menschenrecht

von Erika Vögeli

Die Argumentation gegen die Selbstbestimmungsinitiative hat – einmal mehr vor einer Volksabstimmung – einen unsäglichen Grad alarmistischer Unsachlichkeit erreicht. Die Gegner der Initiative bemühen den Untergang der Schweiz, deren «Abschottung» und «Isolation» in wirtschaftlichen Bereichen, den Niedergang der Rechtssicherheit, ja, gar unseren moralischen Niedergang im Bereich der Menschenrechte. Da die Initiative von der SVP lanciert wurde, soll bei vielen schon das Denkverbot «Das kommt von der SVP!» wirken.
Es geht offensichtlich nicht mehr um Fakten, sondern darum, mit willkürlich aufgebauschten Argumenten beim Stimmbürger eine Stimmung zu erzeugen. Hier droht die eigentliche Gefahr für die Demokratie. Denn diese kann nur ehrlich funktionieren, wenn alle Grundlagen einer Entscheidung sachlich richtig vorliegen. Drohkulissen und Szenarien des wirtschaftlichen Untergangs gehören nicht dazu. Nur ein Gedanke dazu vorweg: Es gab die Schweiz vor 2012 auch schon. Anlass zur Initiative war bekanntlich ein Bundesgerichtsentscheid von 2012, der den bis dahin beachteten Grundsatz des Vorrangs der Verfassung auf den Kopf stellte und der mit der Initiative nur zurückgeholt werden soll. Schlecht ging es uns vor sechs Jahren nicht. Die Wirtschaft hielt sich auch damals ganz gut.

Völkerrecht – um was geht es eigentlich?

Die Initiative verlangt den Vorrang der schweizerischen Bundesverfassung vor nicht zwingendem Völkerrecht. Gewaltverbot, Folterverbot, die Bestimmungen des Humanitären Völkerrechtes und Verfahrensrechte sind damit von der Initiative nicht tangiert. Die Mehrheit der völkerrechtlichen Abkommen sind allerdings Abkommen, die mit solchen grundsätzlichen Vereinbarungen nichts zu tun haben: Es handelt sich etwa um Abkommen zum diplomatischen Verkehr, technische Vereinbarungen und vieles mehr. Aber auch weiterreichende Verträge über Handelsbeziehungen. Sie werden vom «Bundesrat, den Departementen, Gruppen oder Bundesämtern» abgeschlossen, wie der Bundesrat schreibt. So listete der Bundesrat in seinem «Bericht über die im Jahr 2016 abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge» an die Bundesversammlung für das Jahr 2015 insgesamt 526 solche völkerrechtlichen Verträge, für 2016 entsprechend 461 Verträge auf. Zusätzlich erwähnt werden für 2015 auch 346 Vertragsänderungen, für das Folgejahr sind es deren 352 (vgl. BBI 2017, S. 4594f.). Dazu kommen weitere Abkommen, die der Bundesrat nicht auflisten muss, da sie der Ratifizierung durch das Parlament unterstellt und diesem daher bekannt sind.
Warum all das über der Bundesverfassung stehen soll, ist nicht nachvollziehbar. Dass sich Bundesämter und Bundesrat ein – jeder Gewaltenteilung widersprechendes – Recht zur Verfassungsgebung über Legislative und Souverän hinweg zuschanzen wollen, widerspricht jedem demokratischen Grundverständnis.

Schreckgespenst «Isolation»

Es ist denn auch in anderen Ländern selbstverständliche Praxis, dass die eigene Verfassung über internationalem Recht steht. In den meisten Ländern müssen völkerrechtliche Abkommen erst in ein nationales Gesetz überführt werden und bleiben als solche der Verfassung untergeordnet, die stets über der Gesetzgebung steht.
Auch im «Zusatzbericht des Bundesrats zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 30. März 2011» heisst es, dass der Bundesrat vom Vorrang des jüngeren Verfassungsrechts – also Änderungen der Bundesverfassung, etwa durch eine Volksinitiative – ausgehe, und begründet dies «mit Artikel 190 BV, der die Gerichte hindere, ihre eigenen Interessenabwägungen an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers zu setzen. Wenn schon die Entscheide des Gesetzgebers für die Gerichte verbindlich seien, müsse dies um so mehr für die – demokratisch noch stärker legitimierten – Entscheide des Verfassungsgebers gelten.» (<link https: www.admin.ch opc de federal-gazette external-link seite:>www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2011/3613.pdf   BBI S. 3658)
Darauf weist auch die Juristin Katharina Fontana, langjährige Bundesgerichts-Berichterstatterin der «Neuen Zürcher Zeitung», heute bei der Weltwoche, hin: Noch 2012 habe es im Bundesamt für Justiz geheissen: «Bei Konflikten zwischen einer neuen Verfassungsbestimmung und Völkerrecht ‹geht nach Ansicht des Bundesrates die jüngere Verfassungsbestimmung vor›, schrieb das Amt. Und weiter: ‹Das bedeutet, dass […] widersprechende völkerrechtliche Verpflichtungen wenn immer möglich neu auszuhandeln oder allenfalls zu kündigen sind.› Das ist exakt, was die SBI verlangt und was lange Zeit als herrschende Meinung galt.» (Fontana, Katharina. Nachhilfe vom Amtsdirektor. Weltwoche vom 26.9.2018)
Wie der Bundesrat 2011 also selbst schreibt, kann es nicht sein, dass die Grundlage unseres staatlichen Zusammenlebens durch ein paar einzelne Richter bestimmt werden soll. Richter sind grundsätzlich an das Gesetz gebunden – dessen Einhaltung sollen sie sicherstellen. Die Gesetzgebung, insbesondere auf der Ebene der Verfassung, ist einer anderen Gewalt vorbehalten.
Was die Selbstbestimmungsinitiative fordert, war also mithin bis 2012 selbstverständliche Praxis auch in der Schweiz. Bis 2012 fünf Richter des Bundesgerichtes diese bis dahin geltende Ordnung mit einer Stimme Mehrheit – drei zu zwei – auf den Kopf stellten (vgl. dazu auch den Artikel von René Roca unten).
Die Argumentation der Gegner setzt offenbar nur noch auf Angstmache ist unsachlich, denn jedermann weiss, was Tatsache ist: Die Schweiz war bisher weder völkerrechtlich isoliert noch wirtschaftlich gefährdet, noch hat man sie wegen Rechtsunsicherheit gemieden. Im Gegenteil.
Selbstverständlich sollte hingegen sein, dass internationale Verträge immer wieder neu überdacht werden können. Die Welt ist in Entwicklung, die Probleme verändern sich, die Lösungen dafür müssen sich entsprechend anpassen lassen.

Menschenrechte – die BV garantiert mehr als die EMRK

Die Menschenrechte sind von der Initiative nicht tangiert, denn die Bestimmungen der EMRK sind vollumfänglich in der Bundesverfassung enthalten. So schreibt der langjährige grüne Politiker Luzius Theiler (GPB-DA) im Europa-Magazin, das sich als EU-kritisch, ökologisch und sozial versteht: «Im übrigen ist es ein Fakt, dass nicht nur alle Grundsätze der EMRK ebenfalls im Grundrechtskatalog der schweizerischen Bundesverfassung enthalten sind, sondern dass die BV in wichtigen Punkten darüber hinaus geht.» (Theiler, Luzius. Die Schweiz und das Völkerrecht. Europa-Magazin vom 9.10.2017)
Tatsache ist auch, dass grundlegende Menschenrechte wie die gleichberechtigte Teilhabe an Entscheiden über das Zusammenleben, die jeden unmittelbar betreffen, gerade mit der direkten Demokratie der Schweiz in einem Masse verwirklicht sind, das seinesgleichen sucht. Gerade diese Freiheit macht die Würde des Menschen wesentlich aus.
Dieses Recht begründet auch den Mehrheitsentscheid. Dass sich Mehrheiten auch irren können, ist kein Argument dagegen. «Als Argument gegen Mehrheitsentscheide macht dieser Einwand nur Sinn, wenn man der Meinung ist, es gebe eine Minderheit, die sich nicht irren könne. Das ist offensichtlich Unsinn. […] Mehrheitsentscheide sind ganz einfach Ausfluss des Menschenrechts auf gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Mehrheitsentscheide berücksichtigen die Meinung von mehr Personen als Entscheide durch Minderheiten.» (Ruppen, Paul. Demokratie und internationale Rechtsordnung. Europa-Magazin vom 9.10.2017) Mit der direkten Demokratie und dem Vorrang der Verfassung vor allem Möglichen hat die Bevölkerung aber immerhin die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden und allfällige Fehlentwicklungen zu korrigieren. Dieses Korrektiv abzuschaffen kann nicht im Sinne des Gemeinwohls sein.

Schreckgespenst Rechtsunsicherheit

Es sind vor allem die Vertreter bestimmter Wirtschaftsinteressen – keineswegs «der» Wirtschaft, zu der auch zahlreiche lokal verankerte Betriebe, wie KMU usw., gehören –, die lautstark mit der Gefahr des Verlustes von Rechtssicherheit im internationalen Verkehr argumentieren. Es schade den Schweizer Firmen, die langfristig planen wollten und bei einer Annahme der Initiative die Einhaltung internationaler Verträge nicht mehr garantieren könnten. Man drohte gar, es müssten über 600 Verträge neu ausgehandelt werden. Auf konkrete Nachfrage und mehrmaliges direktes Nachhaken eines Journalisten verwies Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Interview schliesslich auf das Gentech-Moratorium, das mit den WTO-Regeln internationalen Freihandelsverträgen nicht zu vereinbaren sei (vgl. «Basler-Zeitung» vom 2.10.2018). – Das Moratorium wird von breiten Kreisen der Bevölkerung getragen, es gilt seit 2005 und wurde erst 2017 (!) erneut verlängert.
Es ist dies ein immerhin deutlicher Hinweis, worum es wirklich geht. Freihandel um jeden Preis kann jedenfalls nicht die Devise sein. Es gibt aus einer am Gemeinwohl orientierten Sicht durchaus Gründe, den internationalen Handel zu beschränken. Es wäre dies übrigens ein Anliegen, das gar nicht SVP-spezifisch ist. So schreibt denn der bereits zitierte Präsident des «Forum für direkte Demokratie», Paul Ruppen, weiter: «Den meisten Gegnern der Initiative geht es allerdings weniger um Menschenrechte als darum, international ihren Geschäfte möglichst unbehelligt von demokratischen Einflüssen nachgehen zu können und die entsprechenden internationalen Regeln möglichst ohne zu grosse demokratische Beeinträchtigung nach eigenen Interessen gestalten zu können.»
Diese Bedenken kommen nicht nur von «linker» Seite,  auch Liberale und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft wie Rolf Dörig, Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes und Präsident der Verwaltungsräte der Adecco-Gruppe und von Swiss Life, teilen sie. Er äusserte sich zum Beispiel 2002 in der «Neuen Zürcher Zeitung» genau so über «viele, zu viele Wirtschaftsführer»: «Unkontrollierte Globalisierung, neoliberaler Markt und Wettbewerb als einzig gültige Maximen lauteten ihre Wunschzielsetzungen.» Und in einem Text, basierend auf einer Rede anläss­lich der EDA-Botschafterkonferenz vom 2. Mai 2018 warnte er in Zusammenhang mit einem Rahmenabkommen: «Es geht nicht nur um Wirtschaft und Marktzugänge, es geht um unsere Gesellschaft und damit um das Fundament unseres Landes. Um zentrale Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, direkte Demokratie und Föderalismus. In diesen heiklen Bereichen haben wir nicht nur ein paar dünne rote Linien, sondern doppelte rote Sicherheitslinien. […] Wir alle wissen, dass wir in dieser Willensnation zwei Vorteile geniessen: mehr persönliche Freiheit und mehr politische Mit- und Selbstbestimmung.» (vgl. Gastkommentar in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 18.5.2018
Die Tendenz, den Einfluss der Bürger der Staaten zu beschneiden und grundlegende demokratische Rechte einzuschränken zugunsten einer Steuerung über die Finanzmacht transnationaler Unternehmen und der Finanz«industrie», ist eine Entwicklung in die falsche Richtung. Die Wirtschaft soll den Menschen dienen – nicht der Gewinnmaximierung einiger weniger. Und auch nicht dazu, mittels Finanzkraft Abstimmungen zu lenken. Dass die economiesuisse nun schweizweit 2,2 Millionen Abstimmungszeitungen verteilen lässt, also praktisch in jeden Haushalt, darf sie natürlich tun. Immerhin ist damit klar, welche Interessen hier wirklich tangiert sind. Aber nötig oder sinnvoll ist es letztlich auch für das Gros der Schweizer Wirtschaft nicht.
Entgegen allen Einwänden zu dieser Initiative wissen wir es eigentlich: Es ist die Verwirklichung der Selbstbestimmung unseres Gemeinwesens, das der Achtung grundlegender Menschenrechte und der Würde des Menschen am nächsten kommt. Und gerade deshalb hat die direkte Demokratie unserem Land ein Mass an innerem Frieden und Rechtssicherheit ermöglicht, um das uns viele beneiden. Tragen wir ihr Sorge.    •

ev. Bei allem Verständnis für Sorgen der Wirtschaft: Die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte gehen tatsächlich in eine Richtung, die weder lebensdienlich noch gemeinwohlverträglich sind. Allein der Verteilungsbericht 2018 des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes lässt  einen innehalten und fragen: Soll das der Weg der Schweiz sein? Darin wird beispielsweise aufgelistet, wie sich die Vermögen in der Schweiz in den letzten Jahren entwickelt haben, und leider folgen sie der weltweiten Tendenz zur Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen. Laut diesem Bericht verfügte das reichste eine Prozent der Steuerpflichtigen in der Schweiz im Jahre 2014 über 41,9% der privaten Reinvermögen. Zehn Jahre davor lag die Zahl noch bei etwa 35%. Müsste die Entwicklung nicht in eine umgekehrte Richtung tendieren?

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