Vor kurzem ist ein Buch erschienen mit dem seltsamen Titel «Durchbruch bei Stalingrad». Der Autor Heinrich Gerlach hat das Manuskript dreimal geschrieben. Es ist ein Stück deutsche und russische Geschichte. Die Urfassung ruhte jahrzehntelang im «Giftschrank» des sowjetischen Innenministeriums und wurde erst vor kurzem von Historikern in Moskau entdeckt. Die Neuerscheinung basiert auf dieser Urfassung.
Autoren und Journalisten, die in diesem und dem letzten Jahrhundert gegen das ewige Töten in den vielen sinnlosen Kriegen anschreiben, haben es oft schwer. Daniele Ganser zum Beispiel weist heute in seinen Vorträgen und Schriften immer wieder auf die vielen illegalen Kriege hin, die in den letzten zwei Jahrzehnten meist von Staaten aus der «westlichen Wertegemeinschaft» mit merkwürdigen Begründungen oder gar Lügen losgetreten wurden. Sie hatten verheerende Folgen, so sind sie eine Hauptursache für die heutige Flüchtlings- und Migrationsproblematik. Ganser wird wegen seiner Deutlichkeit als Verschwörungstheoretiker hingestellt und muss mancherlei Nachteile in Kauf nehmen. (vgl. dazu «Von der Zensur zum Mainstream» in Zeit-Fragen vom 9.10.2018)
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts konnten Schriftsteller und Journalisten meist nur aus dem Exil gegen den Krieg anschreiben. Es gibt allerdings Unterschiede: Der Deutsche Leonhard Frank hat sein Buch «Der Mensch ist gut» im Ersten Weltkrieg im Exil in der Schweiz geschrieben. Er konnte das Buch gut verkaufen und von dem Erlös ein Haus in Zürich kaufen. Auch andere Autoren wie Romain Rolland haben von hier aus gegen das sinnlose Töten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges aufgerufen.
Im Zweiten Weltkrieg legten die Geschwister Scholl in ihrer Universität Flugblätter gegen den verbrecherischen Krieg von Hitler auf. Sie wurden bald entdeckt und hingerichtet.
Heinrich Gerlach, der Autor des Buches «Durchbruch bei Stalingrad», schrieb ebenfalls gegen den Krieg – aber aus dem «Schutz» eines russischen Kriegsgefangenenlagers. Als Lehrer war er in den verschiedenen Lagern oft zuständig für die Wand- und Lagerzeitungen, und er fand Zeit, sich die Erlebnisse nach der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 von der Seele zu schreiben. Es sollte bis zum Kriegsende ein Buch von 600 Seiten werden, dem er den Titel «Durchbruch bei Stalingrad» gab. Er arbeitete zudem in der Redaktion Freies Deutschland mit, die mit Duldung und Hilfe der Sowjetbehörden eine Zeitung herausgab und mit Flugblättern und über einen Radiosender aktiv gegen Hitler agierte. Dazu kurz die Vorgeschichte:
Es bildeten sich im Sommer 1943 in den Gefangenenlagern zwei Gruppierungen. Im Juli gründete eine Gruppe von Exilkommunisten zusammen mit Kriegsgefangenen das Nationalkomitee Freies Deutschland. Wilhelm Piek, Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und andere gehörten dazu. Sie luden hohe Offiziere der 6. Armee ein mitzumachen. Die meisten lehnten jedoch ab mit der Begründung, dass Aktivitäten aus der Gefangenschaft gegen ihren Eid als deutsche Offiziere verstossen würden und Verrat gegenüber der kämpfenden Truppe seien. Bald änderten jedoch einige ihre Haltung – im Stich gelassen von Hitler.
Im September 1943 gründeten 95 vor allem hohe Offiziere der Stalingradarmee den Bund Deutscher Offiziere BDO. Sie erhielten von Stalin die Zusicherung: Falls es ihnen gelingen würde, in der Führung der Wehrmacht eine Veränderung herbeizuführen, so dass der Krieg beendet werden könne, dann würde er sich für den Erhalt von Deutschland in den bisherigen Grenzen einsetzen. Die Schlacht von Stalingrad war zwar gewonnen. Militärisch bestand im Sommer 1943 jedoch eine Art Patt-Situation. Der Blutzoll und die Schäden waren immens, und die Wehrmacht stand nach wie vor mit einem Millionenheer im Land, und es sollte noch ein ganzes und langes Jahr dauern, bis die Alliierten in der Normandie die zweite Front eröffneten. Ob die zweite Front wirklich kommen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher.
Die Offiziere des BDO verfolgten das Ziel, dass klardenkende Offiziere der Wehrmacht Hitler absetzen oder beseitigen. So hofften sie, den Krieg zu beenden und vor allem den totalen Zusammenbruch Deutschlands mit all seinen politischen und sozialen Folgen verhindern zu können. General Walther von Seydlitz liess sich zum Präsidenten des BDO wählen und begründete seinen Entscheid:
«Letzten Ausschlag gab für mich die Überlegung: Wenn es durch unsere Mitwirkung gelingt, auch nur einen kleineren Teil der russischen Zusicherung zu verwirklichen, so darf man sich seiner Mitwirkung nicht verschliessen. Hitlers Wahnsinn führt Deutschland so sicher in den Untergang, dass auch ganz ungewöhnliche Aktivitäten vonnöten sind, um zu retten, was noch zu retten ist.» («Durchbruch in Stalingrad», S. 596)
Heinrich Gerlach war von Anfang an eines der aktivsten Mitglieder in der Redaktion Freies Deutschland. Sie gaben eine Zeitung heraus (die in den Lagern gelesen wurde), erstellten Flugblätter (die abgeworfen wurden) und wollten über einen Radiosender in die Geschichte eingreifen. Gerlach arbeitete in den folgenden Monaten auch mit den Exilkommunisten zusammen. Er stimmte zwar in seiner politischen Grundüberzeugung mit ihnen nicht überein. Er betonte in seinen Beiträgen, er sei weder Marxist noch Kommunist, und ihm gefalle nicht alles, was er hier sehe. Aber sie hätten in der Redaktion im Kampf gegen Hitler und gegen den verbrecherischen Krieg ein gemeinsames Ziel.
Heinrich Gerlach war sich aber auch bewusst, dass sein Kampf gegen Hitler gefährlich war. Er musste damit rechnen, in Abwesenheit zum Tod verurteilt zu werden. Was er nicht wusste und was tatsächlich geschah: Seine Frau erhielt in Königsberg Besuch von der Gestapo, und sie wurde zusammen mit den drei Kindern in Sippenhaft genommen und in einem Lager bei München inhaftiert (wo sie später von den Amerikanern befreit wurden).
Am 20. Juli 1944 hatten Gerlach und seine Offizierskollegen im BDO das Gefühl, ihr Ziel erreicht zu haben. Der Rundfunk meldete das Attentat von Oberst Claus von Stauffenberg auf Hitler. Genau das hatten sie gewollt und angeregt. Endlich hatten Offiziere der Wehrmacht in Deutschland das Heft des Handelns in die Hand genommen, dachten sie. Die Enttäuschung war gross – Hitler hatte überlebt und sollte Stauffenberg und Tausende umbringen lassen, die ihn unterstützt hatten, und viele andere. Der Prominenteste war Erwin Rommel. Sie alle konnten nicht mehr erzählen, ob und wie Heinrich Gerlach und seine Kollegen in der Redaktion Freies Deutschland sie in ihrem Kampf gegen Hitler ermuntert und bestärkt hatten.
In diesen Monaten schrieb Gerlach in jeder freien Minute an seinem Roman «Durchbruch bei Stalingrad». Gerlach hatte die Erfahrung gemacht, dass er in der Redaktion mit einzelnen Kommunisten ganz gut zusammenarbeiten konnte. So erzählte er einzelnen von ihnen auch von seinem Roman und gab ihnen Teile zum Lesen. Sie unterstützten ihn und fanden den Text unbedenklich. Mit Walter Ulbricht klappte die Zusammenarbeit allerdings nicht, was sich später auswirken sollte. Am Kriegsende, im Mai 1945, war Gerlach fertig. Das Manuskript – ein umfangreiches Werk von 600 sorgfältig beschriebenen Seiten – begleitete ihn danach auf seiner fünfjährigen Odyssee durch verschiedenste Gefangenenlager in der Sowjetunion, und er hütete sein Werk wie seinen Augapfel.
Die Kriegsgefangenen in den etwa 600 Lagern wurden 1945 eingeteilt in Arbeitsbataillone zu je 750, 1000 bis 1500 Mann und arbeiteten in der Bauindustrie, der Land- und Forstwirtschaft und vor allem beim Wiederaufbau der zerstörten sowjetischen Städte. (S. 639) Stalin versprach, sie bis 1949 in Gruppen nach Hause zu entlassen. Der Name Gerlach war zwar oft auf der Liste der Heimkehrer, wurde aber immer wieder aus ihm unbekannten Gründen herausgestrichen. Er wurde misstrauisch und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er bekam Angst um sein Manuskript und erstellte über Wochen mühselig eine Abschrift in Kleinstschrift und mit Abkürzungen, so dass die 600 Seiten in einem Schulheft Platz hatten. Dieses versteckte er im doppelten Boden eines Koffers, den er einem Kameraden mitgab, der heimreisen konnte. Das Versteck wurde jedoch entdeckt, und Gerlach erhielt Besuch vom sowjetischen Geheimdienst, der seine Sachen durchsuchte, das Manuskript fand und beschlagnahmte.
Exilkommunisten wie Professor Arnold, mit denen Gerlach zusammengearbeitet hatte, beruhigten ihn. Das Buch sei unbedenklich, und er könne es nach seiner Heimkehr vom Innenministerium wieder zurückfordern. Sie irrten sich. Sein Antrag auf Rückerstattung löste 1950 in der Führungsspitze der Sowjetunion hektische Aktivitäten aus. Der Geheimdienst hatte zwei Gutachten erstellen lassen – ein ausführliches und eine Kurzfassung. Historiker stiessen Jahrzehnte später in einem Militärarchiv auf einen Schriftwechsel zwischen Innenminister Suslow, dem Zentralsekretär der Kommunistischen Partei Malenko, dem Vorsitzenden der aussenpolitischen Kommission Grigorian und Geheimdienstchef Beria. Wahrscheinlich hatte auch Stalin davon Kenntnis. Die Stellungnahmen der Spitzenpolitiker waren vernichtend: In der kürzeren Einschätzung, die Grigorian an Suslow schickte, heisst es vollkommen tatsachenwidrig: «Aus dem Roman geht deutlich hervor, dass der Verfasser ein unbelehrbarer SS-Mann war und geblieben ist. Eine Rückgabe des Buches, das eine Verleumdung des Sowjetvolkes und eine Lobpreisung des Hitlerismus darstellt, ist nicht zweckmässig.» (S. 668–673) Die Historiker stiessen zudem auf eine für Gerlach verhängnisvolle Stellungnahme von Walter Ulbricht, dem späteren Staatsratsvorsitzenden der DDR, der über Gerlach schrieb: «Ein typischer Vertreter der Hitler-Armee, talentvoll, aber nicht ehrlich. Versucht mit seinen Informationen an die sowjetischen Organisationen seine echten Auffassungen zu vertuschen. […]» (S. 623) So ganz anders hatte die Beurteilung des kommunistischen Professors Arnold gelautet, mit dem Gerlach in der Redaktion Freies Deutschland zusammengearbeitet hatte: «Gerlach war einer der ‹aktivsten, klügsten und tüchtigsten Offiziere im Lager Nr. 160›.» (S. 623)
Heute stellt sich die Frage, was die wirklichen Gründe waren, die die Sowjetführung veranlasst hatten, die Rückgabe zu verweigern. Der Kalte Krieg war 1950 bereits im Gange. Der Korea-Krieg hatte begonnen. Soldatische Tugenden wie Opferbereitschaft und Heldentum waren auf beiden Seiten gefragt – verbunden mit dem Aufbau und der Pflege von Feindbildern. Stellungnahmen gegen den Krieg passten nicht in dieses Szenario. Hinzu kam, dass die sowjetischen Behörden Gerlach und andere Kriegsgefangene angefragt hatten, ob sie nach der Gefangenschaft weiter mit der Sowjetunion zusammenarbeiten würden. Sie boten Gerlach an, in der Sowjetzone (Ostberlin) eine Zeitschrift für Kunst und Literatur herauszugeben. Auch der Geheimdienst äusserte Interesse an einer Zusammenarbeit nach der Gefangenschaft.
Gerlach hatte bis zu diesem Zeitpunkt die sich selbst gestellte Grenze nie überschritten und war sich stets treu geblieben, und er sagte nein. Er beobachtete aber, dass andere, die ebenfalls nein gesagt hatten, Schwierigkeiten bekamen und sogar angeklagt wurden. – Nun will er nur noch eins: über die Runden kommen, überleben und nach Hause zurückkehren. So sagte er zum Schein ja. Diese Notlüge war die Fahrkarte aus der Kriegsgefangenschaft und für das Wiedersehen mit seiner Familie.
Schon bald stand Heinrich Gerlach in Berlin wieder wie vor dem Krieg als Lehrer vor einer Schulklasse – und er hatte seine Schwierigkeiten. So anders war sein Leben in den letzten elf Jahren verlaufen. Dazu kam, dass ihn «Stalingrad» nicht in Ruhe liess. Er hatte eine Botschaft, die er unbedingt an die heranwachsende Jugend und an die kommenden Generationen weitergeben wollte, und er fasste den Plan, den Roman ein zweites Mal zu schreiben. Er musste feststellen, dass das nicht so einfach war. Er hatte vieles «vergessen». Der Mensch neigt dazu, Schreckliches zu verdrängen. Mit Hilfe eines Psychologen machte er sich daran, sich die Erlebnisse von Stalingrad nach und nach wieder ins Gedächtnis zu rufen – ein schwieriges Unterfangen. Es gelang. Aber er brauchte vier Jahre, bis die Zweitfassung auf dem Tisch lag und publiziert werden konnte – diesmal jedoch mit einem ganz anderen Titel: «Die verratene Armee» hiess der neue Roman. Später folgte noch die Fortsetzung über die Jahre in der Gefangenschaft mit dem Titel «Odyssee in Rot».
Die Urfassung von 1943 sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert in einem Archiv in Moskau ruhen, bis sie Carsten Gansel, Literaturprofessor an der Universität Giessen, 2012 fand. Er verglich den Roman von 1956 mit der Urfassung von 1943 und fand Unterschiede, so dass er sich für deren wortgetreue Publikation einsetzte. Diese liegt nun vor.
Der Roman enthält viel Autobiographisches. Hans Gerlach war Deutschlehrer am Gymnasium in einer Kleinstadt bei Königsberg in Ostpreussen gewesen. Im Sommer 1939 wurde er im Alter von 33 Jahren in die Wehrmacht eingezogen. Er machte den Frankreichfeldzug und dann auch den Krieg gegen Jugoslawien mit. Dann ging es gegen die Sowjetunion – anfänglich ähnlich wie in Frankreich ein siegreicher Blitzkrieg. Gerlach war inzwischen zum Oberleutnant befördert worden. Kurz vor Stalingrad ging es nicht mehr so schnell. Schlimmer: Die 6. Armee wurde im November 1942 mit ungefähr 250 000 Mann von der russischen Armee eingeschlossen. Der geschichtskundige Leser wird den Titel des Buches seltsam finden und denken: Einen Durchbruch durch die russischen Linien hat es nie gegeben. Hitler hatte der 6. Armee den sofortigen Ausbruch aus dem Kessel und den Rückzug verboten. Der Leser muss sich über viele Seiten in Geduld üben, bis er nach und nach herausfindet, was der merkwürdige Titel «Durchbruch bei Stalingrad» wirklich bedeutet.
Göring hatte Hitler zugesagt, die eingeschlossene Armee aus der Luft zu versorgen – mit 600 Tonnen Lebensmittel und Kriegsmaterial jeden Tag. Nur – er hatte den Mund zu voll genommen. Die klapprigen Ju-52 schafften von Anfang an weniger als die Hälfte und wurden oft schwer beladen von den Russen abgeschossen oder zerschellten nach einer missglückten Landung am Boden. Anfang Januar 1943 hatten die Russen die Flugplätze erobert, und es kam gar nichts mehr rein. Danach nimmt die Dramatik der Situation zu.
Die Lage der Soldaten im Januar 1943 wurde immer schlimmer – Kälte, Hunger, Seuchen, Verwundungen, Tod, Verzweiflung lähmten die Soldaten. Weil der Boden beinhart gefroren war, konnten die Toten gar nicht mehr begraben werden. Sie wurden oft wie Holzscheite neben den Stellungen aufgeschichtet oder blieben unter dem Schnee liegen. Die Vorräte gingen schnell zur Neige. Mitte Januar 1943 meldete General Paulus an Hitler, dass sie 16 000 Verwundete – zum grossen Teil unversorgt – in improvisierten Lazaretten liegen hätten und die Versorgungslage katastrophal sei. (S. 385) Er bat um Handlungsfreiheit bzw. um die Erlaubnis, den Kampf einzustellen. Hitler antwortete bereits zwei Stunden später: «Handlungsfreiheit verweigert – Kapitulation nicht erlaubt», «Kampf bis zur letzten Patrone», «Kampf bis zum letzten Mann». Weitere Funksprüche lauteten in diesen Wochen: «Ihr könnt euch felsenfest auf mich verlassen, ich werde euch raushauen», «Grosszügige Versorgung ist im Anrollen».
Solche Zusagen waren eher für den einfachen Soldaten bestimmt, die zum Teil bis zuletzt an Hitler glaubten. Hohe Offiziere wussten, dass die Truppen, die normalerweise als Reserve bereitstanden, gar nicht vorhanden waren. Hitler hatte sie in den Kaukasus geschickt, um die Ölfelder am Kaspischen Meer zu erobern. Sie waren ebenfalls in Schwierigkeiten und auf dem Rückzug – und auf jeden Fall waren sie viel zu weit weg, um helfen zu können.
Das Ende kam Anfang Februar. Als es im Frühling taute, begruben die Russen die Leichen von 142 567 deutschen Soldaten. Die Zahl der toten russischen Soldaten und Zivilisten war allerdings noch weit höher. Etwa 90 000 deutsche Soldaten gingen in Gefangenschaft. Sie waren allerdings so verwahrlost, verwundet, entmutigt, krank, halb oder fast ganz verhungert, dass die Sterberate in den folgenden Wochen und Monaten etwa bei 90 Prozent lag.
Mit «Durchbruch bei Stalingrad» meinte Gerlach nicht etwas Militärisches, sondern den Durchbruch in den Köpfen der Soldaten zur allmählichen Einsicht, dass sie an einem verbrecherischen Krieg beteiligt waren, und mehr noch – dass der «Krieg» ein Verbrechen am Menschen ist. Der Roman wird zu einem erschütternden literarischen Zeugnis und zu einem Antikriegsroman. Der literaturkundige Gerlach bezog sich bei seiner Titelwahl auf die viel zitierte Stelle von Ulrich von Hutten (1488–1523): «Ich träume nicht von alter Zeiten Glück, ich breche durch und schaue nicht zurück.» Das tat Gerlach auch.
Viele, auch hohe Offiziere begingen Anfang Februar 1943 Selbstmord, indem sie sich selber erschossen. Der Tod schien ihnen einfacher als das langsame Zugrundegehen oder der «sichere Tod in der Gefangenschaft» – wie Goebbels in seiner Propaganda behauptete. Für Gerlach war das Am-Leben-Bleiben ein Durchbruch – die erste Tat in seinem Kampf gegen Hitler und für Deutschland.
Der Roman ist ein ausgesprochen dichtes, aber gut lesbares Buch, das weite Bereiche der menschlichen Psyche, des Militärwesens, der Geschichte, der Politik und der Philosophie abdeckt. Gerlach schildert das Kriegsgeschehen mit all seinen Schrecken. Im Vordergrund stehen allerdings nicht die militärischen Abläufe – sondern der Soldat-Mensch, der irgendwie versucht, mit der Extremsituation und mit sich selber zurechtzukommen. Es kommt zum Ausdruck, dass Gerlach als Gymnasiallehrer gewohnt war, mit seinen Schülern das Gespräch zu führen. So gelingt es ihm meisterhaft, den Leser in unzählige Gespräche einzubeziehen – zwischen den Soldaten, Unteroffizieren, Offizieren, zwischen Oberleutnant Breuer (dem Alter ego von Heinrich Gerlach) und seinem Fahrer, zwischen den Hauptleuten und den Obersten, zwischen deutschen Soldaten und gefangenen Russen und auch mit Bewohnern von Stalingrad, die in den Kellern zu überleben versuchten – und die Frage stellten: «Warum?»
Zur eigentlichen Armeeführung hatte Gerlach als Oberleutnant keinen Zugang. Doch hatte er das Glück, dass er nach dem Zusammenbruch zunächst in ein Kriegsgefangenenlager für Offiziere kam, die nach der Genfer Konvention nicht arbeiten mussten. Hier fand er unmittelbar nach der Schlacht Zeit, um mit der Niederschrift seiner Erlebnisse zu beginnen bzw. sich die Schrecknisse von der Seele zu schreiben – zunächst als Tagebuch, dann als Roman. Hier traf er einige der 22 gefangenen Generäle aus Stalingrad, von denen während der Schlacht immer wieder einer aus dem Kessel ausgeflogen worden war, um bei Hitler Bericht zu erstatten und um danach mit dessen Anweisungen zurückzukehren. Sie berichteten von den Gesprächen an der Spitze der 6. Armee, im Führerhauptquartier und manchmal auch am Mittagstisch bei Hitler, zu dem sie eingeladen waren. Gerlach arbeitete ihre Erzählungen in seinen Roman mit ein – so dass der Leser die verzweifelte Situation auch aus dem Blickwinkel von ganz oben mitbekommt. Gerlach betont in seinem Nachwort, dass nichts erfunden ist, alles basiere auf «persönlichen Erlebnissen und Gesprächen mit deutschen Soldaten und Offizieren, die bei Stalingrad gekämpft haben».
Der Roman ist von einem Meister der deutschen Sprache geschrieben. Zwei Ausschnitte als Beispiel: Gerlach beschreibt den entscheidenden Angriff der Russen auf eine Schwachstelle in der deutschen Front:
«Da –! Plötzlich zischt und schwirrt es böse und unheimlich. Schreckensschreie und Warnrufe. Und schon bricht das Unwetter los. Urplötzlich steht da ein Wald von Stichflammen auf der dröhnenden Erde, Splitterhagel fegt pfeifend daher, Wolken schwefeligen Qualms wälzen sich über die Fläche. […] Eine Wand von haushohen Erdfontänen schiesst empor, schiebt sich über die berstenden Minenfelder im Vorgelände hinweg, zerfetzt die Drahthindernisse, befällt die Gräben und Maschinengewehrnester, Holzteile, Waffen, Menschenleiber mit sich emporwirbelnd, und rollt auf die rückwärtigen Artilleriestellungen zu. Das brodelt und rauscht und heult und kracht … Die Erde selbst, zerrissen und zerfetzt, duckt sich unter dem höllischen Ausbruch der Materie. Was ist der Mensch …!»
Die Regisseure der Filmstudios, die später diese oder ähnliche Szenen verfilmten, brauchten tonnenweise pyrotechnisches Material, ohne auch nur im entferntesten die Wirkung zu erzielen, die Gerlach in diesen wenigen Zeilen zum Ausdruck bringt.
Aus der Kriegsgefangenschaft schildert Gerlach seine Rückkehr nach Berlin am 22. April 1950 so:
«Langsam stieg er die Treppe hinauf zur Sperre. […] Die Beine wurden ihm schwerer und schwerer. Da war die Sperre. Darüber die grosse Bahnhofsuhr. Und dahinter, in dem Winkel an den Schaltern gedrückt wie in Furcht, eine Frau […] [Er] ging auf die Frau zu. Ein Junge stand neben ihr, so gross wie sie selbst. Eine Kinderzeichnung, Baum und Haus, und zwei gelbe Sonnen darüber. Zwei Sonnen, die einen Bunker von Stalingrad erhellten …» (S. 662)
Ungewöhnlich ist, dass bei einem 600seitigen Roman sich nahtlos ein fast zweihundertseitiges Nachwort anschliesst. Der Leser spürt, dass der «Durchbruch» für seinen Entdecker, den Literaturprofessor Carsten Gansel, zu einer Herzensangelegenheit geworden ist. Er lotete das geschichtliche und politische Umfeld genau aus, in dem Gerlach seinen Roman geschrieben hatte. Ein besonderes Augenmerk richtete er auf die Aktivitäten des Bundes Deutscher Offiziere BDO und des Nationalkomitees Freies Deutschland und die Arbeit in der Redaktion Freies Deutschland. Und er vergleicht die Urfassung mit der Zweitfassung, die Gerlach zehn Jahre später geschrieben hat. Sorgfältig analysiert Gansel auch die beiden Gutachten, die die oberste Sowjetführung über das Buch veranlasst hatte, und ordnet sie ein.
In seinem Vergleich der Zweitfassung mit der Urfassung stellte Gansel fest, dass die Perspektive des Autors in der späteren Fassung etwas anders ist. Hier stellt Gerlach die verbrecherische Kriegsführung von Hitler in den Vordergrund – wie dies auch im neuen Titel «Die verratene Armee» zum Ausdruck kommt. Der «Durchbruch» der Urfassung dagegen baut stärker auf den Soldatenmenschen mit ihren breitgefächerten Gefühls- und Gedankenwelten und den existentiellen Fragen, die sich in Stalingrad stellten.
Im Februar 2018 jährten sich die Ereignisse von Stalingrad zum 75. Mal. Im heutigen Wolgograd, wo ein riesiges Mahnmal daran erinnert, fanden grosse Gedenkveranstaltungen statt. Von der deutschen Bundesregierung nahm niemand daran teil. Es ist unverständlich – Differenzen mit Putin hin oder her –, dass die Kanzlerin (die heute eine europäische Armee aufbauen will) es nicht für nötig hielt, den 142 567 dort begrabenen deutschen Soldaten und ihren Angehörigen den Respekt zu erweisen. Um so mehr hätte die noch weit grössere Zahl russischer Soldaten und ihre Angehörigen und auch die Bewohner von Wolgograd den Respekt verdient – hat doch niemand Deutschland eingeladen, Russland und die Stadt an der Wolga anzugreifen, und die Toten auf beiden Seiten sind nicht freiwillig gestorben. Auch die Bundeswehr war nicht in Wolgograd. Dazu Michael Henjes vom Bundesverteidigungsministerium: «Stalingrad ist ein Mythos, der nicht mehr so präsent ist. In der Bundeswehr ist das heute kein Thema mehr. Da sind die Fäden gekappt.» («Hannoversche Allgemeine Zeitung» vom 1.2.2018) – Schliesslich war nur ein kleines Grüppchen anwesend – einige aus den Städtepartnerschaften von Köln und Chemnitz mit Wolgograd, einige Abgeordnete der Linken und ganz wenige der SPD.
Der «Durchbruch» zu neuen Einsichten und zu einem neuen Denken ist heute so dringend wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies würde auch die Migrationsproblematik entschärfen – weit mehr als ein Pakt der Uno. Die Publikation des erschütternden Dokuments kommt zur richtigen Zeit. •
Quellen:
Gerlach, Heinrich. Durchbruch bei Stalingrad. München 2017
Diedrich, Torsten. Ebert, Jens. Walther von Seydlitz. Nach Stalingrad – Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955. Göttingen 2018
ww. Wer Heinrich Gerlachs Schilderungen über den Krieg mit der medialen Berichterstattung über die heutigen Kriege vergleicht, dem fallen gewaltige Unterschiede auf. Seit dem Vietnam-Krieg gibt es fast nur noch «embedded journalists», die eingebunden und Teil der Kriegsführung sind. Von NGO, von manchen Menschenrechtsorganisationen und ganz allgemein von den Mainstream-Medien lässt sich leider oft nichts anderes sagen. Die Berichterstatter übernehmen die Propaganda, berichten einseitig, verbreiten Lügen und bleiben vor allem an der Oberfläche, so dass der Leser die Wirklichkeit gar nicht mehr mitbekommt und sich so leicht zur irrigen Ansicht verleiten lässt, dass der Krieg etwas Normales sei und zum Leben gehöre. (vgl. dazu «Von der Zensur zum Mainstream» in Zeit-Fragen vom 9.10.2018)
Wenn nur die ungelöste Migrations- und Flüchtlingsproblematik nicht wäre! Aber auch hier gelingt es oft, zu vernebeln und davon abzulenken, dass die vielen Kriege von Jugoslawien bis nach Syrien, Libanon, Gaza, Libyen, zum Irak, Afghanistan und zum Jemen eine der Hauptursachen sind. Und es sind neue Kriege in Vorbereitung. Die Hochrüstung des Kalten Krieges ist längst wieder im Gange. – Soll man sich die 600 Seiten «Stalingrad» zumuten? Wer wirklich wissen will, was «Krieg» ist, und wer auch in Kauf nimmt, dass in seinem Kopf ein «Durchbruch» geschieht, der wird das Buch nicht auf die Seite legen. Deshalb hat Heinrich Gerlach den Roman geschrieben. «Den Toten und den Lebenden» (Mortuis et Vivis) lautet seine Widmung auf der ersten Seite.
ww. In den Geschichtsbüchern ist der Bund deutscher Offiziere heute eher eine Randerscheinung. Oberst Claus von Stauffenberg ist der Held und hauptsächliche Repräsentant des deutschen Widerstands gegen Hitler. Seine Geschichte ist vielfach beschrieben, gewürdigt und mehrfach verfilmt worden. In der Bundesrepublik war die Tätigkeit der Stalingrad-Offiziere im BDO noch lange Zeit umstritten. Es gab immer wieder Kreise, die sie als «nützliche Idioten der Sowjets» hinstellten. Erst als deutsche und russische Historiker in den 1990er Jahren Zugang zu Archiven in Moskau erhielten, änderte sich diese Meinung: Professor Gansel, der die Publikation «Durchbruch bei Stalingrad» ermöglicht hat, nimmt dazu klar Stellung: «Das letztendliche Misslingen der Aktivitäten des Bundes deutscher Offiziere, in die Heinrich Gerlach als Mitglied der Redaktion Freies Deutschland in der Folgezeit eingebunden ist, ändert nichts an der Tatsache, dass die Gründung ein ehrenvoller Versuch war, angesichts der aussichtslos werdenden militärischen Situation dem deutschen Volk grösste Verluste und eine Zerstörung des Landes zu ersparen.» (S. 605) Er zählt die BDO-Offiziere – und mit ihnen auch Heinrich Gerlach – zum Kreis des Widerstandes gegen Hitler – auf einer Stufe mit Stauffenberg oder den Geschwistern Scholl (Weisse Rose). Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse tat dies an der Gedenkveranstaltung zum deutschen Widerstand im Jahr 2000.
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