Bürger für Vernunft und Menschlichkeit in der Politik

Bürger für Vernunft und Menschlichkeit in der Politik

von Karl Müller

Ein Blick auf die 100 Jahre seit dem Ende des Millionen von Menschen mordenden Ersten Weltkrieges könnte den Eindruck vermitteln, dass die Menschheit nicht lernfähig sei. Auch Ende 2018 besteht wieder die Gefahr eines grossen Krieges, eines Weltkrieges. Vielleicht wird aber auch von interessierter Seite nur immer wieder von den eigentlich wichtigen Fragen abgelenkt, und vielleicht fehlt es nur ein wenig an Mut, diese Fragen einmal grundsätzlich anzugehen: kritische Fragen an das Streben nach Macht und die Gier nach Geld und Gewinn.

«Allmenschheitsempfinden»

Vor 100 Jahren, kurz nach dem Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien des Ersten Weltkrieges, verfasste der Wiener Individualpsychologe Alfred Adler einen bemerkenswerten Text mit dem Titel «Bolschewismus und Seelenkunde».1 Dieser Text weicht auffallend ab von den bis heute gängigen Untersuchungen der Schuldfrage und anderen politischen Erwägungen und beginnt mit einem grundsätzlichen Querdenken: «Die Mittel der Macht sind uns Deutschen entrissen. Wir haben der Herrschaft über andere Völker entsagt und sehen ohne Neid und Missgunst, wie die Tschechen, die Südslawen, die Ungarn, die Polen, die Ruthenen [eine in der Habsburger Monarchie übliche Bezeichnung für die Ostslawen westlich von Russland] in ihrer staatlichen Kraft erstarken und zu einem neuen, selbständigen Leben erwachen. Verflogen sind im Nu alle künstlich gezüchteten Hassgefühle von gestern gegen die Ententegenossen [vor allem Grossbritannien und Frankreich], und wir bringen ihnen brüderliche Gesinnungen dar, auch wenn wir schmerzlich und bedauernd empfinden, dass manche Rauheit des Waffenstillstands, manche Verschärfung der Hungersnot zu vermeiden wäre. Uns Deutsche selbst beseelt und beseeligt ein starkes Gefühl der Gemeinschaft, es greift über die Grenzen hinaus und setzt sich fort in ein hoffnungsfreudiges Allmenschheitsempfinden.»
Keine Revanchegedanken, kein Aufbegehren gegen den Verlust des deutschen Weltmachtstatus’ und das Ende des Habsburger Vielvölkerstaates, kein Klagen über die militärische Niederlage. – Aber das «Allmenschheitsempfinden» – das wird im weiteren Verlauf des Textes deutlich – ist auch keine Steilvorlage für die weltrevolutionären Visionen der Bolschewisten in Russland und anderswo, in denen Adler nichts anderes sah als eine der vielen Varianten des Strebens, Macht über andere Menschen auszuüben. Auch kein Plädoyer für die Auflösung der ja gerade erst entstandenen und nach Souveränität strebenden Staaten im Osten und Südosten Europas. Nein, es geht um etwas anderes, um eine innere Haltung, in der sich der Mensch gleichwertig innerlich mit seinen Mitmenschen verbindet.

Absage an jede Form von Machtpolitik

Daraus folgt Adlers Absage an jede Form von Machtpolitik, in einer für damalige deutsche und auch andere Ohren sensationellen Art und Weise: «Uns Volk drückt nicht die Niederlage. Der Siegerlorbeer, der die Stirne des starken Feldherrn schmückt, weckt nicht unsere Pein. Wir waren lange Jahre die Betörten und sind jetzt wissend geworden: Hinter der Trübsal und hinter dem Elend der Gegenwart blinkt unserem unschuldigen Volke der Stern einer neuen Erkenntnis: Nie waren wir elender als auf dem Gipfel unserer Macht! Das Streben nach Herrschaft ist ein verhängnisvolles Blendwerk und vergiftet das Zusammenleben der Menschen! Wer die Gemeinschaft will, muss dem Streben nach Macht entsagen!» [Kursiv im Original] Die Besiegten des Krieges, so Adler, hätten die Lehre verstanden, «um sie den Menschen zu verkünden: dass die Menschheitsgeschichte mit ihrem Grauen und Jammer bisher nichts anderes war als eine fortlaufende Kette gescheiterten Strebens nach Macht». Adler spricht von der «tiefsten Idee aller Kultur» und erkennt diese «in der endgültigen Verwerfung des Strebens nach Macht und in der endgültigen Erhebung des Gemeinsinns zur leitenden Idee».

Der Kapitalismus mit seiner entfesselten Gier

Die folgenden Sätze Adlers könnten genauso im Jahre 2018 formuliert werden: «Wie aber soll man es erklären, dass der Machtkitzel einiger weniger so bereitwillige Diener und Anhänger fand? Nicht anders, als dass auch diesen die Herrschsucht im Blute sass! Dass auch sie aus innerer Überzeugung dort zu finden waren, wo die Macht lockte, weil auch sie erhofften, dass mit der Steigerung der Gewalt ihrer Gebieter auch ihre Erwartungen auf Machtzuwachs steigen würden. Die Jahre des Kapitalismus mit seiner entfesselten Gier nach Überwältigung des anderen haben die Raublust in der menschlichen Seele masslos angefacht.»
Wir wissen, dass Adlers Überlegungen nach 1918 nicht Allgemeingut wurden. Im Gegenteil, die Politik des Machtstrebens ging weiter, sie führte in Diktaturen und einen neuen Weltkrieg, noch furchtbarer als der erste. In der Weltöffentlichkeit gab es ein erneutes kurzes Innehalten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auch nach dem Ende des Kalten Krieges 1990, – aber was ist nicht alles an Unrecht auch in den vergangen 70 Jahren passiert, und wo stehen wir heute – innerhalb unserer Staaten und in den internationalen Beziehungen?

Die Prinzipien des Grundgesetzes und die Menschheit des Menschen

Was Deutschland betrifft, endet der Blick vielfach trostlos. Man mag gar nicht alles aufzählen, was nicht in Ordnung ist.
Aber es gibt auch etwas, das dagegen steht. Das sind die im naturrechtlichen Denken verankerten Prinzipien des 1949 formulierten Grundgesetzes: die über allem stehende Anerkennung und Achtung vor der Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die Grundrechte, die Staatsprinzipien Demokratie – auch direkte Demokratie –, Rechtsstaat, Bundesstaat, Sozialstaat, die Gewaltenteilung, die Verpflichtung auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die Verfassungswidrigkeit und Strafbarkeit aller «Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten». – Das ist aber vor allem die Menschheit des Menschen.
Vieles von dem hat die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte ausgehöhlt und auf den Kopf gestellt – bis ins Seelenleben der Menschen hinein – und beiseite zu schieben versucht.
Ist es nicht Zeit, sich Überlegungen wie die von Alfred Adler, vor nunmehr 100 Jahren nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges formuliert, in Erinnerung zu rufen; gründlich darüber nachzudenken und darüber zu sprechen, worauf es wirklich ankommt?

Die Aussaat bedarf der Vorbereitung

Deutschland hat mehr als 100 verschiedene Parteien und noch viel mehr Bürgerbewegungen. Über deren vielfältigste Anliegen zu urteilen, steht keinem zu. Aber fehlt nicht doch ein freier Zusammenschluss von Frauen und Männern, die den Gemeinsinn ins Zentrum ihres Anliegens stellen, eine Bürgerbewegung für Vernunft und Menschlichkeit? Eine Bürgerbewegung auch für die Prinzipien des Grundgesetzes. Weil wir Bürgerinnen und Bürger nicht weiter mit anschauen können, wie es immer weiter bergab geht mit unserem Land. Weil wir wieder aufbauen wollen, konstruktiv und an der Lösung der Sachprobleme orientiert. Weil wir nicht nach Macht streben.
Manch einer behauptet, es müsse noch alles viel schlimmer werden, bevor die Menschen zur Vernunft kommen. Wir sind anderer Ansicht: Jedes weitere Opfer ist ein Opfer zu viel. Wir erwarten keine schnellen Erfolge, aber alles Zögern macht nichts besser, im Gegenteil. Vor der Ernte muss gesät und das Feld bestellt werden. Und die Aussaat bedarf der Vorbereitung. Damit beginnt man schon im Winter. Wann also, wenn nicht jetzt.    •

1    Der Text mit der genauen Quellenangabe findet sich in: Adler, Alfred. Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze. Band I: 1919–1929; hrsg. von Ansbacher, Heinz L. und Antoch, Robert F., Frankfurt a. M. 1982

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