Die Think tanks nisten sich im Kern des Staates ein

Die Think tanks nisten sich im Kern des Staates ein

Experten-Netzwerke versuchen, jeglichen Widerstand gegen das neoliberale Dogma lahmzulegen

von Dostena Anguelova* und Roland Gori**, Frankreich

«In keinem anderen Sinne, als Napoleon es vor 150 Jahren von der Politik, und Marx es vor 100 Jahren von der Wirtschaft behauptet hatte, ist die Technik nun unser Schicksal.»1

Die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beratergremiums für das nationale Bildungsministerium [«Education nationale»] durch Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer hat eine gewisse legitime Unruhe hervorgerufen, die auch von der Presse aufgenommen wurde. Wir haben nun einen Minister, der die Ausführungsbestimmungen des präsidialen Ausdrucks «sowohl als auch» [«en même temps»] perfekt umsetzt»2.
Einerseits singt er das Loblied des Humanismus und bezieht sich auf die Montessori-Methode, die die «Selbsterziehung» des Schülers in den Mittelpunkt stellt, andererseits – oder eben «sowohl als auch» – richtet Minister Blanquer einen wissenschaftlichen Beraterstab ein, an dessen Spitze er Stanislas Dehaene beruft, einen bekannten Professor für kognitive und experimentelle Psychologie am prestigeträchtigen «Collège de France», umgeben von einer Auswahl bekennender Positivisten.
Diese «Experten» werden mit «randomisierten» Protokollen und MRI (Magnetresonanztomographie/Kernspintomographie) die pädagogische Praxis der «Million Angestellten»3, wie Stanislas Dehaene sie nennt, betreuen und bestmöglich steuern und korrigieren. Nichts wird dem Zufall, den Eventualitäten oder Unvorhergesehenem überlassen. Die Herrschaft des «Messens»4 und der «Effizienz» wird die Schritte der «Schüler-Maschine» und der für das «Lernen» verantwortlichen «Angestellten» lenken.
Die Erziehungsberufe werden so, wie schon viele andere Berufe zuvor, effizient und ausgemessen sein, ihre Handlungen werden durch Entscheidungsträger rationalisiert, zerlegt, organisiert und festgelegt, kurz taylorisiert.5 Die «Experten» werden die nötigen praktischen Handbücher liefern. Schliess­lich wird es zur Krönung des Schülers als perfekte kognitive und neuronale Maschine kommen, geschaffen zum Buchstabieren und zum Rechnen. Internationale Tests und weitere Rankings werden dies attestieren. Dies alles wird nicht verhindern, dass eine propagandistische Humanismus-Rhetorik und mystische Appelle an die Nation zu hören sein werden.
Eine Nation in Form einer Start-up-Firma, die hier wie anderswo6, entsetzlich entfremdende soziale Verhaltensweisen durchsetzt, eingezwängt zwischen den Extremen der Ökonomisierung und dem Szientismus [extreme Wissenschaftsgläubigkeit]. Diese neuen Kontrollmechanismen, die unsere Lebensweise beeinflussen, sind keine isolierten Phänomene. Sie sind bereits Teil unserer entsprechend den amerikanischen Standards immer weiter normierten europäischen Zivilisation.

Das Auftauchen der Think tanks

In der ökologischen Nische dieser Kultur tauchen die Think tanks auf: Private Kompetenzzentren, die Spitzenakademiker anstellen und vorgeben, die Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat zu repräsentieren. In dieser symbolischen Revolution (Pierre Bourdieu) liefern die dem Neoliberalismus zugeneigten «Experten» Rezepte für eine gute «governance», die geeignet sei, die öffentliche Meinung der liberalen Demokratien oder solcher, die auf dem Weg dazu sind, aufzuklären.7
Im Verlauf dieses «demokratischen Übergangs» haben diese «unabhängigen» und «objektiven» Think tanks die Aufgabe, den Bevölkerungen dieser liberalen – oder auf dem Weg zur «Liberalisierung» stehenden – Demokratien die Nostalgie nach sozialistischen oder souveränistischen Ideen auszutreiben. Es muss ein für allemal gesagt und ad nauseam wiederholt werden, dass es keine andere Alternative als die des Neoliberalismus gibt, dem sich sogar die «Linksparteien» der Sozialdemokratie angeschlossen haben. Probe aufs Exempel!
Die «Clans» des «extremen Zentrums», die in den Netzwerken des amerikanischen «Soft Power» ausgebildet wurden, können nun ihren Traum in der Partei von Präsident Macron verwirklichen. Der «grosse Koordinator» des präsidialen Programms war in der Tat Jean Pisani-Ferry – der Gründer und ehemalige Direktor des sehr einflussreichen europäischen Think tanks Bruegel [«Brussels European and Global Economic Laboratory»]. Claude Bébéar, der Begründer eines rechtsliberalen Think tanks – des Institut Montaigne – [sowie Begründer und langjähriger Direktor der AXA-Versicherungen, Anm. d. Übers.] gab in der Zeitung «Les Echos» (April 2017) erstmals öffentlich bekannt, wen er wählen werde: Emmanuel Macron ist die einzige und beste Lösung für Frankreich! Laurent Bigorgne, Direktor des Institut Montaigne, arbeitete ebenfalls am Programm des zukünftigen Präsidenten, und zwar im Bereich der Bildung, woher auch der aktuelle Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer kommt, ein langjähriger Weggefährte innerhalb des Instituts Montaigne.

Kontrollmechanismen und Normierung im Kern des Staates

Die Think tanks als neue Lobbys entleeren den traditionellen institutionellen Rahmen der republikanischen Demokratie ihres Sinnes. Sie installieren im Kern des Staates Kontroll- und Normierungsmechanismen, die den Forderungen der Wirtschaft und den Vorstellungen des Neoliberalismus entsprechen.
Diese symbolische Revolution, im Namen des Humanismus, der Menschenrechte, der Modernisierung, des demokratischen Überganges (in den Ländern des Ostens) oder auch der «neuen Wirtschaft des Wissens» durchgeführt, soll angeblich dem Volk helfen, in der harten Konkurrenz des Weltmarktes zu überleben.
So wurde die Reform der Schulen und der Universitäten in Europa (Bologna-Prozess) hinter den Kulissen von Experten der Think tanks und der französischen «Centres d’études avancées» initiiert. Diese wurden in Europa nach dem Modell des berühmten Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences (CASBS) gegründet. Das CASBS wurde 1954 vom Grossindustriellen Ford begründet und verkörpert die Idee seines Sponsors, dass die Sozialwissenschaften zur Kontrolle der Gesellschaft beitragen müssten. Dazu sollen sie sich den «Naturwissenschaften annähern, in ihrer empirischen Orientierung experimenteller und in ihrer theoretischen Ausrichtung formaler werden».
Die Netzwerke dieser Experten mussten vor allem gegen die philosophisch und historisch ausgerichtete europäische Tradition ankämpfen. Sie treiben ihre Entpolitisierung voran und garantieren so die zweifelsfreie axiomatische Neutralität des wissenschaftlichen Diskurses, um diesen zu einer einfachen Technik zu reduzieren. Eine Neutralität, die der grosse Historiker Johann Gustav Droysen als «Eunuchen-Neutralität» bezeichnete.
Die grossen Handlungsgehilfen des Staates überlassen ihren Platz einer reformistischen und «progessistischen» Expertenelite, die im Dienste des entmenschlichenden Systems des Industrie- und Finanzkapitalismus steht. Diese Verquickung des Öffentlichen und des Privaten verstellt jegliche Voraussetzungen für die Befreiung der Politik. Dies geht bis zur wirtschaftlichen und sozialen Hilfe für die Ärmsten. Sie verwandeln unter dem Einfluss der «Social Impact Bonds» oder des «Sozialen Wirkungskredits» den Geist der nationalen Solidarität in eine lukrative Investition.8
Offen ist, ob die Gesellschaft noch fähig ist zu reagieren oder ob die «Schattenelite» der Think-tank-Experten es schon geschafft hat, jede Art von intellektuellem Widerstand zu neutralisieren. Zurzeit ist die Links-Rechts-Opposition beschäftigt mit einem Taubstummen-Dialog über zwei verschiedene Weltanschauungen: Einerseits eine transhumanistische Metaphysik einer Cyber-Zukunft (der Roboter-Mensch wird von Experten regiert) und andererseits einem politisch noch schlecht artikulierten Wunsch nach Freiheit und Brüderlichkeit, für den «die Vielfältigkeit der Menschen das Gesetz der Erde ist». (Hannah Arendt).    •

1    Anders, Günter. Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1987, S. 7 (L’Obsolescence de l’homme. Sur l’âme à l’époque de la deuxième révolution industrielle [1956], Paris, Ivrea, 2001, p. 22.)
2    Gori, Roland. «‹En même temps›, ou le grand écart du nouveau président», Libération, le 23 juillet 2017; «De quoi ‹En même temps› est-il le symptôme», Le Media, 30 janvier 2018
3    Dehaene, Stanislas. L’invité-actu par Caroline Broué, France Culture, le 13 janvier 2018
4    Dehaene, Stanislas. France Culture, ibid.
5    Gori, Roland. «Dans le monde du travail, le spectre de Taylor rôde encore», Libération, le 10 mai 2016 [Als Taylorismus bezeichnet man das vom US-Amerikaner Frederick Wisnlow Taylor (1856–195) begründete Prinzip einer Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen. Anm. d. Übers.]
6    Damit ist zum Beispiel der Umbau der Erziehungs- und Sozialarbeit aufgrund der Auswirkungen der «Social Impact Bonds», auf Deutsch «Soziale Wirkungskredite», gemeint. [s. Fussnote 8]
7    Anguelova, Dostena. Les Experts de la tradition, 2010, Iztok Zapad, Sofia; Dostena Anguelova, Think tanks: imposteurs de la démocratie, CS éditions Paris, coll. Exote, 2018
8    Alix, Jean-Sébastien; Coutinet, Michel Nathalie et Garrigue, Gabrielle. «Les contrats à impact social: une menace pour la solidarité?», la vie des idées.fr www.laviedesidees.fr, le 16 janvier 2018   [Der «Soziale Wirkungskredit» oder auch «Social Impact Bond» ist ein Politik- nd Finanzierungsinstrument, bei dem soziale Dienstleistungen der öffentlichen Hand privat vorfinanziert und im Erfolgsfall von ihr rückvergütet weden. Hierzu bilden öffentliche Verwaltung, private Vorfinanzierer und Sozialdienstleister eine Wirkungspartnerschaft, die von einem Intermediär gemanagt und von einem Gutachter evaluiert wird. Die Rükzahlung hängt vom Erfolg der sozialen Massnahme ab. Anm. d. Übers.]

Quelle: <link https: www.politis.fr articles les-think-tanks-sinstallent-au-coeur-de-letat-38308>www.politis.fr/articles/2018/02/les-think-tanks-sinstallent-au-coeur-de-letat-38308 vom 4.2.18

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Menschliche Bildung und Gemeinschaft stärken oder Machtstrategien und neoliberale Wirtschaft festigen?

jpv./rmh. Jean-Michel Blanquer, Erziehungsminister der französischen Regierung von Emmanuel Macron, hat seit der Übernahme seines Amtes bereits einige Neuerungen für das französische Schulsystem angekündigt, die den «Reformen» seiner sozialistischen Vorgängerin Najat Vallaud-Belkacem (2014–2017) zuwiderlaufen. Gemäss Blanquer werden die französischen Schulkinder wieder vermehrt die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. In der Grundschule werden Diktate, Grammatik, Fabeln von La Fontaine, Singen, Lateinunterricht und bilinguale Klassen wieder eingeführt. Weiter sind die Einführung von Schuluniformen und Handyverbot im Gespräch. Namen wie Montaigne und Montessori, Begriffe wie Humanismus und Nation sind Konstanten in den Stellungnahmen des Ministers. Im Pariser Ministerium habe er sogar einen Raum nach Albert Camus' Grundschullehrer benannt: Louis Germain. Ein Teil der gegenüber den Schulreformen der vorherigen Regierung sehr kritisch eingestellten pädagogisch engagierten Lehrerschaft erhofft sich von diesen Plänen ihres neuen Erziehungsministers viel Positives für den Unterricht ihrer Schülerinnen und Schüler.
Jean-Michel Blanquer steht jedoch – wie auch Präsident Macron – den grössten börsenkotierten Unternehmen Frankreichs (CAC 40) nahe. Sein Wunsch ist es, die Schule näher an die Unternehmen heranzuführen. Er setzt sich unter anderem dafür ein, dass Vertreter der grossen Unternehmen in den Verwaltungsgremien der Berufsgymnasien sitzen und dass die Schulen weitgehend autonom, wie Unternehmen geführt werden von einem Chef, der sich seine Mitarbeiter selbständig aussuchen und somit das Schulprofil bestimmen kann.
Blanquers 2016 erschienenes Buch «Die Schule von morgen» («L'école de demain»)* liest sich wie ein für den (zukünftigen) Präsidenten Macron vorbereitetes Regierungsprogramm, erarbeitet vom neoliberalen Think tank «Institut Montaigne»: Das Schulsystem müsse sich auf drei Pfeiler stützen: Erfahrung, internationaler Vergleich und Wissenschaft.
Der Bereich der Wissenschaft hat dabei eine grosse Bedeutung: Die digitale Revolution und die Kognitionswissenschaften seien entscheidend für eine maximale Effizienz des Unterrichts, und sie könnten dem menschlichen Gehirn mit seinem enormen Potential zu optimaler Leistung verhelfen. Von der Bedeutung der Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler für den Lernerfolg ist nirgends die Rede.
OECD-Richtlinien, PISA-Evaluationen, Bologna-System sind weitere wichtige Referenzpunkte. Neurowissenschaften, Kompetenzen, Autonomie, Innovation, Experimente und Evaluation sind zentrale Schlüsselwörter.
Der Aufbau des Buches «Die Schule von morgen» ist systematisch und behandelt die einzelnen Schultypen nach drei Kriterien: Was lehrt die Erfahrung? Was sagt der internationale Vergleich? Was sagt die Wissenschaft? – Darauf folgt: Was ist zu tun? Es folgen Schlüsselmassnahmen für jeden Schultyp. Das Schulsystem und die Lehrerlaufbahn werden anschliessend anhand der gleichen Kriterien analysiert.
In der «Ecole maternelle», der Grundstufe für die 3- bis 6-jährigen Kinder, sollen Tests möglichst früh eingesetzt werden, um die Schwächen und Stärken der Kinder herauszufinden, um den speziell Talentierten mit Zukunftsaussichten eine «hervorragende» Laufbahn  zu ermöglichen.
Kritische Zeitgenossen und engagierte, im Schuldienst tätige Pädagogen fragen sich nun, wie weit es mit pädagogischen und schülergerechten Positionen beim neuen Erziehungsminister Macrons her ist. Welche Ziele verfolgt die «sowohl als auch»-Strategie?

* Jean-Michel Blanquer, «L'école de demain. Propositions pour une éducation nationale rénovée.» Paris 2016

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