Leistungsdruck und Begabtenauslese statt Kindergarten?

Leistungsdruck und Begabtenauslese statt Kindergarten?

von Felice Pensatore

Der Kindergarten ist eine wichtige Errungenschaft unseres Bildungssystems. Ohne verfrühten Leistungsdruck können die Kinder in Ruhe lernen, sich in einer Gruppe von Gleichaltrigen zurechtzufinden, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitern und festigen und sich spielerisch das Rüstzeug aneignen und die nötigen Reifeschritte machen, die sie brauchen, um später in der Schule Erfolg zu haben. Diese Errungenschaft der modernen Pädagogik wird heute von verschiedenen Seiten in Frage gestellt und soll einer leistungsorientierten Vorschule weichen. Wenn auch nicht so benannt, ist sie Teil des Lehrplans 21. Das geschah nicht von heute auf morgen, sondern ist ein bereits von langer Hand geplanter, die demokratischen Gepflogenheiten missachtender Umwälzungsprozess.

Ein interessanter Fund

So ein Büchergestell ist eine Schatztruhe. Plötzlich entdeckt man etwas vor langem Gelesenes und denkt: «Interessant, das hat man also schon damals diskutiert!» So erging es mir vor kurzem mit einer Broschüre mit dem Titel: «Der Anfang vom Ende der Volksschule. Eine kritische Analyse zur Auflösung des Kindergartens im neuen Volksschulgesetz», erschienen vor bald zwanzig Jahren, nämlich im Jahr 2000.1 Es war tatsächlich wieder einmal ein «Goldschatz», wie ich beim Blättern feststellte. Schon das Vorwort war aufschlussreich, verfasst von einem langjährigen, engagierten Schulpflegepräsidenten der Stadt Zürich. Er stellte in seinem Vorwort fest, wie unter der Ägide des damaligen Bildungsdirektors Buschor eine Bildungsreform eingeleitet wurde, die gekennzeichnet sei von einer straffen und eingleisigen Hierarchisierung des Bildungswesens, wie es zum Fahrplan der wirtschaftlichen Globalisierung gehöre. Buschor als ehemaliger Dozent für Finanzwirtschaft an der Hochschule St. Gallen sei offensichtlich vom Erfolg der Globalisierung vollkommen überzeugt und habe diese Tendenz mit grosser Energie auch im Bildungswesen verfolgt. Der «Sonderfall Schweiz» jedoch zeichne sich aus durch seine demokratischen Strukturen und die Möglichkeiten der Mitsprache des Volkes. Das würde schleichend abgebaut.

Demokratieabbau als Durchsetzungsstrategie

Seine Beobachtung traf zu. «Professionalisierung» wurde fortan zum neuen Modewort, um Veränderungen in unseren Schulen durchzudrücken. Unter diesem Motto wurden im Kanton Zürich die Bezirksschulpflegen als vom Volk gewählte Behörde abgeschafft, und statt dessen wird seither versucht, die Schulen durch eine aufgeblasene Fachstelle für Schulbeurteilung mit riesigem Administrationsaufwand auf Linie zu bringen; der Hausvorstand als Primus inter pares der Schulteams wurde durch einen Schulleiter ersetzt, der in den Schulen Firmenstrukturen und eine klare Hierarchie einführen sollte; die Milizschulpflegen wurden durch die Einführung von Schulleitern zur Abnickbehörde degradiert; die Schulsynode und die Lehrerkapitel als Mitspracheorgane der Lehrerschaft durch ein blutleeres Delegiertensystem ersetzt und schliesslich der Kindergarten aus den Händen der Gemeinde genommen und neu als Teil der Volkschule kantonalisiert.2 Damit war ein wichtiger strategischer Schritt vollzogen: Der Kindergarten sollte Teil der Volksschule werden, um damit die Möglichkeit zu haben, die geplanten Schulreformen bis zu unseren Jüngsten durchzuziehen.

Von langer Hand geplant

Eingeleitet wurde die Auflösung des Kindergartens in seiner bisherigen Form bereits 1994, als eine gesamtschweizerische Studiengruppe von der EDK (Erziehungsdirektorenkonferenz) den Auftrag erhielt, «Perspektiven zum Auftrag des öffentlichen Bildungswesens betreffend die Bildung und Erziehung der vier- bis achtjährigen Kinder zu umreissen».3 Nach drei Jahren, 1997, erschien dann ein entsprechendes Dossier. Geplant wurde nun eine sogenannte Basisstufe; im Kanton Zürich wurde sie Grundstufe genannt. Sie sollte altersdurchmischt den Kindergarten und die ersten beiden Schulstufen umfassen.4 Worthülsenreich versucht der Bericht den Leser dahin zu führen, wohin er ihn haben will: Die Basisstufe sei genau das richtige für unsere Kleinsten! Wohlgemerkt: Sie umfasst die gleiche Altersspanne wie der Zyklus 1 des Lehrplans 21! Die Frage war, wie man das Volk dazu bringen konnte, diesem Projekt – der De-facto-Abschaffung des Kindergartens – zuzustimmen. Denn Anton Strittmatter, damals führender Stratege bei den Umstrukturierungen im Gesundheits- und Schulwesen (ab 2006 Mitglied der sechsköpfigen Projektgruppe «Grundlagen für den Lehrplan 21»), bescheinigte der Einführung der Grund- bzw. Basisstufe einen «revolutionären Gehalt» und bezeichnet die darin angestrebten Änderungen als «Forderungen, welche fast alles auf den Kopf stellen».
Gelegenheit bot sich im Kanton Zürich, als ein neues Volksschulgesetz anstand. So konnte man den geplanten Umbau der Volksschule – dazu gehörte die Abschaffung des bisherigen Kindergartens – in ein Gesamtpaket einbauen. Das geschah in der Hoffnung, dass sie so durchflutschen würde, ohne gross bemerkt zu werden. Man erweiterte die Abstimmungsvorlage neben der Grundstufe durch einen sogenannten «Kindergarten+», der durch seine Namensgebung die positiven Zuschreibungen des im Volk sehr beliebten und verankerten Kindergartens mit sich bringen sollte. Bei genauerem Hinsehen war der «Kindergarten+» aber nur eine Variante der Grundstufe und ein bildungspolitischer Schachzug, um diese letztlich durchzudrücken. Aber die Rechnung war ohne die mündigen Staatsbürgerinnen und Bürger gemacht worden. In diesem Zusammenhang schrieben engagierte Kindergärtnerinnen meinen zu Beginn erwähnten wiedergefundenen «Goldschatz». Es wird darin die Bedeutung des Kindergartens und der Kindergärtnerin als Vertrauensperson für das Kind dargelegt. Die Analyse sei jedem zur Lektüre empfohlen!

Volksvertreter, die den Willen des Volkes nicht vertreten

Im Jahre 2002 kam das Volksschulgesetz zur Abstimmung und wurde zum grossen Entsetzen der Bildungsobrigkeiten abgelehnt. Grund war, wie Analysen zeigten, die in der Vorlage geplante Aufhebung des Kindergartens. Ein zweiter Anlauf wurde gestartet – diesmal wohlweislich ohne Grundstufe. Bei der Volksabstimmung 2005 stimmte das Volk schliesslich zu; der Kindergarten schien nicht mehr bedroht. Aber die Strategen in ­Politik und Wirtschaft liessen keine Ruhe, man wollte den Zugriff auf die Jüngsten und das Schulsystem umkrempeln. Auf dem Verordnungsweg wurden Grundstufenversuche lanciert, über die nach sieben Jahren abgestimmt werden sollte. Auch hier waren die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger klar in ihren Überlegungen. Sie versenkten am 25. November 2012 die Grundstufe und die Versuche mit 71 %. Man würde denken, dass spätestens jetzt die Classe politique zur Vernunft gekommen wäre und beschämt den Rückzug angetreten hätte oder vielleicht sogar von ihren Ämtern zurückgetreten wäre. Immerhin waren sie vom Volk gewählte Vertreter, die dessen Willen zu vertreten haben … Aber schon stand ein neuer Schachzug bevor.

Druck durch neue Aus- und Weiterbildungsideologien

Die Kindergärtnerinnen sollten durch die neue Ausrichtung in der Ausbildung, durch Weiterbildungen, Mitarbeiterbeurteilungen und die Aussicht, endlich den Lehrern und Lehrerinnen der Volksschule gleichgestellt zu sein, schleichend auf Kurs gebracht werden. So hielten allmählich Wochenpläne, Werkstätten, Portfolios und neue Lernformen in den Kindergärten Einzug, insbesondere bei den frischgebackenen Abgängerinnen der Pädagogischen Hochschulen. Freiwillig – man könnte auch sagen, in vorauseilendem Gehorsam oder aus Angst, «ewiggestrig» zu sein – begannen viele Kindergärtnerinnen, Lehrmittel für Deutsch und Mathematik anzuschaffen und individualisiert einzusetzen, Arbeitsblätter in Ordnern zu sammeln, die je nach Kind unterschiedlich dick ausfallen können. In Weiterbildungen werden die Kindergärtnerinnen in individualisierenden Lernformen ausgebildet und dazu angehalten, ihren Kindergarten daran auszurichten. Und so ist der Kindergarten leider bereits heute daran, allmählich zur Vorschule zu mutieren, wie wir sie aus den angelsächsischen Ländern kennen. Schon die Kleinen werden auf diese Weise Konkurrenz- und Leistungsdruck ausgesetzt. Den Vogel schoss der Kanton Basel-Stadt ab.5 Die Kindergärtnerinnen wurden beauftragt, in einem Fragebogen die standardisierten Beurteilungspunkte auszufüllen oder anzukreuzen und damit zu beurteilen, ob ein Kind «hohe Anforderungen erreicht», «Grundanforderungen gut erreicht», «Grundanforderungen erreicht» bis «Grundanforderungen nicht erreicht».6 Also – wenn auch etwas verschleiert – bereits Noten für unsere Kleinsten? Beobachten und Beurteilen statt Beziehungsaufbau, Einführung in die Gruppe der Gleichaltrigen, Anleitung und Förderung? Die Kindergärtnerinnen wurden gedrängt, den Schwerpunkt ihrer Arbeit aufs Beobachten und Beurteilen zu legen, und die Eltern aufgefordert, sich mit der Beurteilung zu konfrontieren. Soll dieses Beispiel Standard werden? Chancengleichheit ade! Genau das, was die Stimmbevölkerung nicht wollte!

Lehrplan 21 – ohne Kindergarten als eigenständige Schulstufe

Ein zweiter Schachzug wurde 2006 nach der Annahme des Bildungsartikels auf eidgenössischer Ebene lanciert. Das Abstimmungsergebnis wurde von der Bildungsobrigkeit zum Freipass genommen, in der Schweiz die schon längst geplanten Reformen – einen von der OECD diktierten, völlig neuen kompetenz­orientierten Lehrplan – durchzudrücken, mit dem unser Bildungssystem nach angloamerikanischem Modell umgebaut werden soll. Dazu hatte die Stimmbevölkerung nicht ja gesagt! Erneut soll, diesmal mit dem Zyklus im Lehrplan 21, der Kindergarten als eigenständige Stufe abgeschafft werden, was im Kanton Zürich vom Volk mit einer Deutlichkeit sondergleichen bereits mehrfach abgelehnt wurde!

Der Kindergarten als Ort der Menschenbildung

Mit Recht, denn wer den von mir wiedergefundenen «Goldschatz» liest, kann empfinden, welch wichtige Bedeutung der Kindergarten als Vorbereitung auf einen erfolgreichen Schulweg hat. In der vertrauten Gemeinschaft von Gleichaltrigen können die Kinder die dafür nötigen Reifeschritte machen. Die Kindergärtnerin – oft die erste ausserfamiliäre Vertrauensperson – unterstützt die Arbeit der Eltern und gleicht da nachteilige Situationen aus, wo es nötig ist. Das ist echte Chancengerechtigkeit! Angeleitet durch die Kindergärtnerin erwerben und erweitern die Kinder spielerisch ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten als Basis für das Erlernen der Kulturtechniken. Im Spiel setzt das Kind sich mit seiner inneren und äusseren Welt auseinander, entfaltet seine Intelligenz, seine Fantasie ebenso, wie es seine Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konfliktfähigkeit ausbaut. Interessiert sich ein Kind bereits für Buchstaben und Zahlen, wird es auch da gefördert. Die Kindergärtnerin unterstützt die Kinder darin, selbständiger zu werden und altersgemäss Verantwortung zu übernehmen. So entwickeln die Kinder in einem ganzheitlichen Sinne ihre emotionalen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten, und der Kindergarten wird zum Ort der Gemütsbildung und Menschwerdung. Wer sollte da etwas dagegen haben?     •

1    Komitee für eine demokratische Volksschule (Hrsg.). Der Anfang vom Ende der Volksschule. Eine kritische Analyse zur Auflösung des Kindergartens im neuen Volksschulgesetz. August 2000
2    vgl. Komitee für eine demokratische Volksschule (Hrsg.). Der Anfang vom Ende der Volksschule. Eine kritische Analyse zur Auflösung des Kindergartens im neuen Volksschulgesetz. August 2000, S. 1
3    Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) (Hrsg.). Bildung und Erziehung der vier- bis achtjährigen Kinder in der Schweiz. Dossier 48 A, Bern 1997, S. 5
4    Die Grundstufe, wie sie Ernst Buschor für den Kanton Zürich vorsah, umfasste drei Jahre.
5    Auch im Kanton Baselland versuchte man, die Kindergartenjahre in «erste Primarschule» umzubenennen, was sich allerdings nicht durchsetzen liess. Man blieb bei der Bezeichnung Kindergarten, auch wenn die Teilnahme jetzt überall obligatorisch ist.
6    Zum Beispiel: «kann Frustrationen aushalten», «hat ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhalten», «kann natürliche Phänomene angeleitet erforschen und erklären», «kann flexibel zählen». Dutzende derartiger Beschreibungen müssen auf einer Viererskala angekreuzt und bewertet werden. Diese triviale Klassifizierung sollte Grundlage für die obligatorischen Elterngespräche sein, um schriftliche Vereinbarungen zu treffen, wie die Kinder von Schule und Eltern individuell gefördert werden sollten.

«Unsere direkte Demokratie lebt aber von der Teilnahme aller Bürger, die in voller Verantwortung und Rücksichtnahme auf die Schwächeren sich einsetzen. Soll nun durch eine unnötige Schulreform der Kindergarten als Ort mitmenschlicher Entwicklung der Kinder in Frage gestellt werden?»

Alfred Bohren, ehemaliger Kantonsrat und vollamtlicher Schulpräsident. In: Komitee für eine demokratische Volksschule (Hrsg.). Der Anfang vom Ende der Volksschule. Eine kritische Analyse zur Auflösung des Kindergartens im neuen Volksschulgesetz. August 2000, S.2

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