Warum ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU beim Schweizer Souverän kaum Chancen hat

Warum ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU beim Schweizer Souverän kaum Chancen hat

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Kein Wunder, schiebt es der Bundesrat seit Jahren hinaus, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken über das ominöse Rahmenabkommen mit Brüssel. Denn sobald konkrete Informationshäppchen durchsickern, wird deutlich: Die Verpflichtung der Schweiz zur Übernahme von EU-Gesetzen würde derart viele heikle Rechtsgebiete – und damit praktisch alle Interessengruppen – betreffen, dass ein Nein des Souveräns in der Referendumsabstimmung sicher wäre. Dies bestätigt der Bundesrat implizit in seiner Medienmitteilung vom 21.2.2018: «Die Normalisierung der Beziehungen mit der EU ist im Berichtsjahr Stückwerk geblieben. Es bleibt das strategische Ziel des Bundesrates, den bilateralen Weg langfristig zu sichern. […] In bezug auf die Klärung der institutionellen Fragen ist eine nüchterne Diskussion von Nutzen und Kosten eines entsprechenden Abkommens gefordert, die wirtschaftliche, aussenpolitische und staatspolitische Aspekte miteinbezieht.»1
Vor kurzem äusserte nun der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) seinen Widerstand gegen aufgezwungenes EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Denn das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) wurde von den Gewerkschaften 1999 nur unter der Bedingung akzeptiert, dass es mit wirksamen flankierenden Massnahmen zum Arbeitnehmerschutz verbunden würde. Die Personenfreizügigkeit gehört aber zu den Rechtsbereichen, in denen Brüssel die Regelungs- und Deutungshoheit beansprucht. Da der EuGH gemäss SGB-Chefökonom Daniel Lampart in den letzten Jahren mehrmals gegen den Arbeitnehmerschutz entschieden hat, will der SGB den Entscheid über die Zulässigkeit der flankierenden Massnahmen in der Schweiz auf keinen Fall dem obersten EU-Gericht überlassen.

Die flankierenden Massnahmen zum FZA gelten seit dem 1. Juni 2004 und beinhalten im wesentlichen ein Entsendegesetz, das ausländische Arbeitgeber zur Einhaltung von minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen gemäss den anwendbaren schweizerischen Vorschriften verpflichtet. Insbesondere ist der Schutz vor Lohndumping für die in der Schweiz lebenden Arbeitnehmer von zentraler Bedeutung. Zur Durchsetzung dienen häufige Kontrollen, vor allem im Gast- und Baugewerbe, Sanktionen gegen Arbeitgeber, die gegen zwingende Vorschriften verstossen sowie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen für die entsprechenden Branchen.2

Selbständige Dienstleistungsanbieter als Umgehungstrick

Erinnern Sie sich an die bescheidenen kleinen Autos mit ausländischer Nummer und Aufschriften wie «Elektroinstallateur-Dienstleistungen» oder «Malerarbeiten», die nach dem Sommer 2004 in Schweizer Städten auftauchten? Wer seine Arbeit als selbständiger Unternehmer anbietet, braucht sich nämlich weder an Höchstarbeitszeiten noch an ein Minimalhonorar zu halten. Dies nutzten Firmen und Einzelpersonen, um kurzfristig in die Schweiz einzureisen und ihre Dienste zu Dumpingpreisen anzubieten. Bis die staatlichen Kontrolleure auftauchten, waren sie bereits wieder verschwunden.
Einige Grenzkantone griffen daraufhin zu Gegenmassnahmen. Sie verlangten eine vorherige Anmeldung bei den kantonalen Behörden und den Nachweis, dass es sich tatsächlich um eine selbständige Unternehmung handle. Gegen diese zum Schutz der inländischen Arbeitnehmer unumgängliche und wirklich sehr milde Massnahme protestierte Brüssel umgehend, dies sei eine Verletzung des Freizügigkeitsabkommens. Laut Tagespresse liegt dieser Streit seit Jahren im Gemischten Ausschuss zum FZA. («St. Galler Tagblatt» vom 21.2.2018) Trotzdem setzte sich diese Praxis in der Schweiz durch und wurde vom Bund inzwischen zur Regel erklärt. So verlangt das Staatssekretariat für Migration (SEM) in seinem Meldeverfahren für Kurzaufenthalter: «Selbständigerwerbende Dienstleistungserbringer müssen gegenüber den Kontrollorganen auf deren Verlangen hin den Nachweis ihrer Selbständigkeit erbringen. […] Die Meldung hat spätestens 8 Tage vor Beginn der Erwerbstätigkeit zu erfolgen.»3
Verständlicherweise steht für die Gewerk­schaften diese Voranmeldepflicht nicht zur Disposition, weil ohne sie die hiesigen Arbeitsbedingungen gegenüber den ausländischen Firmen nicht durchgesetzt werden könnten.

SGB-Chefökonom Daniel Lampart: Die Schweiz braucht weder ein Rahmen- noch ein Stromabkommen

In einem Interview mit «Blick»-Publizist René Lüchinger spricht Daniel Lampart, Sekretariatsleiter und Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Klartext: «Aus unserer Sicht ist das Rahmenabkommen nichts, was die Schweiz haben müsste. Es ist die EU-Kommission, die das will und weniger die Mitgliedsstaaten. Aus ökonomischer Sicht besteht für uns kein dringender Handlungsbedarf.»4 Eine bemerkenswerte Stellungnahme – versucht doch der Bundesrat mit seiner Verhandlungsmannschaft seit Jahren den Bürgern weiszumachen, ein Rahmenabkommen mit der EU sei für die Schweizer Wirtschaft alternativlos. Dass die EU-Kommission darauf drängt, die Schweiz mit einem alle bilateralen Beziehungen umfassenden Steuerungs- und Kontrollinstrument in ihr monumentales Regelwerk und ihre Rechtsprechung einzubinden, versteht sich von selbst.
Der SGB ist eine der massgebenden Schweizer Interessengruppen, die eine solche Einbindung nicht wollen. Als verantwortlicher Ökonom des Verbandes verfolgt Daniel Lampart die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und hält fest, dass dieser in den letzten Jahren verschiedentlich gegen den Arbeitnehmerschutz entschieden habe. Die rechtliche Beurteilung der flankierenden Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen will der SGB deshalb auf keinen Fall dem EuGH überlassen. Der SGB habe bereits beim Beschluss des Verhandlungsmandats vom Bundesrat gefordert, die flankierenden Massnahmen von den Verhandlungen auszuklammern, was dieser damals auch zugesagt habe.
Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass die EU-Spitzen sich darauf einlassen, ganze Rechtsbereiche wie die flankierenden Mass­nahmen der Schweizer Rechtsetzung und Rechtsprechung zu überlassen, stellen sie sich doch, wie bereits erwähnt, schon gegen Bagatell-Massnahmen wie eine Anmeldefrist für selbständige Dienstleister.
Im Gegensatz zu Bundesrätin Doris Leuthard, Chefin des UVEK (Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation), hält der SGB auch ein Stromabkommen mit der EU nicht für alternativlos: «Ein Stromabkommen als Gegenleistung für ein Rahmenabkommen ist für uns sicher kein Thema. Das wäre mit einer vollen Strommarktöffnung im Inland verbunden, was wir ablehnen.» (siehe dazu Kasten «Kommentar: SGB gegen Strommarktöffnung») Die von Leuthard schon vor Jahren in die Welt gesetzte Konstruktion, der nächste bilaterale Vertrag, den die Schweiz dringend benötige, sei das Stromabkommen, und dieses sei nur in Verbindung mit dem Rahmenabkommen zu haben, löst sich damit in Luft auf.

Kaum ein europäisches Land ist so offen für ausländische Unternehmen und Arbeitskräfte wie die Schweiz

Daniel Lampart wendet sich entschieden gegen den Druck, den Zugang auf Arbeit in der Schweiz für Anbieter aus der EU noch weiter zu vereinfachen, und bestätigt damit implizit, dass auch das Freizügigkeitsabkommen in allererster Linie von Vorteil für die EU ist: «Schon heute kommen viele ausländische Firmen in die Schweiz, um hier Dienstleistungen zu erbringen. Umgekehrt ist es kaum der Fall. Gemessen an der Bevölkerung existiert ausser Luxemburg kein Land in Europa, welches für Unternehmen aus dem Ausland so offen ist wie die Schweiz.»
Zu ergänzen ist: Nicht nur für Unternehmen ist die Schweiz offen wie kein anderes europäisches Land, sondern auch für einen enormen Zustrom einzelner Arbeitswilliger aus dem EU-Raum. Deshalb der Entscheid des Souveräns vor vier Jahren für eine Steuerung der Zuwanderung durch den Bund. Auf deren verfassungsmässige Umsetzung hat die Bundesversammlung bekanntlich nach massivem Druck aus Brüssel faktisch verzichtet.

EU-Turbos in der Bundesverwaltung als Gehilfen der EU-Kommission

Warum wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Schweizer Verhandlungsführer gegenüber Brüssel die Interessen von Land und Bevölkerung, also auch die berechtigten Anliegen der Arbeitnehmerorganisationen, vertreten, erklärt Daniel Lampart so: «Es gibt sogar Leute, etwa in der Bundesverwaltung, die einen Teil der flankierenden Massnahmen preisgeben würden, wenn sie dafür ihr Rahmenabkommen heimtragen und diesen Pokal in die Vitrine stellen könnten […]. Es sind die, die mit der EU-Kommission möglichst wenig Konflikte wollen und deshalb das Rahmenabkommen ansteuern.»
Wie in Zeit-Fragen bereits verschiedentlich festgehalten, sind es also hauptsächlich zwei Motive, welche die EU-Turbos in der Bundesverwaltung bewegen: Zum einen der persönliche Ehrgeiz, das Karrierestreben einzelner Beamter, die sich in Brüssel einen Namen machen und einen Platz in der Bürokratie-Blase sichern wollen. Zum anderen das Machtstreben der Exekutiven – leider zum Teil auch in der direktdemokratischen Schweiz –, denen der Drang der Schweizer Stimmberechtigten, über wichtige Fragen an der Urne entscheiden zu wollen, ausgesprochen lästig ist. Mit einem Rahmenabkommen, und erst recht mit dem von einem Teil der Bundesverwaltung angestrebten EU-Beitritt der Schweiz würden deren Einfluss und Macht noch mehr zunehmen. Wir Schweizerinnen und Schweizer wollen und können dem auf direktdemokratischem Weg entgegenwirken.    •

1    Medienmitteilung des Bundesrates vom 21.2.2018 zur Verabschiedung seines Aussenpolitischen Berichtes
2    Schweizerische Eidgenossenschaft. Personenfreizügigkeit FZA. Flankierende Massnahmen
3    Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD. Staatssekretariat für Migration SEM. Meldeverfahren. Benutzerhandbuch. 6.3 Kurzaufenthalte melden für selbständige Dienstleistungserbringer, S. 34/35
4    Lüchinger, René. «Wir brauchen kein Rahmenabkommen!» Interview mit SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Blick vom 20.1.2018

Welches EU-Recht für die Schweiz? Ein Beispiel

mw. Laut Tagespresse hat die Diskussion über den Anwendungsbereich der «dynamischen Rechtsübernahme» noch gar nicht recht begonnen. Damit ist gemeint, dass die Schweiz in den mit Brüssel vereinbarten Bereichen auch künftiges, heute noch nicht bekanntes EU-Recht übernehmen müsste. Tatsächlich eröffnet sich hier ein weites Feld offener Fragen, worüber die Bürger lückenlos informiert werden wollen.

«Rote Linie»: Unionsbürgerrichtlinie

Allein im Bereich des Freizügigkeitsabkommens (FZA) gibt es Meinungsverschiedenheiten grösseren Ausmasses. So ist die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EU für die EU Teil der Personenfreizügigkeit. Für die Schweiz dagegen hat der Bundesrat sie schon vor Jahren als «rote Linie» im Zusammenhang mit dem institutionellen Abkommen erklärt. Gemäss dieser Richtlinie könnten zum Beispiel ohne vorherige Erwerbstätigkeit im Gastland Sozialleistungen bezogen werden. Oder Grenzgänger sollen künftig nicht mehr wie bisher in ihrem Wohnstaat Arbeitslosengelder beziehen, sondern in dem Staat, wo sie zuletzt gearbeitet haben.1 Für die Schweiz mit ihren mehr als 300 000 Grenzgängern würde allein diese letztgenannte Regelung Mehrkosten von mehreren hundert Millionen Franken bedeuten. («St. Galler Tagblatt» vom 21.2.2018)
Die für die Schweiz zuständigen EU-Unterhändler, Richard Szotak und Martin Selmayr, zwei enge Mitarbeiter von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, werden allein schon in dieser Frage – Anwendbarkeit der Unionsbürgerrichtlinie ja oder nein – vermutlich nicht derselben Meinung sein wie der Bundesrat.

1    Prof. Dr. Christa Tobler, Universität Basel und Leiden. Auswirkungen einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz. Personenfreizügigkeit und Zugang zu staatlichen Leistungen. 6. Mai 2014, Universität Fribourg.

Kommentar: SGB gegen Strommarktliberalisierung

mw. Es ist erfreulich, dass der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) konsequent bei seinem Widerstand gegen die Strommarktliberalisierung bleibt. Bereits vor mehr als 15 Jahren war es der SGB, der das Referendum gegen das Elektrizitätsmarkt-Gesetz ergriff, welches die Schweizer Wasserkraft dem freien Wettbewerb aussetzen und damit den Weg für ein Stromabkommen mit der EU bahnen wollte. Dieses Ansinnen wurde vom Souverän am 22.9.2002 mit 52,6 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Wenige Jahre später stimmten Bundesrat und Parlamentsmehrheit entgegen diesem Volksentscheid einer ähnlichen Vorlage zu, welche die Markt­öffnung auf die Unternehmungen beschränkte. Ein zweites Referendum zu ergreifen, hatte nach dieser eklatanten Umgehung des Volkswillens niemand den Schwung. Die Folge davon sehen wir heute: Viele Schweizer Unternehmen kaufen ihren Strom im Ausland ein, weil er billiger ist, was unsere Wasserkraftwerke an den Rand ihrer Existenzfähigkeit drängt. Die Kreise, die zum Stromabkommen mit der EU drängen, nehmen in Kauf, dass wir unseren hohen Selbstversorgungsgrad opfern und gezwungen sein werden, Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Deutschland zu kaufen. Der Stimme des SGB kommt hier grosse Bedeutung zu. 

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