Ein neues Kapitel Kabis-Geschichte

Ein neues Kapitel Kabis-Geschichte

Sauerkraut-Revival dank innovativer Idee

von Heini Hofmann, ehemaliger Zoo- und Zirkustierarzt, Wissenschaftspublizist

Alle singen das Hohelied auf naturnahe Regionalprodukte. Doch immer öfter verhallt es im Getöse der Produktionsmaximierung. So, wie viele konsumentennahe Dorfkäsereien vor den Grossmolkereien kapitulieren mussten, so sind – im bernischen «Chabisland» Gürbetal – nun auch die alteingesessenen dörflichen Sauerkrautfabriken von einem standortfernen Grossbetrieb geschluckt worden.

Doch erfreulicherweise blüht aus Ruinen immer wieder neues Leben. So hat sich als Gegentrend zu der vom Marktdruck diktierten Zentralisierung sowohl bei Milch und Käse als auch beim Bier im Nischenbereich erfolgreich Neues etabliert; dasselbe geschieht nun beim Sauerkraut.

«Chabisland» Gürbetal

Gesamtschweizerisch produzieren heute etwa 200 Landwirte auf rund 100 Hektaren weit über eine Million Kohlköpfe, woraus rund 6000 Tonnen Einschneidkabis resultieren, der in ganz wenigen Betrieben zu etwa 3300 Tonnen Sauerkraut verarbeitet wird. Hauptanbaugebiet in der Schweiz für Weisskabis ist, mit rund 50 Prozent, das bernische Gürbetal, eingebettet zwischen Längen- und Belpberg, im Volksmund liebevoll «Chabisland» genannt. Weitere je knapp 25 Prozent werden im Berner Seeland und im Zürcher Oberland angebaut; der kleine Rest verteilt sich auf Baselland, Ostschweiz und Waadtland.
Früher kamen die Kabisköpfe vom Gürbetal auf die Berner Märkte; der älteste Hinweis findet sich bei Jeremias Gotthelf in seinen Kalendergeschichten von 1844: «Und die Kabinettsköpfe wachsen wie die Kabisköpfe im Thurnenmoos.» Doch bereits 1890 begann man, sie einzuschneiden und in Standen zu pressen, und 1917 organisierten sich die Gürbetaler Kabispflanzer genossenschaftlich. Doch der Preiskampf bescherte den traditionsreichen dörflichen Sauerkrautfabriken zunehmend Fusionen oder unfreundliche Übernahmen; dadurch mutierten genossenschaftliche Strukturen zu Monopolbetrieben.

Flucht nach vorne

So hat Jürg Trachsel-Balsiger, der langjährige engagierte Leiter der traditionsreichen «Surchruti» Thurnen, als durch Umstrukturierungen des Monopolisten samt Teilverlagerung der Produktion praktisch alle seine Mitarbeiter die Arbeit verloren, sich mit diesen solidarisiert. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, gründete er im Nachbardorf Burgistein – zusammen mit seiner Frau und den beiden Söhnen – mit viel Gespür für den Zeitgeist und unter Verzicht auf Protektion durch den Fachverband unter der Bezeichnung «Royal-Sauerkraut AG» einen Familienbetrieb im Bereich Nischenproduktion und brachte diesen in kürzester Zeit zur Blüte.
Dabei konnte er auf zwanzig Jahre eigenes Know-how und in bezug auf seine in Mühlethurnen heimatberechtigte Frau sogar auf die Erfahrung im Kabisanbau von drei Generationen aufbauen. Diese Vorfahren waren die Vorreiter bei der Gründung der einstigen Vorzeigegenossenschaft Sauerkrautfabrik Thurnen gewesen, weshalb sich der Anteilschein mit der Nummer eins – neben anderen – im Familienbesitz befand. Und er ging noch einen Schritt weiter, indem er die gesamte Wertschöpfung – Anbau, Verarbeitung und Vermarktung – im eigenen Betrieb vereinte, neue Nischenprodukte kreierte und eine bodenschonende Methode für den Kohlanbau einführte.

Geniale Anbautechnik

Jürg Trachsel begnügte sich nicht damit, in vorgespurten Karrengeleisen weiterzufahren. Er wollte nicht nur kreative neue Nischenprodukte erzeugen, sondern auch den Kohlanbau durch eine nachhaltige Methode revolutionieren. Das gelang ihm mittels der neuartigen Streifen-Frässaat-Technik, die bereits erfolgreich beim Mais, nicht aber beim Weisskohl angewendet worden ist. Statt vor der Bepflanzung den Boden flächendeckend zu strapazieren durch tiefes Umpflügen der vorbestandenen Kunstwiese mit anschliessendem Voreggen und Eggen, werden lediglich Pflanzstreifen ins Wiesland gefräst.
Dadurch reduzieren sich drei Arbeitsgänge mit dem Traktor auf einen, was weniger Dieselverbrauch und Schonung der Mikrolebewesen zur Folge hat, wodurch ein aktiver Boden resultiert, der sich schneller erwärmt und im Herbst bei der Ernte tragfähiger ist. Zudem verbessert sich die Nährstoff- und Kohlenstoffbilanz des Landwirtschaftsbetriebs. Ergo: Wenn über Jahre dank Frässaat auf tiefgründige Bodenbearbeitung verzichtet wird, führt dies zu nachhaltiger Verbesserung der Bodenstruktur mit weniger Erosion oder Verschlämmung, was sich in überdurchschnittlichen Erträgen der Folgekulturen niederschlägt. Win-win für Bauer und Boden!

Blau-violette Kulturen

Doch vor dem Ernten kommt das Pflanzen. So wie in der Wirtschaftsgeflügelhaltung, wo Hybrid- statt Rassehühner im Einsatz stehen, die Basisgeneration als Eintagsküken importiert wird, so stammen auch die Kabissetzlinge nicht aus einheimischer Zucht, sondern meistens aus Holland. Dort werden sie im Januar bestellt und treffen anfangs Mai zum Auspflanzen ein. Während rund einem Monat werden dann Früh- und Spät­sorten gesetzt, damit von Anfang August bis im Dezember Kabisköpfe erntereif sind und die Verarbeitung zu Sauerkraut gestaffelt erfolgen kann.
Welch spezieller Anblick, wenn im Herbst im Gürbetal, das nach dem gleichnamigen Fluss benannt ist, die blau-violetten Kabisfelder das Landschaftsbild prägen, eine für bäuerliche Kulturen ungewohnte Farbnuance! Kabis gehört zur Familie der Kreuzblütler und ist eine Kohlart. Weil die Kohlköpfe – im Gürbetal «Chabisgringe» genannt – im Schnitt ein stattliches Gewicht von 4 bis 7 Kilogramm erreichen, muss zwischen den einzelnen Setzlingen ein genügend grosser Abstand von rund einem halben Meter eingehalten werden. Deshalb sind Weisskohl-Kulturen bei starken Niederschlägen im Frühling besonders erosionsgefährdet; daher die neue Anbautechnik.

Ein uraltes Verfahren

Bei der Ernte, wenn «im Gürbetal die Köpfe rollen», ist heute noch Handarbeit angesagt. Dann gelangen per Traktor statt mit Pferdefuhrwerk wie früher die weissen Kugeln zur Verarbeitung in die «Surchruti». Hier wird ihnen, nach Entfernung letzter grüner Blätter, der Strunk ausgebohrt. Anschliessend werden sie maschinell in Streifen geschnitten. Diese Masse gelangt via Förderband in die Gärbottiche, wo der Kabis unter Beigabe von Kochsalz (etwa 1,5 %) gut verteilt und dann unter Luftabschluss und dem Gewicht eines Wasserbehälters gepresst wird. Nach einigen Tagen setzt die Milchsäuregärung (eine an­aerobe Fermentation) ein, und nach drei bis vier Wochen ist das Sauerkraut fertig.
Wie manch andere kulinarische Köstlichkeit, so beispielsweise Wein und Käse, wird auch Sauerkraut gemäss dem uralten, bewährten Prinzip «Veredeln durch dosiertes Verderben» erzeugt. Dabei verändern Enzyme und Mikroorganismen wie Hefepilze oder Milchsäurebakterien die Lebensmittel; mit Sauerstoff fermentieren sie, ohne ihn gären sie – wie eben das Sauerkraut – und werden dadurch haltbarer und geschmacklich interessanter. Aus 100 Kilogramm Kabis resultiert etwas mehr als die Hälfte Sauerkraut, das entweder roh oder gekocht in den Verkauf gelangt.

Der Kunde als König

Nicht nur das Produkt der «Chabisfamilie» Trachsel heisst «Royal», auch der Kunde ist hier König; denn im Familienbetrieb wird noch auf spezifische Kundenwünsche eingegangen. Neben den Standardartikeln Sauerkraut roh oder gekocht in 500 g-Beuteln bis 10 kg-Gebinden werden zudem Sauerkraut-Chargen nach Kundenrezept gekocht, für Grossmetzgereien oder den Traiteur beim Grossisten, auf Wunsch mit firmeneigener Etikettierung oder in eigenen Gebinden. Eine weitere Spezialität ist der Presskabis, der für Chabiswürste (Waadtländer-Spezialität «Saucisson choux») verwendet wird. 100 kg Kabis ergeben – nach Blanchieren und Pressen – 25 kg Trockenmasse. Parallel zum Sauerkraut sind natürlich auch Sauerrüben roh und gekocht im Angebot.
Aber auch kleine Individualwünsche werden erfüllt, da immer mehr Familien auf den Geschmack kommen, wieder selber Sauerkraut herzustellen. Jeden 2. Samstag im Oktober und November von 9.00 bis 11.00 Uhr können sie in Burgistein den «Imachet» miterleben, auf Wunsch kombiniert mit Apéro und Imbiss (www.royal-sauerkraut.ch). Dort können sie ganze Kabisköpfe oder den geschnittenen Kohl samt Gewürzen beziehen und zu Hause selber verarbeiten. Und notabene: Der Familienbetrieb Trachsel ist nicht nur Swiss-Garantie-zertifiziert, er führt auch noch eine Bio-Linie und profitiert zudem vom Naturpark-Label Region Gantrisch.

Im Trend der Zeit

Kurz: Dieser Stehaufbetrieb, der im Strudel der Zentralisierung den Mut zur Eigenständigkeit hatte und sich eine Marktnische erarbeitete, liegt ganz im Trend der Zeit. Wie dieser lautet, formulierte jüngst der CEO eines Schweizer Grossverteilers unüberhörbar deutlich: Wir wollen weg von der Globalisierung im Nahrungsbereich, die Nähe und das Vertraute wieder suchen!
Deshalb setzen Grossisten heute vermehrt statt auf anonymen industriellen Grosshandel auf kleinere Direktvermarkter, welche die gesamte Wertschöpfung kontrollierbar im gleichen Betrieb erbringen. Eine Entwicklung, die sich notabene kulinarisch bis auf den Teller positiv auswirkt.    •

Sauerkraut entspricht genau den heutigen Ernährungswünschen

HH. Eigentlich entspricht Sauerkraut genau den heutigen Ernährungswünschen: reich an Milchsäure, Mineralstoffen und Vitamin A,B,C (somit wichtiger Vitamin-C-Lieferant, der selbst Südfrüchte in den Schatten stellt), sehr kalorienarm, praktisch fettfrei, mit wenig Kohlehydraten und Protein, als Konservierungsmittel nur Salz enthaltend, ein preiswertes einheimisches Produkt, übers ganze Jahr verfügbar und denkbar einfach in der Zubereitung. Ergo: Sauerkraut ist kein banales Armleute-Wintergemüse, sondern ein eigentliches Lifestyle-Convenience-Fitness-Produkt!
So fand denn Sauerkraut in den letzten Jahren zunehmend Eingang auch in die Nobelgastronomie – als Süppchen oder leichte Beigabe, mit unzähligen neuen Kreationen, ja sogar als Sorbet und Glacé. In der Volksseele allerdings ist die Assoziation von Sauerkraut mit Rippli, Speck und Wurst tief verwurzelt. Trotzdem liegt der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum gesamtschweizerisch heute bloss etwas über einem halben Kilo.
Interessanterweise wird in der Welschschweiz wesentlich mehr Choucroute konsumiert als in der Deutschschweiz. Sauerkraut-Produzent Jürg Trachsel ist da eine Ausnahme: «Ich esse ungefähr zehn Kilogramm Sauerkraut pro Jahr, am liebsten als Teil der Berner Platte, im Sommer auch als Salat.» Und er hält es wie Wilhelm Buschs Witwe Bolte in «Max und Moritz», die vom Sauerkohl «besonders schwärmt, wenn er wieder aufgewärmt» …

Nahrungsmittel und Arznei

HH. Das Wissen um die vorbeugenden und heilenden Nebenwirkungen von Sauerkraut ist alt: Sebastian Kneipp verordnete frisches Sauerkraut bei Wunden und Entzündungen, Kräuterpfarrer Künzle verschrieb es bei hartnäckiger Verstopfung. Und selbst Wilhelm Busch kalauerte: «Nur der ist klug und weise, der auf Gesundheit schaut. Denk an die gsunde Speise, iss täglich Sauerkraut.» Grossmütter wuss­ten zudem, dass Sauerkrautsaft nicht nur ein gutes Fleckenmittel ist, sondern dass damit der Brotteig besser aufgeht. Neuere Untersuchungen belegen, dass Sauerkraut nicht nur eine intakte Darmflora fördert, sondern auch vorbeugend hilft gegen Infektionen, Magengeschwüre und Krebs, den Blutdruck- und Cholesterinspiegel senkt, mit der Substanz Acetylcholin wie ein natürliches Antidepressivum wirkt, dieweil Ballaststoffe und abführende Wirkung die Rolle des Schlankmachers übernehmen. Kurz: Das milchsauer vergorene Gemüse ist Nahrung und Arznei in einem.

Zwei Lieblingsrezepte der «Chabisfamilie»

Sauerkraut mit Ragout und Salzkartoffeln

Zutaten
-    800 g Rindsragout
-    etwas Mehl und Butter
-    300 g Rüebli und Sellerie
-    2 dl Rotwein
-    2 dl Bouillon
-    1 gespickte Zwiebel, Salz, Pfeffer
Zubereitung
-    Fleisch in Butter kräftig anbraten, mit Mehl bestäuben.
-    Aus der Pfanne nehmen. Gemüse anbraten und mit Wein ablöschen.
-    Fleisch, Bouillon und Gemüse zusammengeben.
-    Würzen. 1½ bis 2 Stunden garen.
-    Salzkartoffeln und Sauerkraut zubereiten. Anrichten.

Avantgardistischer Sauerkraut-Apéro-Hit

Zutaten
-    500 g Royal Sauerkraut roh
-    1 Dose Thon (ca. 135 g)
-    3 Esslöffel Mayonnaise
-    1 Zwiebel gehackt
-    4 Cornichon gehackt
-    Würzen nach Belieben (Salz, Pfeffer)
-    Toastbrot
Zubereitung
-    Das Sauerkraut abtropfen und zerkleinern.
-    Thon und Mayonnaise pürieren.
-    Cornichon, Zwiebel und Sauerkraut zu Thon und Mayonnaise beigeben und von Hand gut durchkneten.
-    Die Masse auf das getoastete Brot streichen und nach Belieben garnieren.

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