Die Raiffeisenbanken in der Schweiz und das Genossenschaftsprinzip

Die Raiffeisenbanken in der Schweiz und das Genossenschaftsprinzip

von Dr. phil. René Roca*

Schon seit über 20 Jahren bin ich aus Überzeugung Genossenschafter bei einer der 255 rechtlich autonomen und genossenschaftlich organisierten Raiffeisenbanken. In letzter Zeit haben mich allerdings – wie viele andere Genossenschafter auch – gewisse Entwicklungen der Genossenschaftsbank aufgeschreckt. Der Fall Vincenz, auf den ich nicht weiter eingehen möchte, ist dafür nur symptomatisch.

Besucht man die Webseite meiner Bank, der Raiffeisenbank Rohrdorferberg-Fislisbach, stösst man prominent auf einen PR-mässig gut aufgemachten Comic-Streifen, der für eine Mitgliedschaft bei der Bank wirbt und mit folgendem Motto schliesst: «Werden Sie Miteigentümerin einer Bank, und bestimmen Sie, wo’s langgeht.» Mit dem Motto wird ein wichtiger Grundsatz des Genossenschaftsprinzips bestätigt. Wenn ich Mitglied einer Raiffeisenbank werden will, zeichne ich einen Anteilschein und werde damit Miteigentümer der Bank. An der jährlichen Generalversammlung habe ich damit genau eine Stimme, egal, ob ich einen oder mehrere Anteilscheine besitze – ganz nach dem Prinzip «Ein Mensch, eine Stimme». Doch der Genossenschaftsgedanke beinhaltet weit mehr.

Gemeinsame Selbsthilfe als Zweck?

Schaue ich mir dazu nun die Statuten meiner Raiffeisenbank an, stosse ich beim wichtigen Zweckartikel (Art. 2) auf folgenden Satz: «Die Bank betreibt in gemeinsamer Selbsthilfe im Sinn des genossenschaftlichen Gedankengutes von Friedrich Wilhelm Raiff­eisen folgende Bankgeschäfte […].» Was bedeutet dieser Zweckartikel? Was heisst «gemeinsame Selbsthilfe»? Was beinhaltet konkret das «genossenschaftliche Gedankengut von Friedrich Wilhelm Raiff­eisen»? In Artikel 5 der Statuten heisst es weiter, die Bank sei «Mitglied von Raiffeisen Schweiz» und anerkenne deren Statuten. Die Raiffeisen Schweiz ist selbst als Genossenschaft organisiert. Meine Bank, die Raiff­eisenbank Rohrdorferberg-Fislisbach, ist also sozusagen Genossenschafter der Raiff­eisen Schweiz. Studiert man den Zweckartikel der Raiffeisen Schweiz mit Sitz in St. Gallen, fällt auch dort der Zweckartikel (Art. 3) auf: «Raiff­eisen Schweiz bezweckt in gemeinsamer Selbsthilfe die Verbreitung und Vertiefung des genossenschaftlichen Gedankengutes von Friedrich Wilhelm Raiffeisen in der Schweiz […].» Schon wieder taucht die «gemeinsame Selbsthilfe» auf, und das «genossenschaftliche Gedankengut von Friedrich Wilhelm Raiffeisen» soll sogar verbreitet und vertieft werden.

Genossenschaftliche Wurzeln im 19. Jahrhundert

An dieser Stelle ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte nötig. Friedrich Wilhelm Raiff­eisen (1818–1888), dessen 200. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, sah als Bürgermeister seiner deutschen Heimat die Nöte und Sorgen der Bauern und Gewerbetreibenden seiner Zeit. Die Leute erhielten nur Kredite mit stark erhöhten Zinsen und gerieten bald in eine Schuldenfalle. Raiffeisen zog daraus den praktischen Schluss, dass die Notleidenden nur im gemeinsamen Zusammenschluss den Kampf gegen den Wucher und für faire Kredite aufnehmen konnten, ganz nach dem Motto: «Einer für alle, alle für einen.» Der bald gegründete erste «Hilfsverein» war gelebte «gemeinsame Selbsthilfe» und der Grundstein für die erste Raiffeisenbank. Raiffeisen nahm reichere Mitbürger in die Pflicht, die als Bürge für die Kreditaufnahme dienten. So erhielten zum Beispiel Landwirte Geld, um Kühe zu kaufen. Sie mussten den Kredit innert fünf Jahren tilgen. Die Wohlhabenden hafteten für Ausfälle solidarisch und mit ihrem Privatvermögen. Eine Dividende gab es nicht. Später wurden auch die Kreditnehmer Mitglieder, da diese in guten Zeiten Ersparnisse bildeten, die wiederum belehnt werden konnten. Diese Hilfe zur Selbsthilfe stellt ein sozialethisches Prinzip dar, das zum Genossenschaftsgedanken gehört und in der christlichen Nächstenliebe, wie es Raiffeisen immer wieder betonte, seine Wurzeln hat.
Der Genossenschaftsgedanke kann neben der Selbsthilfe mit zwei weiteren «Selbst» erläutert werden, der Selbstverantwortung und der Selbstbestimmung. Der Wille zur Selbstbestimmung besitzt in der schweizerischen Eid-Genossenschaft eine lange Tradition. Genossenschaften in diversen Formen sind in der Schweiz seit dem Spätmittelalter nachweisbar. Deshalb fiel die Idee von Raiffeisen besonders in unserem Land auf fruchtbaren Boden. 1899 gründete Pfarrer Johann Traber (1854–1930) in Bichelsee die erste Raiff­eisenbank. Seither wird Bichelsee als das «Rütli von Raiffeisen Schweiz» bezeichnet. Pfarrer Traber schreibt über die erste Raiff­eisenbank: «Die Einrichtung ist also echt demokratisch und zugleich echt christlich; da regiert nicht die Geldmacht, sondern der sittliche Wert der Person.» Die Genossenschaftsbanken unterstützten die Industrialisierung in der Schweiz nachhaltig und auf einem demokratischen Fundament.
Abgesehen davon waren das Genossenschaftsprinzip und damit auch die Forderung nach Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert ein zentrales Traditionsgut, um zuerst auf Gemeinde- und Kantonsebene und schliesslich auch im eidgenössischen Bundesstaat die direkte Demokratie mit Referendum und Initiative zu entwickeln und kontinuierlich auszubauen.

Überlegungen zur Sicherung und Stärkung des Genossenschaftsprinzips

Was heisst nun dieser Genossenschaftsgedanke heute? Wie können die Gedanken von Raiffeisen verbreitet und vertieft und wie kann die «gemeinsame Selbsthilfe» mit neuem Inhalt gefüllt werden? Dazu drei Überlegungen:

  1. Die heutige Struktur von Raiffeisen ist zentralistisch. Die 255 autonomen Genossenschaftsbanken werden von St. Gallen mittels einer Top-Down-Strategie geführt. Das entspricht nicht dem Genossenschaftsgedanken. Die Basis, also die Genossenschafter jeder Raiffeisenbank, sollte mittels einer dezentralen (föderalen) Struktur entscheiden, wo’s langgeht. Der Verband muss den einzelnen Banken dienen und nicht umgekehrt. So war es ursprünglich auch gemeint. Falsch waren und sind auch die Fusionen der Raiffeisenbanken, die zu immer grösseren Gebilden führen und zu immer weniger Mitsprache.
  2. Raiffeisen Schweiz bestimmt die Strategie der Bankengruppe, die von den Delegierten der Raiffeisenbanken abgesegnet werden. Die Delegierten sind in Regionalverbänden in Form von 21 Vereinen (!) organisiert. Diese Struktur ist komplex und vor allem undemokratisch. Als Genossenschafter habe ich anlässlich einer Generalversammlung oder auf anderen Wegen noch nie etwas von diesen Delegierten gehört, kenne diese also nicht und kann sie ergo auch nicht wählen oder abwählen.
  3. Die 1,9 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter müssen die Entwicklung ihrer Raiffeisenbank wieder stärker in die eigenen Hände nehmen. Zuerst ist im Rahmen der Generalversammlung die nötige Transparenz einzufordern und dann Einfluss auf die strategische Führung der Bank zu nehmen, damit dem tatsächlichen Genossenschaftsgedanken wieder Geltung verschafft werden kann; erst dann kann man den Genossenschaftsgedanken verbreiten und vertiefen, was ein Segen für die Wirtschaft wäre.

Die Vertreter von Raiffeisen sind durchaus gesprächsbereit, davon konnte ich mich persönlich überzeugen. Nun ist eine breite Diskussion mit der Basis, das heisst den Genossenschafterinnen und Genossenschaftern, zu führen, um damit die genossenschaftliche Mit- und Selbstbestimmung zu sichern und ins 21. Jahrhundert zu retten.    •

*    René Roca ist promovierter Historiker und Gymnasiallehrer. Er leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch).

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