Wozu guter Teamgeist fähig ist

Wozu guter Teamgeist fähig ist

Eine rekordverdächtige Schulklasse

von Heini Hofmann

Die alte Dorfschule war im Vergleich zu heute bescheidener, aber nicht so schlecht, wie der Modernismus sie retrospektiv öfters diskreditiert, ja, vielleicht war sie sogar die bessere Lebensschulung. Dies belegt das Beispiel einer Sekundarschulklasse, deren Teamgeist so gross war, dass sie Jahrzehnte nach Schulabschluss eine Klassenzusammenkunft bei einer während der Schulzeit ausgewanderten Kameradin in Australien zu realisieren vermochte.
Ein fast vollzähliges Klassentreffen am andern Ende der Welt, das ist wohl rekordverdächtig. Und ebenso die Nachkommensrate dieser Klassenkameradin in Down under, die jetzt im Alter von 80 Jahren stolz sein darf auf 6 Kinder, 17 Grosskinder und bereits 17 Urgrosskinder!

Wie eine grosse Familie

Jetzt haben sie bald alle 80 Jährchen auf dem Buckel, die Klassenkameradinnen und -kameraden des Jahrgangs 1938 der Sekundarschule Uetendorf bei Thun mit Schulabgang 1954. Von damals 27 sind allerdings bereits 11 verstorben. An regelmässigen Klassentreffen werden Erinnerungen wachgerufen an eine Schulzeit, da vieles noch anders war: Im alten Sekundarschulhaus auf dem Uetendorf-Berg mit den knarrenden Holztreppen und dem Türmchen, von welchem das Elf-Uhr-Glöcklein ertönte, sass man noch an Holzpulten, schrieb mit Bleistift und Tinte und der Lehrer mit Kreide an die Wandtafel. Keine Taschenrechner, Handys und Computer und schon gar keine Designerklamotten, dafür Glismets von Muttern. Man trug Schultornister, die Mädchen Zöpfe und Schürzen, die Buben kurze Haare und Knickerbockerhosen.
Das Lehrerzimmer war eine Holzbank vor dem Schulhaus, unter freiem Himmel, auch im Winter! Geturnt wurde auf einer Waldlichtung, mit hochgekrempelten Hosen und Ärmeln. In der Znünipause gabs Pausenmilch; Uetendorf war damals noch ein Bauerndorf. Und weil diese Schule auch anderen Gemeinden im Hügelland vor der Stockhornkette diente, kamen die Schülerinnen und Schüler – von Thierachern, Uttigen, Seftigen, Gurzelen, Amsoldingen, Uebeschi und Höfen – mit den Velos oder in damals noch schneereichen Wintern mit den Skiern, einer von Höfen sogar mit Ross und Schlitten. Für sie gab es im Schulhaus über Mittag Suppe, Brot und Äpfel. Kurz: Die Klasse war wie eine grosse Familie; das schweisste zusammen.

Abschied und Wiedersehn

Doch 1950 in der 6. Klasse (= 2. Sek) gab es eine Zäsur: Der Klassenlehrer teilte eines Tages mit, dass uns das Vreni Schärer verlasse – für immer. Seine Familie wandere nach Australien aus, auf jenen fernen Kontinent, der am Globus vorne im Schulzimmer meist auf dessen Rückseite versteckt war. Nach einer beschwerlichen Schiffsreise via Suezkanal gelangte Vreni in seine neue Heimat und schickte der Klasse nun regelmässig Briefe mit Känguruh- und Koalabildli, und diese revanchierte sich mit Klassenbriefen und geschleckten Kalenderhelgeli aus der alten Heimat. Doch nach der Schulzeit verebbte dieser Kontakt dann etwas.  
Bis eines Tages – es war 1993, mehr als 40 Jahre nach ihrer Auswanderung – das Vreni unverhofft in der Schweiz auftauchte. Und siehe da, der alte Klassengeist funktionierte: Innerhalb von nur 24 Stunden gelang es, eine bereits zwei Tage später stattfindende, fast vollzählige Klassenzusammenkunft in Burgdorf, nahe ihrem Geburtsort Kirchberg, einzuberufen, was die Auslandschweizer Klassenkameradin, die jetzt Verena Johnson-Schärer hiess, sichtlich freute. Sie brachte ihren Mann Kevin mit, einen sympathischen Australier, und zeigte stolz die Fotos der sechs Kinder (vier Töchter, zwei Söhne) und der bereits stattlichen Anzahl Grosskinder.

Verrücktes Klassentreffen

Man schwelgte in Erinnerungen, scherzte und lachte, und der Schreibende kalauerte, dass man die nächste Klassenzusammenkunft in Australien machen sollte. Kurzes Schweigen, leises Raunen, dann plötzlich von mehreren Seiten ein zuerst zaghaftes, dann immer dezidierteres: «Warum eigentlich nicht?» Die Lunte brannte, und einmal mehr spielte der Klassengeist: Der verrückte Beschluss wurde gefasst! So begab es sich denn, dass drei Jahre später, im September 1996, der Grossteil der Klasse (samt Gschpusis) in Kloten das Flugzeug mit Ziel Sydney bestieg – für eine perfekt geplante, dreieinhalbwöchige Reise durch Australien mit Highlight Klassentreffen bei Vreni, was wohl fast Guinness-rekordverdächtig war!
Fit genug waren alle noch, vielleicht dank Pausenmilch und Waldturnen von einst … Die Reise führte von Sydney die Ostküste hinauf via Brisbane und Cairns bis Darwin und von hier durch die Mitte des Kontinents hinunter via Alice Springs und Ayers Rock nach Kangaroo Island und Adelaide – und von hier wieder via Singapur zurück nach Hause. Doch neben all den vielen Besichtigungen und Ausflügen und dem Staunen ob den gewaltigen Naturwundern, Great Barrier Reef inklusive, war natürlich der emotionalste Höhepunkt der Reise der Besuch bei unserer Klassenkameradin am sechsten Reisetag in Nabiac/NSW, knapp 600 Einwohner zählend und an der Ostküste auf der Höhe von Surfers Paradise landeinwärts gelegen.

Unvergessliches Erlebnis

Hier haben sich Vreni und Kevin (nach der Pensionierung) auf eine kleine Selbtversorgerfarm zurückgezogen, nachdem sie vorher in Sydney eine Garage betrieben hatten. Eigentlich könnte man es ein subtropisches Paradies nennen; denn das Haus ist umgeben von einem prächtigen, von hohen Eukalyptusbäumen überschatteten, blumenreichen Parkgarten, wo sich Wallabys (Zwergkänguruhs), Wildkaninchen und buntfarbene Vögel tummeln. Darum herum sind Weiden für Rinder und Pferde. Eine grosse Trinkwasser-Zisterne dient zur Überbrückung der oft extremen Trockenzeit.
Und welch ein Empfang beim Eintreffen! Alle stehen vor dem Haus und winken mit Berner- und Schweizer-Fähnchen. Die alte Heimat hat man offensichtlich nicht vergessen. Nach Essen, Trinken und Palavern kommt es zu einem ungeplanten Höhepunkt der Reise: ein gemeinsamer Verdauungs-Nachtspaziergang durchs finstere Outback. Keiner spricht ein Wort, alle lauschen den fremdartigen Tierstimmen in Feld, Busch und Sumpf. Und über uns funkelt der südliche Sternenhimmel mit grandioser Milchstrasse und Kreuz des Südens, wie wir dies in solcher Intensität noch nie gesehen haben, weil ohne jegliche Lichtverschmutzung. Man beginnt zu verstehen, dass dem Vreni hier seine neue Heimat lieb geworden ist.

Kleiner Epilog

Seither war das Vreni mit ihrem Kevin 2004 nochmals in der Schweiz, was wieder Anlass war für eine spontane Klassenzusammenkunft am Thunersee, wo die beiden aus Down under (damals) nicht schlecht staunten, unter den weissen Höckerschwänen auch Australische Schwarzschwäne zu erblicken. Diesen illegalen Immigranten erging es jedoch später weniger gut als unserem im Land der Känguruhs, Koalas und Kookaburras legal eingewanderten Vreni. Nach dem Tod seines Mannes kam es 2012 noch einmal, begleitet von einem Sohn, in die alte Heimat, um seine fast 100jährige Mutter zu besuchen und am 20. Klassentreffen teilzunehmen. An ihrem 80. Geburtstag, den sie nun als Erste der Klasse feierte, trafen sich in Australien, obschon sie über den halben Kontinent verstreut leben, alle 6 Kinder, sämtliche 34 Gross- und Urgrosskinder plus Verwandte, insgesamt 85 Personen. Der Teamgeist lebt auch in der Grossfamilie weiter!
Was wohl ebenfalls für die ehemalige Dorfschule spricht: Noch heute schreibt Vreni gestochen schöne Briefe von Hand in ihrer Muttersprache, die sie im Alltag nie verwenden konnte, und dies erst noch in amüsantem Stil und fast fehlerfrei. Man vergleiche mit unserer Mail«kultur»! Kurz: Die alte Volksschule, aus Sicht der heute sich jagenden Reformen als pestalozzianisch belächelt, war wohl in vielem simpler, aber vielleicht gerade deshalb im zwischenmenschlichen Bereich kittender. Und notabene haben alle damit auch ihren Weg gemacht, sowohl beruflich wie sportlich, trotz Inexistenz von Internet und Turnhalle. Dies ist keine sentimentale Beschönigung, lediglich eine Feststellung.    •

Kostproben aus Vrenis Briefen

«Meine Grossmutter, ein Verdingkind aus Seftigen, sagte immer, sie musste nie hungern, hatte genug Kartoffeln und Gemüse, aber nie genug Brot. So mussten wir Grosskinder aufpassen und kein ‹Brösmeli› liegen lassen, das war eine Sünde in ihren Augen! Wenn sie das Brot hier hätte essen müssen, wäre es ihr wohl weniger ‹sündhaft› gewesen; denn unser Brot ist nicht so gut wie in der Schweiz! Aber man gewöhnt sich an alles.»
«Wurde am Tag nach meinem 80. Geburtstag zum 17. Mal Urgrossmutter, und das 18. Urgrosskind ist schon unterwegs. Habe bald Mühe, alle Namen zu behalten, geschweige denn das Geburtsdatum von allen! Zu meinem runden Geburtstag erhielt ich eine Gratulationskarte vom Schweizer Konsulat in Sydney und auch eine vom ‹Beamten› in unserer Gemeinde. Man muss aber 100jährig werden, bevor man eine von Königin Eliza­beth erhält. Das wird für mich wohl nicht mehr möglich werden …»
«Da es trocken ist, kommen die Känguruhs näher zu den Häusern, wo das Gras noch ein wenig grüner ist. Leider werden dann viele von den Autos überfahren, wenn sie den Strassen nach grasen. Unser 32 Jahre altes Pferd musste vom Tierarzt eingeschläfert werden. Für sein ‹Junges›, das auch schon 23jährig ist, waren die ersten paar Tage schlimm, es wollte nicht fressen und blieb einfach unter dem gleichen Baum stehen. Nun geht es wieder gut, unsere zwei Hunde gehen viel zu ihm. Auch Tiere haben Gefühle!»

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