Gelbwesten: Zukunftsszenario

Gelbwesten: Zukunftsszenario

von Myret Zaki, Chefredaktorin des Westschweizer Wirtschaftsmagazins «Bilan»

Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen der letzten Wochenenden, den Ankündigungen von Emmanuel Macron und der Schiesserei in Strassburg – wie sieht wohl die Zukunft der Gelbwesten-Bewegung mittel- und langfristig aus? Welches sind die politischen und wirtschaftlichen Optionen?

Wer ist zurzeit der Feind der Franzosen: Emmanuel Macron oder Cherif Chekatt? Konzessionen von Macron, Attentat in Strassburg? Werden diese Ereignisse die Bewegung der Gelbwesten schwächen? Viele von uns vermuten, dass die Gelbwesten-Bewegung Gefahr läuft, sich zu zerstreuen. Frauen, ältere Menschen, friedliche Demonstranten werden – nach der manchmal sehr harten Gewalt, unter der einige Demonstranten zu leiden hatten und die durch soziale Netzwerke sichtbar gemacht wurde – wenig geneigt sein, ihre körperliche Integrität angesichts immer härterer, gepanzerter und gut ausgestatteter Sicherheitskräfte zu gefährden. Dann, beim Näherrücken der Weihnachtsferien, werden Väter und Mütter zögern, ihre Kinder zum Demonstrieren nach Paris reisen zu lassen.
Die Erwartungen der motiviertesten, jungen, weniger ängstlichen, der Opposition und dem Aktivismus verschriebenen Menschen gehen weit über die Konzessionen des Präsidenten hinaus, die sie als «Peanuts» bezeichnen. Aber auch sie werden zögern, den Konflikt – aus Mangel an Ressourcen und angesichts der Massenverhaftungen, die noch vor dem 4. Wochenende vom 8. Dezember stattfanden – zu eskalieren. Es bleiben auch noch die Demonstranten aus den Regionen, die weiterhin bereit sind, Durchfahrten und Kreisel zu besetzen, denn Präsident Macron hat keineswegs, wie von seinem Pressesprecher erhofft, «den Weg in ihre Herzen wiedergefunden». Aber auch diese Demonstranten wissen, dass ihre Aktivitäten, die ihnen schon einiges abverlangen, nur noch auf Repressionen stossen werden, da die Regierung bereits allem zugestimmt hat, was sie bereit war zu akzeptieren. Eine koordiniertere Mobilisierung zur Lähmung der Wirtschaft des Landes ist derzeit sehr unwahrscheinlich, da sie ihre Initiatoren – zu einem Zeitpunkt, da die allgemeine Bewegung nachlässt – wirtschaftlich und menschlich zu viel kosten würde. Effektives gemeinsames Handeln kann nur in einer konzertierten Blitzaktion erfolgen, weil es sonst auf die Dauer zu teuer wird.
Die Bewegung wird zweifellos in den sozialen Netzwerken präsent bleiben, als permanente Opposition. Facebook ist in dieser Hinsicht ein Gegner des Elysée. Die wirkliche Sanktion gegen Macron wird an der Wahlurne stattfinden: Für die Europa-Wahlen im Mai 2019 liegt Marine Le Pen in den Umfragen mit 24 % der Stimmen an der Spitze, vor LREM/Modem [Mitte rechts] mit 18 %. Aber die wirkliche Gegenreaktion wird dann spürbar werden, wenn die Rechnung für die angekündigten Massnahmen Macrons den Franzosen der unteren und der Mittelklasse zugestellt wird, da Macron den «sozialen» Charakter der Schwierigkeiten und der erforderlichen Neugewichtung nicht erkannt hat und für diese Rechnung keine Rücklagen auf Kosten der Reichsten vorbereitet hat. Diese 10-Milliarden-Euro-Rechnung wird somit unweigerlich wieder auftauchen, in Form von Einsparungen bei den Sozialleistungen und der Kaufkraft der Arbeitnehmer. Für die Bevölkerung wird bald klar sein, dass das, was mit der einen Hand gegeben wurde, unter dem Vorwand der Maastrichter Defizitregel von 3 % von der anderen wieder weggenommen wird. Dann wird die Anti-EU-Stimmung in Frankreich den Höhepunkt erreichen, um sich zu einem Szenario nach italienischem Vorbild zu wandeln, das durchaus zu einem Sieg des «Rassemblement national» (Partei von Marine Le Pen) führen könnte.
In Wirklichkeit ist Marine Le Pen keineswegs unvermeidlich. Zurzeit scheint sie die einzige zu sein, die von der Bewegung der Gelbwesten an der Wahlurne profitieren kann, aber das ist aus Mangel an Besserem. Weil überall gesagt wird (ob von Anhängern oder Gegnern der Gelbwesten), dass man kaum Vorstellungen hat, wer nach Macron die Präsidentschaft übernehmen könnte. Es gäbe somit keinen valablen Ersatz, weil die Ansprüche der Gelbwesten so unterschiedlich seien. «Sie haben kein Programm», wird dann gesagt.
Das ist völlig falsch. Das «Programm» der Gelbwesten ist klar, die Botschaft ist eindeutig: Die Franzosen wollen Kaufkraft besitzen. In welcher Sprache soll man das ausdrücken? Ein Kandidat, der heute sagen würde, dass er sich für kleine und mittlere französische Arbeitnehmer einsetzen, ihnen wieder Kaufkraft und Lebensqualität zurückgeben, sie vor übermässiger Einwanderung und Sozial- und Wirtschaftsdumping schützen will und dass er dazu bereit ist, überall dort zu sparen, wo Verschwendung stattfindet (übermässiger Staatszentralismus, Militärausgaben im Ausland), hätte alle Chancen. Aber würde der Wahlprozess dies zulassen? Dies hängt davon ab, inwieweit sich Frankreich in ein oligarchisch-plutokratisches System verwandelt hat. Der US-republikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 2008 gezeigt, dass die USA sich in ein solches System verwandelt haben.
Dieser Trend erwartet auch die alten westlichen Demokratien: Die Ungleichheit der Reichtümer ist auf dem höchsten Stand seit Anfang des letzten Jahrhunderts. Und seit den 1980er Jahren wurden die öffentlichen Vermögenswerte massiv in die Privatsphäre übertragen, vor allem durch Privatisierungen. Die Staaten werden ärmer und haben nicht mehr genügend Mittel, um die Bürger am unteren Ende der Skala zu schützen. Während der Nationalreichtum Frankreichs erheblich zugenommen hat, ist das öffentliche Vermögen stark zurückgegangen und spiegelt sich in einer Rekordverschuldung wider [2018: 2300 Milliarden Euro, Anm. d. Red.]. Konkret bedeutet ein plutokratisches System, dass die Finanzelite das Land regiert und dass die Präferenzen der Reichsten – ob in der Innen- oder Aussenpolitik oder im Hinblick auf einen gewählten Präsidentschaftskandidaten – klar vorherrschen. In diesem System sind politische Entscheidungen in der Tat eine Frage finanzieller und personeller Unterstützung. Hätte in Frankreich ein Kandidat –, der nicht wie Emmanuel Macron 14 Millionen Euro von Investoren und Bankiers zur Verfügung gestellt bekommt, der also von wenig personeller und finanzieller Unterstützung der Reichsten profitieren könnte, – heute auch eine Chance?    •

Quelle: <link https: www.bilan.ch opinions myret-zaki>www.bilan.ch/opinions/myret-zaki/cette-fois-le-krach-est-social  vom 19.12.2018
(Übersetzung Zeit-Fragen)

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