«Ohne Identität gibt es keine Souveränität und keinen Widerstand»

«Ohne Identität gibt es keine Souveränität und keinen Widerstand»

Nachtrag zur Konferenz in Belgrad von Ende März 2019

von Fulvio Grimaldi*

jpv. Fulvio Grimaldi hat nach dem Besuch der internationalen Konferenz «Niemals vergessen – Frieden und Wohlstand statt Krieg und Armut» Ende März in Belgrad einen längeren Artikel zu diesem Thema publiziert. Er gibt einen Überblick über Hintergründe des Krieges der EU und der Nato gegen Jugoslawien und Serbien. Er beschreibt auch den medialen Propaganda-Feldzug im Vorfeld der Bombardierungen, als Muster für alle anderen Kriege, die das amerikanische Imperium seit 1990 geführt hat. Wir dokumentieren einige Gedanken aus dem letzten Drittel dieser längeren Analyse des Autors.

Der Beginn der False-flag-Operationen des zweiten Jahrtausends

[…] Der Terrorismus begann mit dem Betrug von Račak, dem Auslöser des Nato-Angriffs, als William Walker, der Leiter der OSZE, einer angeblichen Vermittlerorganisation, einige Dutzend verstümmelter ziviler Leichen einem von den Serben begangenen Massaker zuschrieb. Finnische Gerichtsmediziner, die diesen Fund untersuchten, konnten aufzeigen, dass es sich um UÇK-Milizen handelte, die im Kampf getötet und nach ihrem Tod verstümmelt worden waren. Danach kamen Saddams Massenvernichtungswaffen, Osama bin Laden, der 11. September 2001, Gaddafi und Assad, die ihr Volk bombardierten … Kurz gesagt, die False-flag-Operationen als Mutter aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Täuschungen können aufgedeckt, Schuld kann zugeordnet, Brücken, Gebäude, Eisenbahnlinien, Krankenhäuser, Wohnhäuser, Schulen, Fabriken wieder aufgebaut werden. Wenn jedoch eine Identität verletzt und verstümmelt wird, hört sie nie auf zu bluten – bis zum Tod. Das ist das strategische Ziel der Totengräber, die mit der Sense der Globalisierung ausgestattet sind. Die Identität wird durch Krieg ausgelöscht oder eingesperrt und erstickt im Käfig politischer und wirtschaftlicher Strukturen, wie der Nato oder der EU. Der kriegerische Terrorismus zielt darauf ab, Kultur, Zeugnisse, Wurzeln, Werke, die Ausdruck einer Gemeinschaft und ihrer Geschichte sind, ihre Gewohnheiten und Strukturen des Zusammenlebens zu zerstören. Sein Zweck ist es, die Seele zu zerstören, die Namen auszulöschen. Die Wirkung des Krieges durch Vernichtung dessen, worin sich ein Volk erkennt, was es mit seiner Geschichte und seinem Territorium verbindet, wird schrecklich unterschätzt. Auf der Belgrader Konferenz sprach [ausser Pjotr Olegovitsch Tolstoi, dem Vize-Präsidenten der Duma der Russischen Föderation,] sonst niemand darüber, aber die nachträgliche Zustimmung und Unterstützung für dieses Thema bewies, dass es bei verschiedenen Teilnehmern präsent war.

Nicht nur Wohnhäuser, Krankenhäuser, Klöster, Brücken, Schulen

Im Irak hatten die Amerikaner als erstes (ich war selber anwesend) die Nationalbibliothek und das Museum – die 4000 Jahre einer Zivilisation enthielten, die sich dann auf den Rest der Menschheit ausbreitete (nicht der ganzen, um ehrlich zu sein) – durch aus Kuwait importierte Arbeiter zerstören lassen. In Ur, Abrahams Heimat, zerstörten sie den ersten vom Menschen erfundenen Asphalt mit den Ketten ihrer Panzer. Sie zerstörten Babylon, Nineveh, Hatra, Nimrud, Mosul mit ihren Bomben und übergaben sie ihren islamistischen Söldnern. Wie in Syrien für Palmyra, Aleppo, Raqqa. Wie in Libyen für Kyrene, Leptis Magna, Ghadames …
Bezüglich Serbien sind uns 150 orthodoxe Klöster bekannt, die im Kosovo zerstört wurden, und weitere 100 unter den Augen der Kfor-Truppen. Bewusst und präzise gezielt wurden in Pancevo Raffinerien und Chemikalientanks zerstört und so gefährliche Dämpfe freigesetzt. Aber wir wissen nichts über die Zerstörung oder Beschädigung von Museen, Kathedralen, der Festung Belgrad, alten Friedhöfen, byzantinischen und mittelalterlichen Denkmälern, Kirchen, Moscheen und Synagogen, dem Erinnerungspark in Kragujevac, dem Nationalpark Fruska Gora, wo Bäume und Klöster vor unseren Augen zerbarsten, die alten Stadtzentren und damit wichtige Formen des Zusammenlebens. All dies, um Wurzeln, Identitäten, Seelen zu beseitigen, zu nivellieren und zu standardisieren. Ohne Identität gibt es keine Souveränität – oder dann nur jene der Globalisierer, Nivellierer, Enteigner, hass­erfüllte Feinde der Kultur. Woher kann man da noch die Kraft, das Gemeinschaftsgefühl hernehmen, um zu kämpfen?

Identität ist der Hauptfeind

Die Arbeit der Globalisierer endet nicht mit Krieg und Bomben. Der Beweis dafür ist die weltweite Operation mit den Migranten, eine Neuauflage des Sklavenhandels und des kolonialistischen Rassismus vergangener Jahrhunderte. Dieser wird mit der Heuchelei der Gutmenschen zugedeckt, die für eine bedingungslose Aufnahme aller eintreten, deren Ziel es aber ist, den Ländern ihre junge Generation zu nehmen, um deren Ressourcen leichter rauben zu können. Damit wird das Bewusstsein für ihre Identität bei denen vernichtet, die ihre Länder verlassen, und gleichzeitig auch bei denen, die sie aufnehmen. Dies wird durch die Universalisierung der Gentrifizierung in den Metropolen belegt. Das bedeutet die Ankunft reicher Familien und Wirtschaftsführer und der durch einheitliche Szenarien standardisierten Touristengruppen zwischen Tokio, Chicago, London, Lissabon und Mailand. Gleichzeitig folgt die Vertreibung der lebendigen, einfachen Bevölkerung an den Stadtrand und deren Ersatz durch Einkaufszentren, B&Bs, Hotelketten, Restaurants und Franchise-Geschäfte, nachdem die kleinen Läden, Cafés, kleinen Restaurants und Plätze mit ihren Wänden, Tanzveranstaltungen und Brunnen für den Samstagabend der Gemeinschaft von gestern und heute für immer entrissen wurden. […]
In Belgrad ist das Einkaufszentrum Zara & Co anstelle des Gebäudes des Zentralkomitees ein schlechtes Zeichen. Das Gleiche gilt für das neue Viertel der sehr Reichen, die «Waterfront» (nach englischem Vorbild!) am Flussufer. Das Stadtzentrum scheint bisher noch erhalten zu sein.
Das Belgrader Forum für eine Welt der Gleichen war, und musste es angesichts der ignoranten Vergessenheit der Führer und ihrer Schriftgelehrten auch sein, eine Konferenz der Erinnerung. Aber von Živadin Jovanović bis zum letzten Delegierten waren wir uns bewusst, dass Erinnerung allein nutzlos ist, wenn sie nur aus einer Galerie von Vorfahren und Landschaften besteht – eine Atmosphäre, in der zu viele Menschen schläfrig werden. Die Erinnerung an die Serben beschuldigt und warnt ohne Unterbruch; für die Totengräber müsste Serbien zum Musterbeispiel der Menschheit geworden sein: Entweder widersetzen wir uns den Sirenen der USA, der Nato und der EU, oder wir sterben alle. Wenn die Erinnerung Anklage erhebt, wird sie zum Widerstand. Dabei geht es um den Kampf gegen diejenigen, die jetzt wieder zurückkehren, um die Strasse in Aufruhr zu bringen. Illegitime Demonstrationen werden organisiert, um einen Präsidenten abzuschiessen, der vielleicht keine sehr klare Linie verfolgt, jedoch ein richtungsweisendes Nein zur Nato ausgesprochen hat. Diese Nato – das Projekt verfolgend, alle Albaner in einem einzigen Staat unter der Kontrolle der internationalen und lokalen Kriminalität zusammenzuführen – will die unbeendete Destabilisierung des Balkans weiter vorwärtstreiben und endlich dem serbischen Widerstand ein Ende setzen, der die Nazis besiegt hat und sich nun weigert, die Rolle des Brückenkopfs für den Krieg gegen Russland zu übernehmen.
Die Schlussfolgerungen von Živadin Jovanović unterstreichen die Verpflichtung, die Erinnerung an die Verbrechen und ihre Täter wachzuhalten und international zu verbreiten, um daraus die Stärkung der Opposition gegenüber der Nato und der EU im Namen des Völkerrechts und der wiederherzustellenden nationalen Souveränität zu erreichen. Daneben gilt es auch, immer engere Beziehungen mit dem traditionellen russischen Verbündeten zu entwickeln und sich mit der Kraft der Erfahrung und des erlittenen Leids im internationalen Verbund für die Selbstbestimmung der Völker einzusetzen. Dabei haben wir das Motto der Konferenz vor Augen: «Frieden und Wohlstand statt Krieg und Armut».
Meinen Beitrag in Belgrad habe ich mit dem Versprechen beendet, dass wir uns, alle 500 Delegierten, zum 30. Jahrestag und sogar zum 60. hier wieder versammeln werden. Da wir uns für eine gerechte, gute und wichtige Sache einsetzen, werden wir nie sterben. Wir sind unsterblich. Von Zeit zu Zeit muss man auch etwas schmunzeln können …    •

* Fulvio Grimaldi ist 1934 in Florenz geboren. Er ist ein italienischer Journalist, Kriegsberichterstatter für die italienische Radio-Fernseh-Anstalt RAI von 1986 bis 1999, Publizist, Blogger und Dokumentarfilmer.

Quelle: Le Grand Soir vom 6.4.2019; <link http: www.legrandsoir.info oublier-pardonner-jamais.html>www.legrandsoir.info/oublier-pardonner-jamais.html
Auszüge aus dem Artikel zur internationalen Konferenz «20 ans après l’agression contre la Yougoslavie» –«Oublier? Pardonner? Jamais.» von Fulvio Grimaldi

*  Gentrifizierung (von englisch gentry: «niederer Adel») meint den Prozess, im Zuge dessen bisherige Einwohner aus grossstädtischen Vierteln verdrängt werden, weil diese zugunsten zahlungskräftigerer Bewohner umgebaut oder saniert werden.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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