Wer den am 14. Juni von der EU-Kommission vorgelegten «Bericht über die Umsetzung des Aktionsplanes gegen Desinformation» liest, wird erschreckt feststellen, dass der Aufbau einer EU-weit tätigen Zensurbehörde bereits weitgehend abgeschlossen ist. Demnächst soll, so die noch etwas versteckte Botschaft, die Verbreitung von Informationen, die Brüssel als falsch und gefährlich einschätzt, mit Sanktionen bis hin zu Kontosperren und Reiseverboten geahndet werden.
Im Papier der EU-Kommission, für das nebstbei auch die aussenpolitische Speerspitze Federica Mogherini verantwortlich zeichnet, wird der Terminus «Desinformation» als ein Vorgang definiert, der darauf abzielt, «abzulenken und zu spalten, durch die Verdrehung und Verfälschung von Tatsachen Zweifel zu säen und so die Menschen zu verwirren und ihr Vertrauen in die Institutionen und die etablierten politischen Prozesse auszuhöhlen». Im Visier stehen dabei nicht die grossen meinungsbildenden Medienkonzerne, die tagein, tagaus von Tatsachen ablenken und Wahrheiten verdrehen, dies aber gerade in Hinblick auf die Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse tun. Als zu bekämpfender Desinformant gilt, wer solche in Zweifel zieht und ihre Institutionen aushöhlt.
Für diesen die (Kapital-)Herrschaft stabilisierenden Kampf werden Millionen in die Schlacht geworfen, um, wie es heisst, «ein koordiniertes Vorgehen zu schaffen, das voll und ganz mit unseren europäischen Werten und Grundrechten im Einklang steht». Die als «Task-Force für strategische Kommunikation» bezeichnete Behörde wacht mit Hilfe von sogenannten Faktenprüfern über die Einhaltung der wahren, der europäischen Werte.
Im Vorfeld der EU-Wahlen war es der Kommission gelungen, im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen den grossen Internetgiganten Google, Facebook, Twitter und – etwas später – Microsoft einen «freiwilligen Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation» abzuringen, nicht ohne im Fall, dass die Ergebnisse bis zum Jahresende 2019 nicht zufriedenstellend sind, mit rechtlichen Schritten zu drohen.
Ein EU-eigenes Frühwarnsystem zum Erkennen falscher Informationen verstärkt zudem seine Zusammenarbeit mit den Organisationen der globalen westlichen Wirtschafts- und Militärstruktur, den «internationalen Partnern wie G 7 und Nato».
Im Rahmen der Task-Force für strategische Kommunikation agiert das «Strategische Kommunikationsteam Ost» seit März 2015, als es darum ging, eine westliche Diskurshegemonie in der Ukraine-Krise herzustellen. Die verstörenden Bilder von rechtsradikalen Kämpfern am Kiewer Maidan, die mit Brandbomben und (später) Schusswaffen gegen Ordnungskräfte vorgingen, mussten als Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit dargestellt werden. Dies war angesichts der Tatsache, dass Berichte russischer Medien in englischer, deutscher, französischer und spanischer Sprache dieser Erzählung entgegenstanden, keine leichte Aufgabe. Der Anfang der EU-europäischen Zensurbehörde wurzelt also in der Ukraine-Krise des Jahres 2014.
Seitdem sind in so gut wie allen EU-Ländern mediale Einsatzkommandos implementiert worden, deren Aufgabe in der Beobachtung und Bekämpfung vornehmlich russischer Medien besteht. Ende 2015 verschärfte die EU dann ihre Gangart, als das Europäische Parlament mit Stimmenmehrheit eine Resolution verabschiedete, die der Task-Force freie Hand und mehr Mittel gab. In der Presseaussendung dazu hiess es: «Propagandistischer Druck auf die EU von seiten Russlands und islamischer Terroristen wächst ständig. Dieser Druck zielt darauf, die Wahrheit zu torpedieren, Angst zu verbreiten, Zweifel zu provozieren und die EU auseinanderzudividieren.» Dagegen müsse die bereits zuvor gegründete Task-Force verstärkt eingesetzt werden, «um in Wachsamkeit und Erziehung zu investieren». Frankreichs Präsident Macron doppelte ein knappes Jahr später noch mit der Idee nach, die Verbreitung von falschen Nachrichten unter Strafe stellen zu lassen. Noch ist es nicht soweit, allerdings sind EU-weite Beobachterstellen seit Oktober 2018 eingerichtet, und seit März 2019 ist ein «Frühwarnsystem» installiert.
Die Datensammler von der Task-Force nehmen, wie es auf Seite 3 des Kommissionsberichtes heisst, «anhaltende und ausgeprägte Desinformationsaktivität aus russischen Quellen» wahr. Die Themenkreise, über die ihrer Meinung nach Desinformation verbreitet wird, sind insbesondere die «Infragestellung der demokratischen Legitimität der Union sowie Debatten über Migration und Souveränität», mithin: die grossen Brüsseler Schwachstellen. Diese zu verdecken, haben sich die Faktenprüfer zur Aufgabe gemacht. Seit Anfang 2019 (bis Mitte Juni) haben sie, der eigenen Statistik zufolge, 998 «Desinformationsfälle» aufgespürt, was einer Verdoppelung zum Vorjahreszeitraum entspricht.
Neben der Wahrheitssuche haben es sich die EU-Zensoren zur Aufgabe gemacht, Werbeplatzierungen auf Online-Plattformen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu entfernen. Das betrifft einerseits solche, die mit fiesen Tricks ihre Klickzahlen erhöhen, andererseits aber auch politisch missliebige Medien. Im Bericht der Kommission liest sich das dann folgendermassen: «Alle drei Online-Plattformen (Facebook, Google, Twitter) verstärkten ihre Bemühungen um Erhöhung der Transparenz politischer Anzeigen»; und dann weiter, «Facebook hat zwar, im Gegensatz zu Google und Twitter, die Transparenz auf themenbezogene Werbung ausgeweitet, doch es bestehen Zweifel an der Wirksamkeit.» Themen, die entsprechend gescannt werden, sind Einwanderung, politische Werte, bürgerliche und soziale Rechte sowie Aussen- und Sicherheitspolitik. Die grossen US-amerikanischen Internetfirmen sind dazu übergegangen, Werbekunden, die ihnen (oder der Europäischen Union) nicht passen, einfach zu verbannen und ihre Konten zu schliessen. RT (Russia Today) und Sputnik machten diese Erfahrung mit Twitter bereits Ende Oktober 2017.
Wenn schon, dann gründlich. Die EU-Kommission dokumentiert jeden einzelnen «Desinformationsfall». Penibel wird dort die angebliche Unwahrheit, das diese verbreitende Medium und das Ergebnis der «Faktenprüfung» genannt. Eine Durchsicht der unter «EU vs Desinfo» abrufbaren Liste zeigt sehr deutlich, worum es dem «EU-Aktionsplan gegen Desinformation» geht: um die Durchsetzung der Brüsseler Sicht auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Im Fokus der Faktenprüfer steht unter anderem die «russische Nation». Wenn beispielsweise auf Sputnik Deutschland am 7. Juni folgendes berichtet wird: «Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Spekulationen über eine mögliche Vereinigung von Russland und Weissrussland zurückgewiesen. Dies kann laut Putin nicht passieren. Von einer Vereinigung der beiden Länder könne keine Rede sein. ‹Ich sage Ihnen, warum. Weil die Geschichte sich so entwickelt hat, dass es mit unserem einigen Volk – und ich glaube, dass die Weissrussen, Russen und Ukrainer ein und dasselbe Volk sind, das habe ich mehrmals gesagt – so gekommen ist, dass wir in unterschiedlichen Ländern leben, es haben sich unterschiedliche Staaten gebildet›, sagte Putin beim internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg.» Aus diesem Putin-Zitat nehmen die Faktenprüfer der EU den Halbsatz «ich glaube, dass die Weissrussen, Russen und Ukrainer ein und dasselbe Volk sind» heraus und schreien: Desinformation! Sie nennen die Sichtweise des russischen Präsidenten ein «Pro-Kreml-Narrativ», das eine «imperiale und irredentistische Ideologie» widerspiegelt. Damit delegitimieren sie die russische Sicht auf die kulturellen und geopolitischen Verhältnisse und betonen ihren Standpunkt als einzig legitimen. Er entspricht dem wirtschaftlichen Vormarsch der EU und der militärischen Erweiterung der Nato in Richtung Osten, mithin westlichen Integrationsvorstellungen, die parallel zur Desintegration im Osten ablaufen sollen.
Als tags zuvor, am 6. Juni, der Sender RT.deutsch Berlin vorwarf, russische Medien kampagnenmässig zu diskreditieren, riefen die Zensoren der Task-Force: Desinformation! Zum Beweis dafür lieferten sie ein Zitat von Regierungssprecher Steffen Seibert, der auf den russischen Vorwurf geantwortet hatte: «Jeder, der so solch absurde Unterstellungen erhebt, weiss wenig über Deutschland und seine Vorstellungen von Pressefreiheit.» In echt. So sieht Information aus, die sich im Kampf gegen Desinformation bewähren muss.
Und noch zwei harte Brüsseler Faktenchecks, die angebliche russische Desinformationen aufgedeckt haben, zeigen, wohin die Reise mit der Meinungsfreiheit geht. In beiden geht es um die Nato. Am 5. Juni schrieb sputniknews.org vom «völkerrechtswidrigen Krieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ab März 1999». Die EU-Wahrheitsabteilung reagierte mit: Desinformation! … und führte wortreich aus, dass der «Hauptgrund für die Nato-Kampagne war, die Gewalt und Repression zu stoppen und Milosevic zum Abzug seiner Polizei und paramilitärischen Truppen zu zwingen». Und als die italienische Ausgabe von Sputnik eine Woche später, am 10. Juni, meinte, die Nato gefährde mit ihrer militärischen Aufstockung das System globaler Sicherheit, waren wiederum die Wahrheitssucher zur Stelle und riefen: Desinformation! •
* Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte und arbeitet als Publizist und Verleger. Im Promedia Verlag sind von ihm zuletzt erschienen: Balkankrieg: Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens (2001), EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen (2008), Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter (2014) sowie Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (2016).
Erstveröffentlichung auf www.nachdenkseiten.de vom 24. Juni. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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