Gedanken zur Kunst des Alterns

Wie können wir das Alter sinnvoll gestalten? | von Rita Brügger

Im Museum hat sich eine Schulklasse eingefunden. Die Kinder verhalten sich diszipliniert. Eine gewisse Hektik ist dennoch spürbar. Scheinbar haben sie von der Lehrperson Aufträge erhalten, was sie sich ansehen sollen. Die einen machen sich zu zweit an Tablets zu schaffen und füllen Fragebögen aus, andere hantieren mit Apparaten, die Kindern das Verständnis für die Ausstellung vermitteln sollen. Lachende Kinder gucken in ihre Handys, um sich mit einem Selfie zu verewigen. Der Ernst der Ausstellung aus einer durchaus bedrohlichen Zeitspanne unserer Geschichte geht an vielen vorbei. Doch halt! Da sitzt ein älterer Herr neben einem Schüler, der offensichtlich aus einer anderen Kultur stammt, und er erklärt ihm ruhig und mit einfachen Worten den Sachverhalt und Hintergrund des eindrücklichen Bildes, das sie gemeinsam betrachten.

Etwas später zeigt sich an der Schiffsstation ein ganz ähnliches Bild: Dort wartet eine Gruppe Kinder auf das nächste Schiff. Einige haben Schuhe und Socken ausgezogen, die Lehrerinnen mahnen, dass alle ihre Rucksäcke packen, weil das Schiff bald den Steg erreicht. Währenddessen sitzt ein älterer Herr mit einem Grüppchen Jungen auf der Wartebank. Der erzählt ihnen etwas. Ganz ruhig wendet er sich den Jungen zu. Sie scheinen interessiert, was er ihnen zu berichten hat. Ein lebhaftes Gespräch entwickelt sich zwischen Alt und Jung, ganz in Beziehung. Es ist ein erfreuliches Bild und berührt den zufälligen Zuschauer.
Offenbar gehören die beiden Herren zum Projekt «Senioren im Klassenzimmer», das von Pro Senectute lanciert und von vielen Lehrerinnen und Lehrern gerne in Anspruch genommen wird. Wie wohltuend wirkt es, wenn ältere Menschen in den Klassen unterstützend wirken und ihren Erfahrungsschatz positiv einbringen können.

In Ruhe wirken

In der Tat gibt es für Seniorinnen und Senioren heute unzählige Tätigkeitsfelder. Der oft anstrengende Arbeitsprozess liegt hinter ihnen. Die Verantwortung in Beruf und Familie haben sie an Jüngere übergeben. Aber Nichtstun ist keine Option, und so suchen viele Rentner neue Tätigkeitsfelder, wo sie wirken können. Dies geschieht auf freiwilliger Basis und kann mit wohltuend mehr Ruhe als in jüngeren Jahren angegangen werden. Männer bevorzugen vielfach technische Herausforderungen. Als Rotkreuz-Fahrer beispielsweise können sie ihre Fahrtüchtigkeit weiter einbringen und dabei Menschen zur Verfügung stellen, die nicht mehr so mobil sind wie sie selbst. Ausserdem können diese Dienstleistungen manch interessante Begegnung beinhalten.
Sportlich oder kulturell Versierte bringen ihr Wissen und Können bei verschiedensten Freizeitangeboten ein: bei Vogelkundeexpeditionen, Führungen in Museen, als Velo- und Wandergruppenleiter – hier nur eine kleine Auswahl. Daneben werden auch Beratungen durch Senioren in diversen Bereichen gerne in Anspruch genommen.
Während in jüngeren Jahren wegen eines strengen Arbeitsalltags und der Kindererziehung kaum Zeit für anderes blieb, findet sich neu ein Betätigungsfeld auch in Kommissionen und Organisationen. Die Gemeinde ist froh über einen ehemaligen Bankbeamten, der in der Finanzkommission mithilft, das Budget im Lot zu behalten. Der Steuer­experte hilft, wenn nötig, die Formulare auszufüllen. Das Internetportal Rent a Rentner bietet eine Vielfalt von Tätigkeiten an, für die man eben aktive Rentner zu gewünschten Diensten aufbieten kann.

Grosseltern

Ein wahrer Segen ist die Zuwendung der Grosseltern gegenüber ihren Enkeln. Manche Familien dürfen den Nachwuchs regelmässig der grosselterlichen Betreuung übergeben. Oder Kinder erleben Oma und Opa in den Ferien und geniessen es dann, dass man Zeit für sie hat und ihnen Dinge zeigt und erklärt, von denen sie wenig Ahnung haben. So erzählt die Grossmutter, wieviel sie als Kind damals daheim mitarbeiten musste, worauf man verzichtete, weil wenig Geld vorhanden war, aber dass die Kinder früher ohne Gefahr auf der Strasse spielen konnten. Und der Grossvater kennt so viele Blumen, die man beim Wandern entdeckt, und er berichtet vom Zeltlager mit seiner Jugendgruppe in den Bergen.
Grosseltern können Musse und Gelassenheit aufbringen. Sie haben ihre eigenen Kinder grossgezogen, für deren Erziehung sie die volle Verantwortung tragen mussten. Wie kommt es heraus, was wird aus ihnen? Diese Fragen beschäftigten sie als Eltern über lange Jahre. Väter sahen ihre eigenen Kinder oft selten, am Abend oder am Wochenende. Nun haben sie Zeit für die Enkel, und alle geniessen das familiäre Zusammensein. Jung und Alt ergänzen sich fruchtbar.

Krankheit, Schmerz und Abschied

Natürlich ist das Alter nicht nur eitel Sonnenschein. Zwar gibt es rüstige Senioren, die bis ins hohe Alter rege ihren gewohnten Tag bewältigen. Am Morgen machen sie regelmässig Turnübungen, kaufen ein, kochen, spazieren und gehen auf Reisen, sei es im näheren Umkreis oder gar in ferne Länder.
Aber nicht allen ist eine gute Gesundheit gegönnt. Es gibt ja diesen Ausspruch: Wenn man über 50 ist und morgens aufwacht, und es tut nichts weh, dann ist man tot. Und in der Tat fallen bei den meisten da und dort kleine Zipperlein an. Abends im Bad merkt man, dass es mehr zu salben und zu pflegen gibt. Die Haut wird trockener, der Mund verlangt mehr Flüssigkeit. Beim Treppensteigen ist man schneller ausser Atem, und es ist ratsam, achtsam wieder abwärts zu gehen. Der eine oder andere hat auch mit grösseren gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die man nicht so leicht wegstecken kann. Und wenn man ernsthaft krank ist, dauert die Heilung länger als in früheren Jahren.
Auch wenn die Medizin in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht hat, so gibt es doch immer noch Krankheiten, die Schmerzen bereiten oder gar zum Tod führen. Der Körper wird mit den Jahren anfälliger, die Kräfte lassen nach. Das ist ein schmerzlicher, oft schmerzhafter Prozess. Die eigene Endlichkeit und die der Nächsten wird einem bewusster als früher.
Und schlussendlich ist es eine Realität: Es gilt Abschied zu nehmen von seinen Liebsten, und irgendwann ist auch das eigene Leben am Ende. Auch dies ist ein Abschied.

Sich mit dem Alter befassen

Wenn es ums hohe Alter geht, kann man immer mal wieder hören: «Man sollte nicht so alt werden müssen!» Warum eigentlich nicht? Zählt nur das Beschwerliche? Bringt das Alter nur Negatives? Sie scheint verbreitet, die Angst, am Lebensende in die Misere zu geraten, einsam zu sein, leiden zu müssen. Und Beiträge und Artikel häufen sich, in denen der Lebenswert älterer Menschen grundsätzlich in Frage gestellt wird, so dass sie sich geradezu gedrängt fühlen, ihre eigene Lebensberechtigung anzuzweifeln. Es gibt Stimmen, die den alten Menschen sogar das Stimm- und Wahlrecht absprechen möchten. Ein Affront gegenüber all dem Geleisteten einer Generation, die ihr Bestes gegeben hat.
Es gibt durchaus auch viele erfreuliche Aspekte, und gerade in jüngster Zeit erschienen einige interessante Publikationen, die sich mit dem Thema befassen. Das Buch «Gutes Leben im Alter. Die Philosophischen Grundlagen», erschienen im Reclam Verlag 2012, zeigt von Platon über Schopenhauer bis zur Gegenwart, welche Gedanken sich Philosophen gemacht haben und machen, um Antworten zu geben, wie man die letzte Lebensphase gut und gar sinnvoll gestalten kann. Interessanterweise liegen oft Hunderte, gar Tausende von Jahren zwischen den einzelnen Autoren, die im Buch zitiert werden, aber vielfach stimmen die Überlegungen und Erkenntnisse überein. Es ist ein interessanter geschichtlicher Abriss zum Thema Alter.

Altern lernen

Einer der heutigen Philosophen, die in diesem Buch vertreten sind, ist Otfried Höffe. Er hat 2018 ein eigenes Buch verfasst mit dem Titel: «Die hohe Kunst des Alterns, kleine Philosophie des guten Lebens», erschienen bei C. H. Beck. Das gut lesbare Buch ist fast so etwas wie eine kleine Anleitung, wie man sich auf das Alter vorbereiten kann, was es braucht, um bis zum Ende ein würdevolles, gar glückliches Alter zu gestalten und zu erleben.
Höffe spricht davon, dass Altern gelernt werden kann. Dabei nennt er als etwas Wichtiges die vier «L», Laufen, Lernen, Lieben, Lachen, und umschreibt sie. Mit Laufen meint er die körperlichen Aktivitäten, die sehr vielfältig sein können und die es ermöglichen, den Körper möglichst lange gesund zu halten.
Höffe bestätigt den Ausspruch «mens sana in corpore sano» und sagt, dass ein gesunder Leib und ein gesunder Geist sich bedingen und viel zu einem guten Alter beitragen. Wer sich bildet, liest, reist, eine Sprache lernt oder musiziert, erweitert seinen Horizont, hält den Geist wach und beugt damit auch Ärger und Stress vor, ist der Autor überzeugt.
«Beim dritten L, dem Lieben, geht es um den bunten Strauss von Sozialbeziehungen, die bei der Partnerschaft beginnen, sich in Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen fortsetzen und bei der Mitwirkung in Sportvereinen, Orchestern, Chören und Wandergruppen nicht enden.» (Höffe, S. 99)
Und das vierte «L», das Lachen, weitet der Autor so aus, dass er dem ganzen Gefühl der Entspannung, der Lebensfreude, also der positiven Einstellung dem Leben gegenüber, eine starke Bedeutung zumisst, um gegen Verbitterung und Gram anzukämpfen.
Höffe weist darauf hin, dass die Wichtigkeit dieser vier «L» sich nicht auf das Alter beschränkt, ja, dass es gut ist, sich früh damit zu befassen, wohl, um im Alter einen Rucksack an Brauchbarem bei sich zu haben. Eindrücklich beschreibt er auch, wie wichtig die eigene Einstellung zum Alter schon in jungen Jahren sei. Das Alter zu ehren sei eine gesellschaftliche Pflicht, die so gut wie in allen Kulturen zu finden sei.

Vorbeugen

Höffe zitiert in seinem Buch auch andere Philosophen. So lässt er beispielsweise Voltaire sprechen: «Für Unwissende sei das Alter wie der Winter, für Gelehrte sei es Weinlese», eine durchaus positive Betrachtungsweise. Ernst Bloch meint, dass es sich lohne, in der Jugend geistige Investitionen zu tätigen, auf die man im Alter zurückgreifen könne.
Das Sprichwort «Alter schützt vor Torheit nicht» ist genau so wahr wie: «Wehe dem, der nicht im Schutz der Liebe altert.»
Im Buch von Höffe gibt es Kapitel, die sich mit Krankheiten, Demenz und Sterben befassen. Interessant ist der Aspekt, den Sokrates betont hat, dass Sterben stark mit dem Leben verbunden ist. So sollte man nach ihm ein rechtschaffenes Leben führen und sich weniger die Frage nach dem «richtigen» Sterben stellen, sondern vielmehr die Frage: Wie wollen wir leben?
Um im Alter nicht einsam zu werden, ist es erforderlich, ein Leben lang seine Beziehungen zu pflegen. So zeigt es sich, dass diejenigen, die sich zeitlebens um ihre Familie gesorgt, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft praktiziert haben, am Lebensende selten allein bleiben.

Vielfalt

Wie jedes Lebensalter birgt auch die letzte Lebensphase eine Vielfalt an Facetten. Da gibt es durchaus sehr eigene Charaktere, schwierige Mitmenschen, Schrullige und Unzufriedene. Und neben den topfitten, aktiven Seniorinnen und Senioren gibt es viele, deren Kräfte nachlassen und die mit Unwegsamem zu kämpfen haben.
Das Buch «Schöne Aussichten! Über Lebenskunst im hohen Alter», Schwabe-Verlag, der Fotografin Ursula Markus und der Autorin Paula Lanfranconi ist eine herrliche Zusammenstellung, die das Leben von Männern und Frauen über 80 eindrücklich portraitiert. Da liest man verschiedenste Lebensgeschichten. Es gibt den ehemaligen Bankier und Philanthropen, die Abenteuerlustige, den Pazifisten und Leserbriefschreiber, die Ästhetin und den widerständigen Bauern, der seinen verlotterten Hof keinesfalls verlassen möchte.
All diesen Persönlichkeiten ist etwas gemeinsam: Sie haben einen Sinn im Leben und ein Ziel vor Augen. Auf die Frage, was sie am Leben hält oder wie sie das Alter meistern oder Schmerzen ertragen, liest man erstaunliche Antworten: «Man wächst langsam ins Altern hinein.» oder: «Man lernt zu leiden. … Bloss nicht schonen, sonst schmerzt’s noch mehr.» Frau R. sagt, dass es für sie wichtig sei, sich mit immer neuen Situationen auseinanderzusetzen. Dazu gehöre auch zu akzeptieren, dass man gewisse Sachen nicht mehr könne. Frau H. meint: «Ich bin gesund, denn ich kann mit meinen Gebresten umgehen.» Und die positive Haltung äussert auch Herr S.: «Ich habe nie gefragt, warum ich? Machte immer das Beste daraus.»

Trotz allem oder gerade deshalb?

«Das Alter ist keine Krankheit», heisst es im Buch von Otfried Höffe. Wie wahr ist dies doch. Und wenn ein betagter Mensch sogar im einen oder anderen Bereich eine Aufgabe findet, die er zur eigenen Zufriedenheit und zum Wohl der Gemeinschaft leisten kann, dann ist dies ein grosser Segen für alle.
Frieda bekommt zu ihrem 90. Geburtstag eine grosse Gratulationskarte mit etwa 50 Unterschriften aus dem nahen Seniorenheim. Wöchentlich legt sie dort Jassteppiche und Jasskarten bereit und hilft beim Servieren von Kaffee und Kuchen für all die spielfreudigen Heimbewohner mit. Selbstverständlich räumt sie danach auch immer das Geschirr wieder auf. Paul spielt an Sonn- und Feiertagen sowie an Beerdigungsgottesdiensten die Orgel als Aushilfsorganist und fährt dazu oft frühmorgens zur jeweiligen Kirche. Dieses Engagement hält den inzwischen auch über 90jährigen erstaunlich vital, obwohl er mit gesundheitlichen Gebresten zu kämpfen hat. Maria, die durch eine Streifung ihre Mobilität eingebüsst und einen gelähmten Arm hat, füttert im Tagesheim einen Mitpatienten, der seine Hände nicht mehr bewegen kann. Selbst Nora, die todkranke ältere Dame, deren Kräfte keine Aktivitäten mehr zulassen, hat etwas zu geben: Sie hört zu, nimmt teil am Geschehen und lebt dabei auf.
Und was ist mit jenen alten Menschen, die scheinbar verbittert und freudlos dahinvegetieren und auf Erlösung warten? Vielleicht haben sie noch keinen Mitmenschen gefunden, der ihnen etwas Trost spendet und Zuwendung gibt.    •

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