Neutralität als Richtschnur, direkte Demokratie als Basis

Gedanken zu Paul Widmers Geschichte der Schweizer Aussenpolitik

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Eine Geschichte der Schweizer Aussenpolitik von 1815 bis in die heutige Zeit, aufgezeichnet entlang des Werdegangs und Wirkens von sieben Persönlichkeiten, welche sie massgebend mitgeprägt haben: Ein faszinierendes Stück Schweizer Geschichte schildert uns der Historiker und langjährige Diplomat Paul Widmer in seiner «Schweizer Aussenpolitik. Von Charles Pictet de Rochemont bis Edouard Brunner». Denn nur im historischen Kontext, so Widmer, könne man die grosse Bedeutung der Neutralität in der Schweizer Aussenpolitik verstehen. Für den Schweizer wie für den Nichtschweizer Leser eine herrliche Lektüre, um die Einzigartigkeit des Schweizer Modells (noch besser) zu erfassen.1

Im Bewusstsein, dass das Schweizer Staatswesen mit seiner genossenschaftlichen Grundlage «nicht die Einzelperson in den Vordergrund schiebt», sondern «aus der Anstrengung von vielen resultiert», hat der Autor für seine Darstellung dennoch eine Auswahl einzelner Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler getroffen: für das 19. Jahrhundert den Genfer Charles Pictet de Rochement, der auf dem Wiener Kongress 1815 die internationale Anerkennung der ständigen Neutralität aushandelte; den Thurgauer Johann Konrad Kern, erster Vollblut-Diplomat im Bundesstaat von 1848; und den Neuenburger Bundesrat Numa Droz. Für das 20. Jahrhundert fiel seine Wahl auf den Zürcher Staats- und Völkerrechtsprofessor Max Huber, der sich für den Vorrang des Rechts vor der Macht im Völkerbund und für den Beitritt der Schweiz einsetzte; den Tessiner Giuseppe Motta, Mitglied des Bundesrates während einer aussergewöhnlich langen und schwierigen Zeitspanne (von 1911 bis zu seinem Tod 1940); den Neuenburger Max Petitpierre, der 1945 Bundesrat wurde und die Politik der Nachkriegszeit massgeblich prägte. Schliesslich den Berner Diplomaten Edouard Brunner, Zeitgenosse und Weggefährte von Paul Widmer (Widmer, Vorwort, S. 7–10).

Zunächst soll das «Besondere in der Schweizer Aussenpolitik» gemäss dem Einleitungskapitel dargelegt werden. Einige zentrale Aussagen aus der «Schlussbemerkung» des Autors werden vielleicht manchen Leser «gluschtig» machen, das ganze Buch zu lesen. Der anschliessende Text legt die Bausteine der Schweizer Aussenpolitik dar, die im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zusammengefügt und in den 1880er Jahren durch die Eckpfeiler der Asylpolitik ergänzt wurden.

Aussenpolitik als Verbindung von direkter Demokratie und Neutralität

«Die Neutralität und die direkte Demokratie sind in der Schweizer Bevölkerung tief verankert. Sie finden ausserordentlich hohe Zustimmung.» (Widmer, S. 11) Diese Feststellung wird jedes Jahr aufs neue bestätigt durch die Befragung einer repräsentativen Bevölkerungsgruppe durch die ETH Zürich. In der kürzlich veröffentlichten Studie 20192 sprachen sich rekordhohe 96 Prozent für die Beibehaltung der Neutralität (S. 113) und rekordtiefe 15 Prozent für einen EU-Beitritt aus (S. 144) – der sowohl das Ende der Neutralität als auch zentraler Bereiche der direkten Demokratie bedeuten würde.

Diese deutlichen Ergebnisse geben einigen Anlass zur Hoffnung. Paul Widmer bestätigt in seinem Buch diese Befunde und stellt fest, dass Neutralität und direkte Demokratie «nichts von Mythen» an sich haben. «Die direkte Demokratie entstand im Spätmittelalter aus der Genossenschaftsidee, die Neutralität als Lehrstück aus existenziell gefährlichen Situationen» wie der Niederlage bei Marignano 1515 oder der nicht gesicherten Grenzen im Dreissigjährigen Krieg. «Die Schweiz hat diese Ideen gelebt. Natürlich nicht perfekt. […] Aber der Wille, das Staatswesen nach eigenen Vorstellungen zu formen, erlosch nie.» (Widmer, S. 11f.)

«In der Schweiz hat sich die Aussenpolitik nach der Innenpolitik zu richten»

Was die Schweizer Aussenpolitik so besonders macht, «ist das eigenartige Kräfteverhältnis zwischen politischer Elite und Volk. In allen Ländern, auch in der Schweiz, unterscheiden sich die aussenpolitischen Auffassungen der Eliten – oder was sich dafür hält – vom Volk in vielen Bereichen. Aber zwischen der Schweiz und dem Ausland gibt es einen markanten Unterschied. Er liegt darin, wer sich durchsetzt. Im Ausland sind es meistens die politischen Eliten, in der Schweiz überdurchschnittlich häufig das Volk.» Andernfalls, so der Autor, wäre die Schweizer Aussenpolitik «längst im westeuropäischen ‹Mainstream› aufgegangen». Er schliesst diese Ausführungen mit der knappen, aber um so aussagekräftigeren Feststellung: «Die Schweiz ist das, was sie ist, dank der direkten Demokratie.» (Widmer, S. 19)

Zu den «Eliten» – die es meiner Meinung nach in der Schweiz gar nicht gibt, weil jeder Bürger bei Wahlen und Abstimmungen nur eine Stimme hat – erklärt der erfahrene Diplomat, der sich über lange Zeit in diesen bewegt hat, warum sie anders ticken als das «Volk» (Widmer, S. 19–21).

Neutralität als Friedensfaktor: die Guten Dienste

«Die Neutralität ist mit Abstand der wichtigste Grundsatz der eidgenössischen Aussen-politik. Sie ist die Richtschnur in den grossen aussenpolitischen Fragen.» Würde das Neutralitätsprinzip – das heisst der Verzicht auf Angriffskriege sowie die Nichtbeteiligung an Kriegen anderer Staaten – von allen Staaten befolgt, dann herrschte Frieden auf der Welt. «Doch selbst wenn die immerwährende und bewaffnete Neutralität nur von einem einzigen Staat praktiziert wird, ist sie ein Friedensfaktor.» (Widmer, S. 25) Hier kommen die Diplomatie und die Guten Dienste ins Spiel. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) würdigt letztere mit den Worten: «Die Guten Dienste der Schweiz haben eine lange Tradition und spielen eine Schlüsselrolle in der schweizerischen Friedenspolitik. Die Schweiz kann Brücken bauen, wo andere blockiert sind, weil sie keinem der Machtzentren angehört und keine versteckte Agenda verfolgt.»3 

Zum einen umfassen die Guten Dienste «die Friedensvermittlung eines unbeteiligten Dritten», zum anderen aber auch «alles, was ein Staat im Dienste des Friedens für andere tut.» (Widmer, S. 15) So ist die Schweiz Gastgeber für internationale Organisationen (vor allem in Genf) oder übernimmt Schutzmachtmandate. Zum Beispiel vertritt sie seit Jahrzehnten die Interessen der USA gegenüber Iran und seit kurzem gegenüber Venezuela.

Ergänzt werden die Guten Dienste durch vielfältige humanitäre Hilfeleistungen, insbesondere auch die Beherbergung und weitgehende Finanzierung des IKRK.

Neutralität als grundlegendes Prinzip der Schweizer Souveränität

Paul Widmer hebt die Einzigartigkeit der schweizerischen Neutralitätspolitik hervor – die immer wieder von aussen angefochten wurde: «Dieser Widerspruch, dass man die Neutralität im Prinzip anerkennt, sie jedoch in existenziell gefährdeten Momenten bestreitet, beschattet die Neutralität, seit sie herangewachsen ist. Und die Schweiz verspürt ihn, seit ihre Neutralität international anerkannt wurde.» (Widmer, S. 26) In keinem anderen europäischen Land habe die Neutralität länger als zwei, drei Generationen Bestand gehabt. «Und heute sind die Partner aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts daran, sich der Neutralität zu entledigen. Österreich und Schweden gehen zunehmend auf Distanz, sie wollen nur noch allianzfrei sein; Finnland wartet den günstigen Augenblick ab, um der Nato beizutreten. Was Wunder, dass man auch in der Schweiz darüber nachdenkt, ob die Neutralität im zeitgenössischen sicherheitspolitischen Kontext noch Sinn macht.» (Widmer, S. 31)

Aber: «Im Gegensatz zu den drei bisherigen Neutralen ist die Schweiz bekanntlich der EU nicht beigetreten, und in der Sicherheitspolitik rückt sie ebenfalls nur behutsam von ihrer traditionellen Linie ab.» Der Grund dafür: «Die überwältigende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer will, alle Umfragen bestätigen es, von einer Einschränkung der Neutralität nichts wissen, geschweige denn von deren Abschaffung.» Dies ist Ausdruck der langen Neutralitätsgeschichte, in der sich das Festhalten an der Neutralität im Nachhinein immer als weise erwiesen hat (Widmer, S. 31f.). Für die anderen Völker bedeutet der Neutralitätsstatus der Schweiz Hoffnung: «Mit seiner Verpflichtung zum Gewaltverzicht nach aussen liefert er im Kleinen, so wie die Uno im Grossen, einen Beitrag zu einer Staatenordnung, die den ewigen Frieden ermöglichte.» (Widmer, S. 35)

In welche Richtung wollen wir Schweizer unser Land führen?

«Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Schweiz in ihren Grundfesten erschüttert. Sie ist unverhofft in den Sog von aussenpolitischen Strömungen geraten», so beginnt der erfahrene Schweizer Diplomat sein Schlusswort. Die klare Stellungnahme des Autors zur oft bedenklichen Schweizer Aussenpolitik seit den 1990er Jahren ist wohltuend und sollte uns Bürgern Anlass zum Widerspruch geben:

  • Neutralitätspolitik: «Mit der Teilnahme an den Uno-Sanktionen gegen den Irak rückte die Schweiz […] von ihrer bisherigen Neutralität ab. Sie […] beteiligte sich fortan an den meisten Wirtschaftssanktionen, die von der Uno, aber auch von der EU verhängt wurden. Ohne viel Aufhebens hatte der Bundesrat die Weichen umgestellt.»
  • Sicherheitspolitik: «Ohne das Volk zu befragen, beschloss der Bundesrat 1996, der von der Nato gegründeten ‹Partnerschaft für den Frieden› beizutreten.» Zudem wirkt die Schweiz an Operationen der Uno und der OSZE mit, vor allem im Kosovo. «Undenkbar nur wenige Jahre zuvor, dass sich die Schweiz an einem von der Uno abgesegneten, aber im wesentlichen von der Nato wahrgenommenen Mandat beteiligt hätte, um in einem Land, gegen welches die Nato den ersten Krieg in ihrer Geschichte führte, den Frieden zu sichern.» (Widmer, S. 417)
  • Integrationspolitik: Das Volk nahm anfangs der 2000er Jahre die bilateralen Abkommen mit der EU an und trat 2002 der Uno bei, was «vor 16 Jahren noch haushoch verworfen wurde» (Widmer, S. 417). Hingegen hatten Volk und Stände 1992 den EWR-Beitritt abgelehnt.

Denjenigen Schweizern, die angesichts des Drucks von aussen und der Willfährigkeit mancher unserer eigenen Politiker zeitweilig etwas einknicken, hält Paul Widmer die Kraft der direktdemokratischen Rechte des Volkes entgegen: Denn die Schweiz wäre schon vor Jahrzehnten der Uno beigetreten, sie wäre Teil des EWR und wahrscheinlich auch der EU, «wenn nur die eidgenössischen Räte die Politik des Bundesrates genehmigen müss-ten. Allein das Volk will es anders.» (Widmer, S. 418)

Und er mahnt: «Solange die Schweiz ihre Identität im wesentlichen bewahrt, das heisst: die direkt-demokratischen Rechte, den Föderalismus und die Neutralität aus Überzeugung heraus lebt, legt sie Zeugnis von einer einzigartigen Staatsordnung ab. Indem sie vor Jahrhunderten schon bewusst auf aussenpolitische Macht verzichtete und sich auf eine gedeihliche Entwicklung im Innern beschränkte, ist ihr das Kunststück gelungen, mehrere Konfessionen sowie verschiedene Sprachen und Kulturen in einem Staat zu vereinen. Ihre Bürger erkennen das nationale Wesensmerkmal nicht in einer sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeit, sondern in einem gemeinsamen Verständnis von Recht und Freiheit.» (Widmer, S. 419)

Dieser Schweiz, so ist mit dem Verfasser dieser eindrücklichen Geschichte der Schweizer Aussenpolitik abschliessend festzustellen, wird es zweifellos auch heute gelingen, die notwendige Balance zu finden zwischen den internationalen Anforderungen und der Selbstbehauptung – wenn wir Bürger dies zu unserer Sache machen.                                                                •

* Der Historiker und Philosoph Paul Widmer ist Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der Universität St. Gallen. Er studierte in Zürich und Köln, 1977 trat er in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein, zuerst in New York und Washington, ab 1992 als Botschafter in Berlin, Kroatien, Jordanien, beim Europarat in Strassburg und zuletzt bis 2014 beim Heiligen Stuhl.

1  Widmer, Paul. Schweizer Aussenpolitik. Von Charles Pictet de Rochemont bis Edouard Brunner. Zürich 2014 zitiert: Widmer

2  Sicherheit 2019. Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. ETH Zürich. 2019

3  www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/menschenrechte-menschliche-sicherheit/frieden/die-guten-dienstederschweiz.html

Asylpolitik im jungen Bundesstaat: Nachahmenswertes Beispiel gegen Einmischungen von aussen

mw. In den 1880er Jahren wurde der Neuenburger Bundesrat Numa Droz Chef des Departements für auswärtige Angelegenheiten. In seinem Artikel «Du rôle international de la Suisse» von 1882 nannte er die Eckpfeiler, die auch in der heutigen Asylpolitik der Schweiz gelten: «Wir wollen, dass unser Boden weiterhin geachtet wird als Asyl für die Verfechter aller unterlegenen Angelegenheiten; aber wenn wir diesen die grosszügigste Gastfreundschaft gewähren, erwarten wir auch, Herr in unserm Haus zu bleiben; und wir dulden Verschwörungen von Ausländern im Innern nicht mehr als Forderungen von aussen.» (Widmer, S. 163)

Am Beispiel der Asylpolitik zeigte die Eidgenossenschaft den Grossmächten, dass die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Territorium nicht verhandelbar ist. Damals gab es noch kein international anerkanntes Asylrecht für politisch Verfolgte, und der Bundesrat musste sich wiederholt gegen massive Einmischungsversuche des Deutschen Reiches wehren. Auf die Forderung von Reichskanzler Otto von Bismarck hin hatte der Reichstag 1878 «ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokraten verhängt, das diesen die publizistische Tätigkeit innerhalb des deutschen Reichs verunmöglichte.» (Widmer, S. 163) Mehrere führende Sozialdemokraten flohen in die Schweiz und gaben in Zürich die Zeitung «Der Sozialdemokrat» heraus, die sie nach Deutschland schmuggelten. Dagegen intervenierte der deutsche Gesandte in Bern auf Anweisung Bismarcks mehrmals – allerdings vergeblich: «Die Schweiz reagierte jedoch auf die Vorsprachen kaum. Vom eigenen Rechtssystem her gab es dazu auch keine Veranlassung.» (Widmer, S. 164)

Was in der Folge zwischen Deutschland und der Schweiz ablief, nahm groteske Züge an und gipfelte in der Verhaftung eines von Bismarck eingesetzten Agent provocateur, den der Bundesrat des Landes verwies, worauf der Reichskanzler mit der Kündigung des Niederlassungsvertrags und der Wiedereinführung des Passzwangs an der Grenze drohte (Widmer, S. 164–167). (Das erinnert uns an die «Bestrafungsaktionen» an unseren Landesgrenzen nach der Annahme der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung im Februar 2014.)

Paul Widmer hält zusammenfassend fest, dass der Bundesrat unter der Leitung von Numa Droz und unterstützt von Parlament und Bevölkerung Bismarck mehrmals die Stirn geboten hatte: «Auch das Ausland verfolgte diesen ungleichen Kampf aufmerksam. Die Schweiz verliess die Arena mit einem grossen Zuwachs an Prestige.» Sie hatte bewiesen, «dass sie ihre Souveränität zu verteidigen gewillt war, selbst wenn dies im Lichte der nackten Kräfteverhältnisse verwegen erschien […].» (Widmer, S. 167) – Den heutigen Schweizer Behörden sei diese Standhaftigkeit zur Nachahmung empfohlen.

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