Die Kultur der genossenschaftlichen Ethik und Lebensform

Zur Neuerscheinung «Kooperativ wirtschaften – modern bauen. Die Architektur der Genossenschaften in Sachsen»

von Urs Knoblauch, Kulturpublizist, Fruthwilen

Allgemein ist zu wenig bekannt, dass das Genossenschaftswesen weltweit eine enorme Ausbreitung gefunden hat. Gerade auch in Deutschland verdient es mit den über 21 Millionen Genossenschaftsmitgliedern mehr Beachtung in der Gesellschaft und in den Bildungseinrichtungen.

Das war der Ausgangspunkt des Publikationsprojekts der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Da sich Museums- und Ausstellungsgestaltung sowie Museumspädagogik grosser Popularität und Investitionen erfreuen, entstand die Idee, einen interdisziplinären Studiengang «Museologie» aufzubauen. Die reich bebilderte Publikation «Kooperativ wirtschaften – modern bauen. Die Architektur der Genossenschaften in Sachsen» verbindet die moderne Architekturentwicklung mit dem Genossenschaftsgedanken. Damit sollen den Studenten und der jüngeren Generation die wertvolle Lebensform der Genossenschaften vermittelt werden. «Die Architektur als eine kulturelle Ausdrucksform der Genossenschaftsidee», so die Autoren und Leipziger Hochschuldozenten Dirk Schaal und Enrico Hochmuth, «ist bislang nur selten thematisiert worden».
Gerade anlässlich des Jubiläums der Gründung der Bauhaus-Bewegung wird im Zusammenhang mit der Genossenschaft eine wichtige Thematik angesprochen. Die Anliegen des Bauhauses dürfen nicht auf formale Kriterien reduziert werden, ebenso beinhalten gerade die Genossenschaften mehr als ein Wirtschaftsmodell, sie bilden eine zukunftweisende ethische Lebensform. Diesen ursprünglichen Anliegen muss Sorge getragen werden. Sie sollten stets mit vor dem Hintergrund der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse und auf ihre politischen Ziele hin reflektiert werden.

Zur Architektur als einer kulturellen Ausdrucksform der Genossenschaftsidee

Den Autoren des Werks gelingt eine Zusammenschau von Architektur und Genossenschaftsidee im Raum Sachsen mit seiner beeindruckenden Industriekultur. Dirk Schaal war als Wissenschaftsarchivar tätig und leitet derzeit die Koordinierungsstelle Sächsische Industriekultur. Dr. Enrico Hochmuth ist Architekturhistoriker und war langjähriger und aktiver Leitender Konservator des Schulze-Delitzsch-Hauses, Deutsches Genossenschaftsmuseum. Er hat sich zusammen mit Dietmar Berger, dem Initiator, für die erfolgreiche Aufnahme des Deutschen Genossenschaftswesens in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco eingesetzt. An der Hochschule ist Hochmuth an der Fakultät Medien als Veranstaltungs- und Projektmanager tätig. 2017 wurde mit grossem Erfolg das «1. MuseologieKolloquium» mit neuen Forschungsergebnissen veranstaltet. Auch der Architekturhistoriker und Stadtkonservator von Leipzig (Denkmale) Dr. Stefan W. Krieg-von Hösslin hat zum Werk beigetragen.
Im ersten Teil der Publikation werden von den Autoren die theoretischen und historischen Bezüge zur Industrialisierung und zum zukunftsweisenden sozialen Genossenschaftswesen dargestellt. Im zweiten Teil werden 16 eindrückliche Genossenschaftsbauten, zumeist in Sachsen und im Stil der wieder populären Bauhaus-Architektur, vorgestellt. «Herausragende und überwiegend denkmalgeschützte Orte, die der Architektur der Reformbewegung und der klassischen Moderne zuzuordnen sind, wurden hier erstmals zusammengestellt. Mit Wohnungsgenossenschaften, den grossen Konsumgenossenschaften in Leipzig und Dresden sowie den national bedeutsamen Produktionsstätten der zentralen Einkaufsgenossenschaften GEG mit Bauten in Riesa, Frankenberg oder Chemnitz ist ein breites Spektrum vertreten.» (Klappentext)

Architektur als Spiegel bestimmter Menschenbilder und Gesellschaftsmodelle

Die vielfältige Formensprache, Funktion und praktische Anwendung der genossenschaftlichen Arbeit- und Lebensform des Industriekulturgutes ist beeindruckend. Dirk Schaal schreibt dazu: «Die Genossenschaftsbewegung ist Teil unserer Industriekultur. In den sozialen, religiösen und nationalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts prägte sie den Kulturwandel Deutschlands zum modernen Industrieland mit und stellte sich zentralen Fragen der Industriegesellschaft.» (S. 8)
Mit gut gestalteten Plakaten, Geräten und Mobiliar wurde der Genossenschaftsgedanke verbreitet. Es ging nicht nur um das Bereitstellen von bezahlbaren Lebensmitteln oder preiswertem Wohnraum, «sondern durch das Gestalten der Arbeitsbedingungen im eigenen Unternehmen oder das Schaffen sozialer Wohnverhältnisse konnte die Situation der mittleren und unteren Einkommensschichten für den Einzelnen spürbar verbessert werden» (S. 8). Die funktionalen, kraftvollen und dominanten Fabrikbauten, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, sollten in einer «feindlichen Umgebung» die neue Grundhaltung des genossenschaftlichen Lebens symbolisieren (S. 21).
Neben den scharfen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen bestanden auch unter den Architekten weltanschauliche, politische und formale Differenzen. Damals dominierte der in der Bevölkerung beliebte traditionelle «Heimatschutzstil». Mit dem «neuen Bauen» der Moderne und den neuen industriellen Technologien und Materialien wurde jedoch auch ein «neuer Mensch» anvisiert. «Die Gestaltung der Siedlungen nach genossenschaftlichen Prinzipien der Gemeinschaft zielte», so Dirk Schaal, «auf den von den Genossenschaften propagierten ‹Neuen Menschen›» (S. 32). Damit sollte auf die Sozialnatur des Menschen, die politischen Bewegungen und die Demokratisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens mehr Bezug genommen werden. Das diesjährige Bauhausjubiläum sollte sich vermehrt auf die ursprünglichen Anliegen des interdisziplinären Zusammenwirkens der sozialen Bauhausidee der Moderne ausrichten und auch kritische Reflek­tionen ermöglichen. Es geht nicht um einen modernen Formalismus, wie er heute oft zu sehen ist, sondern um eine Ästhetik und Ethik des Individual- und Gemeinwohls.
Gerade im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts setzten sich die modernen Gestaltungsprinzipien nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern immer mehr durch. «Neben namhaften Architekten – wie beispielsweise Walter Gropius für den Konsum Dessau-Törten oder Max Taut für ein Kaufhaus der Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung – finden sich hier überwiegend Architekten, die Prinzipien des modernen Bauens im Laufe ihrer Berufspraxis übernommen oder bereits während ihrer Ausbildung erlernt hatten.» (S. 32)
Wer die geschichtsträchtige Gegend Sachsens und Umgebung kennt, staunt über die grossartigen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leistungen und Bauwerke. Sie sind teilweise im Buch dokumentiert. Mit der Auflösung der DDR war auch wertvolles Kulturgut gefährdet. Trotz der beachtlichen Rettung von Bausubstanz und dem Neuaufbau ist noch eine grosse Arbeit zu bewältigen.

Hermann Schulze-Delitzsch und Wilhelm Raiffeisen

Enrico Hochmuth führt anschaulich in das Thema «Genossenschaften in Sachsen» am Beispiel des 1891 vom Bildhauer Erwin Weissenfels gestalteten Hermann-Schulze-Delitzsch-Denkmals am Marienplatz in Delitzsch ein. Seine wechselvolle Geschichte von der Einschmelzung für die Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg bis zu der Nachbildung von 1950 durch den Bildhauer Max Alfred Brumme und der Versetzung an einen anderen Ort für ein Denkmal des ersten Präsidenten der DDR sowie der Rückführung des restaurierten Denkmals 1991 an den ursprünglichen Standort macht beispielhaft den politischen Umgang mit der Genossenschaftsidee deutlich.  

«Die erste erfolgreiche gewerbliche Genossenschaft Deutschlands gründete im Jahr 1849 Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) mit 57 Schuhmachern in Delitzsch. Mit ihrer Rohstoff-Association konnten die Handwerker den Einkauf von Rohstoffen, Werkzeugen, Maschinen und weiteren Bedarfsartikeln günstiger gestalten sowie später auch den Verkauf ihrer Produkte in die eigene Hand nehmen. Der liberale Schulze-Delitzsch sah darin eine Möglichkeit, die ­Situation der notleidenden Handwerker und Kleingewerbetreibenden zu verbessern. Neben dem wirtschaftlichen Druck durch die Industrialisierung verband sich der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft auch mit dem Verlust tradierter Lebenszusammenhänge und sozialer Netzwerke.» (S. 34) Die Erfahrungen mit den von Schulze-Delitzsch angeregten Zusammenschlüssen und Produktionsgenossenschaften wurden 1889 in einem wegweisenden Genossenschaftsgesetz berücksichtigt und führten zu einem «Gründungsboom von Genossenschaften in den deutschen Staaten» (S. 34).

In diesem Zusammenhang muss auch auf das vom Westerwald ausgehende segensreiche Wirken von Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) hingewiesen werden. Getragen von einer tiefen Nächstenliebe, einer sozialen Verbundenheit mit den Menschen, einer christlichen Ethik sowie einem Vertrauen in die mitmenschliche Wesensnatur, begründete er die genossenschaftlichen, lokalen «Raiffeisenkassen». Seine Leitidee war: «Nur in der Gemeinschaft sind wir stark», und mit den drei «Selbst» der Genossenschaft, der Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selbstverantwortung, ist auch das Subsidiaritätsprinzip (Verantwortung von unten, vom einzelnen Menschen her aufbauen) beinhaltet. Damit sollte die demokratische Mitgestaltung ermöglicht und gesichert werden. Jedes Genossenschaftsmitglied hat bei den Entscheidungen eine Stimme, unabhängig von seiner sozialen Lage und der Anzahl der Genossenschaftsanteile. Die von Raiffeisen initiierten «bäuerlichen Darlehenskassen» und gemeinschaftlichen Lagerhäuser erfuhren «mit der Schaffung ländlicher Einkaufs- und Absatzgenossenschaften durch Wilhelm Haas eine deutliche Erweiterung» (S. 37).
Eng damit verknüpft sind die Kreditgenossenschaften, welche anfänglich mit «Vorschuss-Vereinen» nach dem Vorbild der 1846 in Dänemark aufgebauten bäuerlichen Kreditgenossenschaft entstanden sind und in vielen Ländern auch die Entstehung der Volksbanken förderten.
Enrico Hochmuth zeigt anhand von Beispielen den grossen Erfolg der Pioniere Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen auf. «In einer ersten Gründungswelle entstanden zwischen 1860 und 1889 deutschlandweit rund einhundert Produktivgenossenschaften von Handwerkern in unterschiedlichen Bereichen. Ein solcher Zusammenschluss ist die Mühle und Bäckerei Bärenhecke Raiffeisengenossenschaft e.G. in Bärenhecke im östlichen Erzgebirgsvorland. Die historische Mühle nebst Bäckerei ist heute gleichermassen genossenschaftlicher Betrieb und zu besichtigendes technisches Denkmal. Am 20. August 1898 wurde die Firma als Müllerei-, Bäckerei- und Lagerhausgenossenschaft Oberes Müglitztal e.G.m.b.H. von 26 Bauern aus der Umgebung gegründet, um die Verarbeitung des Getreides bis hin zum Endprodukt selbst an die Hand zu nehmen. Die von der Genossenschaft erworbene Wassermühle an der Müglitz erhielt einen Kleinbahnanschluss und nahm bereits 1899 die Produktion auf. Bis 1913 traten der Unternehmung 300 Mitglieder bei. Zur Unterstützung der Bauern, besonders in den Krisenjahren, gliederte die Genossenschaft eine Bankabteilung an, die bis 1993 bestand. Zur Erhaltung und Vermittlung des Denkmals gründete sich 1995 ein Förderverein Technisches Denkmal Getreidemühle Bärenhecke e.V.» (S. 34) An weiteren Beispielen stellt der Autor die erfolgreiche genossenschaftliche Präzisionsuhrenfabrik Glashütte, Elektrizitätsgenossenschaften und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vor.

Genossenschaften im Dienst des Individual- und Gemeinwohls

Neben den landwirtschaftlichen Genossenschaften prägten vor allem die genossenschaftlichen Fabrikbauten, Konsum- und Grosseinkaufsgesellschaften sowie die Wohnbaugenossenschaften das Bild in den städtischen Regionen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Genossenschaften hatten im Verlauf ihrer Geschichte stets auch schwierige Zeiten zu meistern. Dies betraf besonders landwirtschaftliche Betriebe im Zusammenhang mit politischen Veränderungen. «Nachdem 1933 die Genossenschaftsverbände und mit ihnen die Genossenschaften gleichgeschaltet worden waren», so Enrico Hochmuth, «kam es nach 1945 zur Restrukturierungen. Während in den westlichen Besatzungszonen und der BRD Produktionsgenossenschaften nur eine geringe Rolle spielten, besassen sie in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR eine grosse Bedeutung. 1946 gestattete die Sowjetische Militäradministration mit dem Befehl Nummer 160 die Gründung dieser Zusammenschlüsse, und ein Musterstatut wurde verpflichtend. Die wirtschaftliche Überwachung oblag den neustrukturierten Handwerkskammern. Mit dem 1950 beschlossenen Gesetz zur Förderung des Handwerks oder der Verordnung über die Produktionsgemeinschaften des Handwerks (PHG) von 1958 wurde die Beschränkung des Handwerks und Kleinbetriebe und die genossenschaftliche Zwangskollektivierung vorangetrieben. Ebenso wurde die Rolle der Einkaufs- und Liefergenossenschaften (ELG) des Handwerks geregelt. Genossenschaften hatten nun, wie staatliche Betriebe auch, Vorgaben im Rahmen der staatlichen Planung zu erfüllen. Nach 1990 wandelten sich die Betriebe wieder in klassische Genossenschaften oder andere Unternehmensformen um.» (S. 36f.) Der Genossenschaftsverband in Sachsen zählte 2002 unter seinen Mitgliedern 92 Produktivgenossenschaften und 235 Agrargenossenschaften. Durch ihren Erfolg werden sie «auch im vereinten Deutschland stärker wahrgenommen» (S. 37).

Grundlagen der genossenschaftlichen Lebensform und Ethik mehr beachten

Die geschichtlichen Darlegungen machen deutlich, dass die gegenwärtigen problematischen Umstrukturierungen und «Modernisierungen» im Rahmen der Globalisierung und Zentralisierung sowie der weltweite markt­radikale Neoliberalismus die ursprüngliche Genossenschaftsidee gefährden. Gerade auch in der Schweizerischen Eidgenossenschaft zeigen sich alarmierende Entwicklungen, auch bei den Raiffeisen-Genossenschaftsbanken. Es ist notwendig, dass die Genossenschaftsmitglieder Rechte und Pflichten sowie die ursprünglichen Anliegen und die Ethik der demokratischen Mitgestaltung der Mitglieder im Genossenschaftsprinzip einfordern und leben. Das hier vorgestellte Buch leistet dazu einen wertvollen Beitrag – wie auch zum Verständnis der genossenschaftlichen Architektur der Moderne.    •

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